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Wer tröstet wen?

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ML: Als ich 19 Jahre alt war, entschied ich mich, nach der Matura als Volontär in einer katholischen Missionsstation im südindischen Chennai mitzuarbeiten. Die Station befand sich mitten in einem Slum und erfüllte viele Aufgaben. Neben einem kleinen Spital mit einer relativ großen Ambulanz gab es unter anderem eine Leprastation und ein Internat für Kinder, die von ihren leprakranken Eltern abgesondert wurden. Teil der täglichen Arbeit war eine Ausspeisung für die in der unmittelbaren Umgebung lebenden Ärmsten der Armen. Verwaiste Kinder und Jugendliche, die als Bettler in der Stadt ihr Leben fristeten, fanden in unserem Zentrum eine Wohnstatt und bekamen die Möglichkeit zu einer Berufsausbildung. Für diese speziellen Kinder und Jugendlichen war ich zuständig. Ich musste mich um alle ihre Belange kümmern – vom Aufstehen bis zur Bettruhe. Ich war quasi der Elternersatz. Auf diese Weise lernte ich sehr viele Menschen kennen, kam mit ihren Schicksalen in Berührung und war von vielen Begegnungen tief berührt. Obwohl ich bei dieser Betreuungsarbeit nichts verdiente, kam ich immer mehr zur Einsicht, dass diese Menschen in Südindien mir wesentlich mehr gegeben haben, als ich für sie tun konnte. Ich fühle mich heute noch, nach so vielen Jahrzehnten, von ihnen reich beschenkt.

HG: Solche Erfahrungen sind sehr kostbar. Ähnliches kann ich von einem Wohnhaus der Caritas in Graz erzählen. Von außen betrachtet war es eine Ansammlung biografischer Katastrophen, ein letztes Refugium meist alkoholkranker Menschen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dennoch war der soziale Zusammenhalt in diesem scheinbar chaotischen Haus trotz der Unruhe und der vielen Grobheiten, die es auch gab, um vieles stärker als in jedem bürgerlichen Mehrparteienhaus. Eine an Parkinson erkrankte Bewohnerin wurde ganz selbstverständlich von den Mitbewohnerinnen betreut. Das, was ich in diesem Haus an ungeschminkter und oft auch humorvoller Lebenserfahrung „mitbekommen“ habe, war bei weitem mehr als das, was ich als Pfarrer den Leuten geben konnte. Nahezu bei jedem Todesfall gab es einen Gottesdienst mit einer ehrlichen, aber würdigenden Trauerrede von jemandem aus dem Haus, gefolgt von einem ausgezeichneten Essen. Ja, es stimmt: Die Leute, die am sozialen Existenzrand der Gesellschaft gelandet sind, haben mich gestärkt. Es war eine Schule bei den Armen. Jede Form der Überlegenheit ist unangebracht, weil wir alle trostbedürftig sind und einander brauchen.

ML: Ähnliches beobachte ich, wenn schwer kranke Menschen, die an der Schwelle ihres Todes stehen, von ihren Freunden und Angehörigen besucht werden. So sehr die Besucher auch Hoffnung ausstrahlen möchten, so wenig gelingt ihnen das. Man spürt die Verzweiflung und Trauer. Und so kommt es nicht selten vor, dass die Betroffenen selbst in die Rolle kommen, die Besucher, die eigentlich die Tröster sein sollten, zu trösten. Wer also tröstet wen? Wir brauchen einander. Im lateinischen Wort consolatio und im englischen comfort für Trost ist dieses Mit-Sein schön ausgedrückt.

HG: Den entscheidenden Satz, der uns aus einer Trauer oder Verzweiflung herausführen kann, können wir uns meist nicht selbst sagen. Ich habe bis heute den Klang der Worte meiner Eltern in mir: „Beruhige dich, alles wird gut!“ Dazu gehörte ein Umarmt-Werden, kurzes Streicheln, ein wenig Kuscheln – und die Welt war für mich als Kind wieder in Ordnung. Damit wurde die Basis meines Urvertrauens ins Leben geschaffen. Leider können nicht alle Menschen auf ein solches Lebensfundament bauen, ihr eigenes fühlt sich oft brüchig und instabil an. Sie werden vom Gefühl getrieben, dass alles schiefgehen oder in einem großen Malheur enden wird.

ML: Tröstung passiert durch gegenseitige Begleitung. Sie ist ganz wesentlich ein liebevolles Dabei-Sein und entzieht sich weitestgehend der professionellen Kompetenz. Freilich ist es so, wie man es bei einem genialen Pianisten erlebt. Er spielt, als würde er sich nicht anstrengen müssen. Er vermittelt, dass er einfach gern spielt und mit dem Instrument und der Musik eins ist. Alle Zuhörenden wissen aber, dass unendlich viele Stunden der Übung dafür notwendig waren. Wer wirklich trösten will, muss auch mit sich selbst schon gerungen haben …

HG: … und selbst schon einiges durchgemacht haben. Ich denke an einen befreundeten Künstler und Lehrer, der nach einem alkoholbedingten biografischen Desaster zwei Jahre in New York als Obdachloser dahinvegetiert hat. Seine schmerzhaften Erfahrungen führten bei ihm zu einer beeindruckenden Sensibilität gegenüber Menschen mit unterschiedlichsten Abhängigkeitserkrankungen. Er weiß, was es bedeutet, wenn durch eigenes Versagen Ehe und Familie zerbrechen, die Karriere scheitert und sich das ganze Leben nur mehr wie ein Scherbenhaufen anfühlt. Durch das Programm der Anonymen Alkoholiker hat er sich ins Leben zurückgekämpft. Er landete schließlich in Graz, wo er in unserem Pfarrhof wohnte. Ich durfte miterleben, wie viele Menschen er gerade mit seinem „verwundeten Herzen“ trösten konnte – auch mir hat er Hoffnung gegeben. Ich weiß, dass es auch nach dem schlimmsten Scheitern eine Chance für einen Neuanfang gibt.

ML: Das ist überhaupt die beste Übung für das Leben: selbst von etwas betroffen gewesen zu sein! Man muss nur aufpassen, dass man die eigene Erfahrung nicht ungefragt und unreflektiert auf den Anderen projiziert. Ich kann mir aber keinen Priester oder Psychotherapeuten vorstellen, der kompetent ist und nicht eigene Leidenserfahrungen als „Grundwissen“ mitbringt. Die Krisen sind die Geburtsmomente des Menschen.

HG: Krisen erschüttern bisherige Gewissheiten und stellen Gewohnheiten infrage. Sie lassen Sicherheiten zerschellen. Möglicherweise ist eine derartige Erschütterung auch ein Weckruf, eingefahrene Bequemlichkeiten aufzugeben und den Wert des Lebens mit neuer Dankbarkeit anzunehmen. Grundsätzlich betrachtet ist eine Krise jener ambivalente Zustand, in dem etwas an Bedeutung verliert oder verschwindet, das Neue aber noch nicht da ist. In diesen sensiblen Situationen sind Zuspruch und Begleitung besonders kostbar. Ein guter Trost ist wie eine Gehhilfe nach einer Beinoperation. Nach dem Bruch ist zwar alles wieder zusammengefügt, aber die Stärke zum selbständigen Gehen noch nicht vorhanden.

ML: Aber das Gehen muss die durch Krisen erschütterte Person selbst wieder erlernen. Der tröstende Begleiter ist, mit einem anderen Bild gesprochen, so etwas wie ein Rettungsring, der dem Ertrinkenden zum Überleben hilft. Schwimmen muss die betreffende Person selbst. Die Kunst ist zu verstehen, wann der Mensch in der Krise fähig ist, auch ohne den rettenden Ring zu schwimmen. Das ist das Ziel.

HG: Ja, wir sollten einander immer auch Ermöglicher von Freiheit sein. Durch das Trösten können leicht Abhängigkeitsverhältnisse aufgebaut werden, die Menschen in eine Unselbständigkeit drängen und damit eher lähmen. In diesem Fall, etwas scherzhaft bemerkt, brauchen auch die Tröster einen Trost. Sie müssen zur Erkenntnis ermutigt werden, dass sie nicht mehr wichtig sind. Wirkliches Trösten ist eine Ermächtigung zur Eigenverantwortung.

ML: Selbstverständlich brauchen die „gelernten“ Tröster immer wieder auch selbst Trost. Niemand kann nur aus den eigenen Quellen leben. Das bereits erwähnte Prinzip des Du, aus dem das Ich entsteht, bleibt eine immerwährende Wahrheit, nach der wir leben müssen. Nur wenn wir bereit sind, uns auch selbst trösten zu lassen, reichen die Länge unseres Armes und der Resonanzraum unseres Herzens längerfristig und verlässlich zum anderen hin.

HG: Das Angebot einer Vielzahl therapeutischer und seelsorglicher Berufe ist für den Tröstungsbedarf in der heutigen Zeit von enormer Bedeutung. Dennoch hat jeder Mensch den Auftrag und die Fähigkeit, seinen Nächsten zu trösten. Diese „selbstverständliche Pflicht“ dürfen wir nicht zu rasch an Profis delegieren, bleibt doch die wesentliche Basis der „Kunst des Tröstens“ der von uns allen geforderte Mut zur Begegnung mit Trostsuchenden in einer ganz natürlichen Offenheit.

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