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Der lange Weg zum Trost

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HG: „Wann sind wir endlich da?“ Wer kennt nicht diese ungeduldigen, fast vorwurfsvollen Fragen der Kinder vom Rücksitz des Autos? Alle Tricks müssen aufgeboten werden, um die jungen Quälgeister zu vertrösten. Aber was tun oder sagen, wenn es nicht um das Erreichen des Ziels von einem Tagesausflug geht, sondern um wirklich existenzielle Fragen? Wirklichen Trost gibt es nicht auf Knopfdruck. Es ist meist ein längerer Prozess mit mehreren Phasen, die durchlaufen werden müssen. Das Wichtigste ist die Bereitschaft, einen Weg mit jemandem zu gehen. Trösten ist das Begleiten zu einer Antwort, die jeder Mensch für sich selbst finden muss. Es gibt nicht die allgemeine Trostformel, die wie ein Allheilmittel in jedem Fall einzusetzen ist.

ML: Wenn man nach dem Weg des Trostes fragt, dann stößt man unweigerlich auf die Phasen der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross. Diese Phasen hat sie mit Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz bezeichnet. Beim Trösten müssen wir also die betroffene Person auf einem längeren Weg begleiten.

Die erste Phase ist in erster Linie vom Versuch der Selbstrekonstruktion geprägt. Es soll alles so werden, wie es war – obwohl wir wissen, dass dies nicht möglich ist. In diesem Sinn wird zuallererst versucht, sich mit einer Illusion zu trösten. Als Tröster müssen wir dem Trauernden vorerst diese Illusion lassen, ohne ihn jedoch darin zu bestärken.

Wenn der Trauernde merkt, dass die Illusion nicht aufrechtzuerhalten ist, versucht er es quasi mit der Brechstange. Das ist die Phase des Zorns. Man versucht, den alten Zustand in bizarrer Weise mittels Aggression durchzusetzen. Auch da ist der Tröstende gefragt, die Aggressivität auszuhalten, ja sogar zu verstärken. Es spricht einiges dafür, dass diese Phase schneller vorüber ist, wenn man sie sich zugesteht. Bald zeigt sich, dass es so nicht geht.

Es beginnt die Phase des Verhandelns. Hier ist man als Begleiter besonders gefragt. Es ist unbedingt wichtig, die Fragen des verletzten Menschen im Gespräch zu spiegeln, weniger zu beantworten. „Wonach fragst du eigentlich, wenn du mir diese Frage stellst? Darum geht es!“

Wenn in dieser Phase endgültig klar geworden ist, dass es unmöglich ist, den Anlassfall der Trauer rückgängig zu machen, beginnt die Phase der Depression. Hier ist es für den Trauernden wichtig, jemanden an seiner Seite zu haben, denn in diesem Stadium sind Menschen besonders existenziell bedroht. Man hängt gleichsam total in der Luft. Auch Suizide können vorkommen, wenn es an Begleitung fehlt.

Ist jedoch ein Du erreichbar, kann es zur Akzeptanz kommen. Die Akzeptanz ist ein Zeichen, dass man sich mit der neuen Wirklichkeit angefreundet hat und dass einen diese neue Wirklichkeit zumindest ansatzweise auch trägt. Man fühlt sich getröstet – geheimnisvoll, fast wie durch ein Wunder.

HG: Der Weg zum Trost beginnt in jedem Fall mit einem verbindlichen Zuhören. Es geht um eine höchst aktive Passivität, ein Aushalten und Zulassen von allem, was der jeweilige Mensch mitbringt, was ihn bedrängt und in die Verzweiflung treibt.

Der alttestamentliche Ijob, der von allen erdenklichen Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, warf seinen Freunden vor, dass sie „leidige Tröster“ seien. Sie kamen zu ihm, um zu trösten, aber es fehlte ihnen an Zuhör-Kraft und Empathie. Das Unerklärbare des Leids hat sie dermaßen verunsichert, dass sie dem geschundenen Ijob auch noch eine persönliche Schuld an seinem Elend unterstellten. Sie wollten erklären, was nicht zu erklären ist. Und anstatt zu trösten, machten sie ihm Vorwürfe. Einzig und allein Zuhören wäre im Leid notwendig gewesen.

ML: Dass Zuhören als solches schon heilsam ist, weiß auch die moderne neurobiologisch fundierte Psychotherapieforschung. Beim Zuhören entsteht Bindung. Diese regt neurobiologisch die Neubildung von Nervenzellen in gedächtnisrelevanten Hirnarealen an, welche uns in die Lage versetzt, unsere Probleme zu lösen. Probleme zu haben bedeutet Stress, manchmal sogar pathologischen Stress, weil er mit der Angst verbunden ist, die anstehenden Probleme nicht bewältigen zu können. Stress mit Zuversicht ist gut. Stress mit Angst ist jedoch schädlich, denn er führt – über den erhöhten Stresshormonspiegel – zu einer Einschränkung der Kreativität, die man zur Problemlösung braucht. Bindung beruhigt und kann Patienten in die Lage versetzen, ihre Probleme zu lösen.

HG: Ich möchte von einem wirklichen Meister des Zuhörens, meinem Freund Marco Blumenreich, erzählen. Der heute 50-jährige Psychotherapeut ist mit einer angeborenen Schwäche des Sehnervs zur Welt gekommen und kann sich sein Leben lang nur an vagen Lichtkonturen orientieren. Er erzählt, dass seine Kindheit wie in einen Tränenschleier gehüllt war. Seine Eltern waren mit ihm, dem nahezu völlig blinden Kind, überfordert und wurden sogar gewalttätig. Mit 16 Jahren setzten sie ihn rücksichtslos auf die Straße. Über die drei schrecklichen Jahre der Obdachlosigkeit erzählt er kaum etwas, nur so viel, dass er sich entschlossen hat, seinen Eltern zu vergeben, um selbst überleben zu können. Mit 19 Jahren besuchte er schließlich eine Abendschule und holte die Matura nach. Es folgten eine Ausbildung zum Heilmasseur und ein Studium der Psychologie. Heute ist Marco Blumenreich ein erfolgreicher Therapeut in freier Praxis. Menschen, die ihn aufsuchen, sind von seiner Art des Zuhörens überwältigt. Nicht nur sein persönliches Durchleiden von Trostlosigkeit hat seine empathische Fähigkeit gesteigert, sondern auch seine Blindheit.

ML: Der Zuhörer ist also geduldig. Nur so kann er ein guter Tröster sein. Der Zuhörende kann mehr über die Person verstehen, der er zuhört, als diese über sich selbst. Denn er hört zu – er hört nicht nur. Es gibt eine Zuwendung, die man nur von anderen bekommen kann, zu der man selbst nicht fähig ist. Wir werden, wie es so schön heißt, nur durch das Du zum Ich. Der Geburtsprozess von unserem eigenen Ich wird durch das Zuhören eines Anderen gefördert. Der Zuhörer ist gleichsam die Hebamme. Solche Erfahrungen haben wir alle schon gemacht. Es hört uns jemand zu, und wir kommen selbst auf die Lösung, auf die wir, ohne dass uns jemand zugehört hätte, nicht gekommen wären.

HG: Wichtig ist, dass die tröstende Person alle eigenen Vorstellungen loslässt, vor allem keine vorschnellen Lösungen anbietet und dadurch unbeabsichtigt manipuliert. Die möglichst ungeteilte Aufmerksamkeit zählt, oft nur das Da-Sein. Vor allem ist es wichtig, sich vor Verharmlosungen und Dramatisierungen zu hüten, ganz speziell vor „üblichen“ Trostformeln und leeren Sprüchen: „Wird schon werden!“ „Kopf hoch!“ „Da müssen alle durch!“ Diese und ähnliche Sager erzeugen eher Stress und sind nicht hilfreich. Für den trauernden Menschen muss sich „ein sicherer Platz“ auftun, wo er den angemessenen Ausdruck für seine Trostlosigkeit finden kann.

ML: Aus der Trauerarbeit, die manchmal eine existenzielle Radikalität besitzt, die erschaudern lässt, entwickelt sich letztlich erstaunlich leise, aber bestimmt und klar eine neue Zuversicht. Noch einmal dürfen wir staunen, wie wenig und gleichzeitig viel dabei zu tun ist. Die Absicht des vermeintlich Tröstenden kann der Wunsch sein, eine Situation zu verändern, weil sie nicht erträglich scheint. Aber oft wäre das einfache Aushalten, nicht das Lösen des Problems, trostreicher. Es kann auch vorkommen, dass ein trauernder Mensch innerlich schon weiter ist als die Person, die sich zum Trösten berufen fühlt. Trost ist mit der Erfahrung verbunden, einfach sein zu dürfen und nichts und niemandem etwas beweisen zu müssen.

HG: Durch ein „hörendes Gespräch“ soll die zu tröstende Person die Gewissheit gewinnen, ernst genommen zu werden und auch wiederkommen zu dürfen. Auch Gesten sind wichtig. Es ist wichtig, sich selbst, dem tröstungsbedürftigen Nächsten und der Situation gegenüber treu zu bleiben. Möglicherweise steht ein längerer Weg bevor. Das Wort Trost hängt ja nicht zufällig etymologisch mit dem indogermanischen Wortstamm „treu“ zusammen und bedeutet „Festigkeit“, Verlässlichkeit, auch „seelischer Halt, Zuversicht und Ermutigung im Leid“.

Trost

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