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Bedrückende Verpflichtungen

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HG: Nicht wenige Menschen haben den Eindruck, dass sich ihr Leben nur mehr in einem Hamsterrad abspielt. Sie müssen strampeln und mitmachen, um nicht hinausgeworfen zu werden. Sie müssen funktionieren. Ein freies, selbstbestimmtes Mensch-Sein haben sie längst aufgegeben. Zunehmend fühlen sie sich ausgepowert und ausgebrannt. Jemand in Führungsverantwortung sagte zu mir: „Hermann, ich höre, dass du sprichst, aber ich kann nicht mehr erfassen, was du sagst. Ich schaffe es nicht mehr.“ Wenn ich an diesen Moment denke, fällt mir der leere Blick dieses Mannes ein, der in eine chronische Erschöpfung geschlittert ist. Trostlos, aussichtslos. Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis er sich nach einer umfangreichen Burn-out-Therapie wieder erholt hat.

ML: Verpflichtungen sind etwas, zu dem wir uns einspannen lassen oder uns selbst einspannen. Ich muss, statt ich will oder ich darf. Daher erleben wir Verpflichtungen als Mühe. Es ist notwendig, im Leben Verpflichtungen auf sich zu nehmen, daran besteht kein Zweifel. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass Verpflichtungen besonders viel Energie kosten. Wir sollten aus diesem Grund nur so wenig Verpflichtungen auf uns nehmen wie notwendig und so viele, wie wir uns und einander schuldig sind. Es ist wichtig, bei der Übernahme von Pflichten in engem Kontakt mit sich selbst zu sein. Wir brauchen das Innerste von uns selbst als Referenz in solchen Situationen.

Ganz gegenteilig dazu verhalten sich Verantwortlichkeiten. Darin verbirgt sich schon rein etymologisch das „Antwort geben“. Wenn ich zum Beispiel einem hilfsbedürftigen Menschen antworte, indem ich ihm helfe, übernehme ich Verantwortung. Wenn ich einem hilfsbereiten Menschen antworte und mir helfen lasse, übernehme ich ebenfalls Verantwortung. Dieser Prozess beinhaltet ein Geben und Nehmen, was dazu führt, dass wir eine zumindest ausgeglichene, wenn nicht positive Energiebilanz haben. Verantwortung stärkt.

Ich kann etwa eine Arbeit als Pflicht auffassen. Dann wird sie mir Mühe machen. Ich persönlich halte eher wenig davon. Ich glaube, Arbeit sollte nie in reine Pflichterfüllung ausarten. Das ist möglich, indem man Verantwortung übernimmt. Dann macht die Arbeit auch nicht immer Spaß, jedoch immer Freude.

HG: Schön, wenn man das so sehen kann. Dennoch stellt sich bei vielen Beschäftigungen die beinharte Frage: Wozu der Aufwand? Im Weisheitsbuch Kohelet aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert beobachtet ein jüdischer Gelehrter das Tun seiner Zeit: „Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht.“ (Koh 3,10) Er stellt relativ emotionslos fest: „Alle Tage besteht das Geschäft des Menschen nur aus Sorge und Ärger und selbst in der Nacht kommt sein Geist nicht zur Ruhe.“ (Koh 2,23) Sein Befund ist ernüchternd, denn das meiste verdient nur die Bezeichnung „Windhauch, alles Windhauch!“. Ein trockener Klartext, der durchaus heilsam ist, vielleicht sogar ein wenig tröstlich im Gegensatz zu den übertriebenen Wohlstandsversprechungen unserer Zeit. Im dritten Kapitel, beginnend mit „Alles hat seine Stunde“ (Koh 3,1), wird alles aufgezählt, was dem Leben Charakter gibt – Gebären und Sterben, Krieg und Frieden, Umarmung und Trennung, Lieben und Hassen, um die wichtigsten Begriffspaare zu nennen. Schon in dieser Aufzählung liegt ein gewisses Moment von Tröstung, denn alles wird vergehen, auch das Bedrückende und Katastrophale.

ML: Alles gehört zum Leben. Doch was bedeutet es, alles „auszuleben“, wie sich das Menschen in unserer Zeit so unbedingt wünschen? Es kommt, wie der von dir zitierte Kohelet sagt, ohnehin das Leben in seiner Fülle auf uns zu. Es heißt doch nicht, jede Möglichkeit zu nutzen! Denn auch wenn jede Möglichkeit genützt würde, versäumte man automatisch viel. Man kann einen Beruf ergreifen, vielleicht noch zwei, drei weitere, doch alle anderen bleiben einem versagt. Dasselbe gilt für die Wahl eines Partners. Wenn man einen hat, sind die anderen nicht verfügbar. So kann es also nicht gehen.

HG: Wenn wir von bedrückenden Verpflichtungen sprechen, müssen wir unseren Blick weiten – ohne damit einzelne, subjektive Belastungen zu relativieren. Weltweit leiden unendlich viele Menschen unter extremen Arbeitsbedingungen. In Billiglohnländern werden Textilien, Elektrogeräte und andere Waren produziert, die dann „günstig“ auf unseren Markt geworfen werden. Auch Kinder werden dabei schamlos ausgebeutet. UNICEF schätzt, dass weltweit 150 Millionen Kinder hart arbeiten müssen und deshalb kaum oder gar nicht zur Schule gehen. Sie schuften unter gesundheitsschädlichen Bedingungen – in Fabriken, in Steinbrüchen oder auf Plantagen. Wir sollten uns mit dieser trostlosen Situation nicht abfinden. Selbst in unserer Wohlstandsgesellschaft arbeiten nicht wenige Menschen, speziell Frauen, in prekären, oft psychisch belastenden Arbeitsverhältnissen – und keineswegs fair entlohnt. Die Corona-Pandemie hat uns dafür zumindest ein wenig sensibilisiert. Nachhaltig?

ML: Bei uns sind die Menschen häufig Sklaven auf einer Galeere, die unter ihrem eigenen Namen segelt: Wir sind unsere eigenen Sklaventreiber. Bei den meisten Betroffenen ist diese Situation durch zu strenge eigene Vorgaben entstanden. Die Pflicht, die uns vom Leben trennt, beruht in der Regel auf einem zu strikten Konzept, das scheinbar vorgegeben ist, in der Tat aber meist von uns selbst geschrieben wurde. Lebenskonzepte, die keine Zwischenräume vorsehen, können sehr freudlos sein.

In menschlichen Gemeinschaften, zum Beispiel in einer Paarbeziehung oder in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, ist es notwendig, Zeiten und Räume zur Verfügung zu haben, in denen nichts passiert, damit Begegnung stattfinden kann. Ruhezonen! Es braucht diese Oasen zum Entspannen und Nicht-funktionieren-Müssen nicht nur im Wellnessbereich der gehobenen Hotellerie.

Trost

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