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Trösten oder Vertrösten?

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HG: Ungebrochen ist der Tröstungsbedarf in unserer trostlosen Welt. Von einer Krebsdiagnose oder einer anderen Krankheit überrascht, die Arbeit verloren oder mit dem eigenen Betrieb im Überlebenskampf, aus der Heimat vertrieben oder vor Krieg und Terror geflüchtet. Unzählige Menschen suchen Trost: Mutlose, Verzweifelte, Kranke, Verfolgte, Gedemütigte, Gefangene, Schwache, Überlastete, Gescheiterte, Sterbende und um sie Trauernde. Sehnsucht nach Trost haben der Teenager mit Liebeskummer und ebenso das Ehepaar, das sich nach vielen Jahren auseinandergelebt hat. Auch die vielen, die unter Erschöpfung, Vereinsamung und dem Gefühl leiden, nichts bewirken und verändern zu können, sind trostbedürftig. Viele leben und sterben trostlos. Gleichzeitig tut sich ein riesiger Markt von Vertröstungsangeboten auf. Die Produktpalette von Gütern und Luxusartikeln, die Trost verheißen, wird immer größer. Ratgeberliteratur und Esoterikangebote boomen, und auch die Film- und Unterhaltungsindustrie profitiert vom unruhigen, nach Tröstung hungernden Menschen. Aber was unterscheidet den „echten“ Trost von seinem Gegenteil, nämlich der Vertröstung? Trost ist meist fragwürdig und in der Folge auch wirkungslos, wenn er als Trost etikettiert daherkommt. Er ist dann willkommen und ersehnt, wenn er sich wie menschliche Nähe anfühlt, wie ein wohltuender Raum, der sich nach erlittener Enge und Bedrängnis plötzlich auftut.

ML: Wenn man an ein Baby denkt, das mit hochrotem Kopf schreit und sich durch nichts beruhigen lässt, dann kann man sich vorstellen, was es bedeutet, untröstlich zu sein. Greifbar wird das intensive Bemühen der Mutter, die alles versucht, um das Kind zu beruhigen. Sie wird aus ihrer Erfahrung mit dem Kind alle Register des Tröstens ziehen, um dem Untröstlichen des Kindes entgegenzuwirken. Leider geraten Kinder manchmal derart in eine Schreitrance, dass gar nichts mehr zu helfen scheint. In solchen Fällen sind alle Beteiligten verzweifelt: die Eltern, das Kind und mitunter auch die Nachbarn oder Mitanwesenden. Noch extremer ist dies bei den sogenannten Schreibabys. Eine solche Situation kann alle an den Rand eines Nervenzusammenbruches treiben. Weder Trost noch Vertröstung helfen in so einem Fall. Eventuell das Wissen, dass es irgendwann einmal doch besser wird – weil es auch andere geschafft haben.

HG: Wirklicher Trost nimmt die Trostlosigkeit ernst. Das macht den Unterschied zur Vertröstung aus. Ein behutsames, fast gebrechliches Wort kann tröstend sein. Ein Trotzdem-Dasein, ein Trotzdem-Anrufen, auch wenn man nicht genau weiß, was man in der trostlosen Situation sagen kann. Es ist vielleicht das Beste, genau das zu sagen, was man fühlt: „Ich möchte dir so gerne etwas Tröstendes sagen, doch ich finde keine Worte dafür. Weil ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen, habe ich mich jetzt erst gemeldet. Bitte entschuldige! Ich denke fest an dich.“ Unsicherheit ist nichts, wofür man sich schämen muss. Sie zeigt vielmehr Respekt vor einer Situation, die neu ist. Sie zeigt den Willen, auf eine neue Situation zu antworten, und zwar nicht einfach irgendwie, sondern der Situation angemessen und diese würdigend. Es ist der erste und vielleicht schwerwiegendste Fehler, der leidenden Person aufgrund der eigenen Unbeholfenheit auszuweichen. Auch in der allgemeinen Trauerkultur lässt sich ein Wandel bemerken: Immer öfter wird die Begegnung mit Angehörigen gemieden. Die Folge ist ein schmerzliches Alleinsein in einem Moment, in dem man sehr verletzlich ist und jemanden bräuchte.

ML: Das Wichtigste beim Trösten ist zweifelsohne, einfach für den anderen da zu sein. Aber um wirklich für den tröstungsbedürftigen Nächsten da zu sein, muss man ihn entweder verstehen oder wenigstens, wie du es eben ausgeführt hast, vermitteln, dass man mit ihm die Hilflosigkeit teilt. Ein schöner Gedanke, wie mir scheint: Trost kann auch im Teilen der Hilflosigkeit liegen, in der Geschwisterlichkeit der Hilflosigkeit.

Im Beispiel mit dem schreienden Kind gehen wir davon aus, dass der Grund für seine Trostlosigkeit in einer „Frustration von Bedürfnissen“ liegt. Das Kind fühlt sich unwohl, einfach unbehaglich. Dass seine Grundbedürfnisse nicht gestillt sind, erlebt das Kind als existenzielle Bedrohung. Dementsprechend wird das Kind mit dem Schreien die Umgebung maximal alarmieren. Im Normalfall aber wird es getröstet sein, wenn es bekommt, was es verlangt. Ist das Kind einfach nur hungrig, wird mit einem Mal alles gut sein, sobald es an der Brust der Mutter trinkt. Trost tritt ein, wenn alles gut ist …

HG: … beziehungsweise wieder ins Lot gebracht wurde. Mit unterschiedlichsten Mitteln und Strategien versuchen wir, individuelle Sinndefizite auszugleichen. Der materielle Wohlstand allein hat kein nachhaltiges Trostpotenzial, da er die Seele des Menschen nicht sättigen kann. Sie braucht ein „überweltliches Brot“, wie es Eberhard Schockenhoff ausgedrückt hat. In einer Wohlstandsübersättigung tun sich eher neue Abgründe auf, neue Traurigkeiten inmitten eines manchmal fast totalitären Spaßangebotes. Selbst das raffinierteste Entertainment kann den Menschen nicht trösten, wenn es seine Seele nicht erreicht. Trost lässt sich weder kaufen, noch gibt es ihn auf Bestellung. Vertröstungen schon.

ML: Auf alle Fälle gilt: Bejahung und Nähe machen alles gut, auch wenn nichts gut ist. Sie sind ein Zaubermittel, das jedermann zur Verfügung hätte. Sicherlich ist es dabei notwendig, dass das Ja und die Nähe authentisch vermittelt werden. Eigentlich gilt das nicht nur für Kinder, sondern bleibt das ganze Leben lang gültig. Nicht selten vertrösten Eltern ihre trostbedürftigen Kinder mit Antworten, die in Wirklichkeit nur Scheinbefriedigungen sind. Ein klassisches Beispiel ist das einsame Kind, das sich nach menschlicher Nähe sehnt und stattdessen mit der x-ten Playstation, mit medialer Ablenkung oder mit Süßigkeiten abgespeist wird. Meist bräuchten sie nur etwas gemeinsame Zeit oder jemanden, um sich auszureden. Oder Zeit zum Kuscheln. Das Abgespeist-Werden hinterlässt eine tiefe Enttäuschung. Vertröstung vergrößert die Leere.

HG: Apropos Sättigung von Kindern: Ein Blick über unsere wie auch immer gesättigte Gesellschaft hinaus zeigt uns Millionen von Kindern, die an Hunger elendig zugrunde gehen oder ein Leben lang an den Folgen von Unterernährung leiden. Wer stillt denn ihren Schrei, sofern sie überhaupt noch die Kraft haben zu schreien? Zur Baby-Feed-Station am Stadtrand von Juba, der Hauptstadt des Südsudan, wurden Kinder mit aufgeblähten Bäuchen gebracht. Bilder, die sich mir bei einem Besuch mit einer Caritas-Delegation unvergesslich eingeprägt haben. Wie viel Elend schreit da zum Himmel? Eine verrückte Ungerechtigkeit, wenn ganze Volkswirtschaften dem unersättlichen Profit weniger Konzerne geopfert werden! Es geht beim Thema Trost also nicht nur um die Tröstung des Einzelnen, wie tragisch auch immer einzelne Schicksale sein mögen. Wirklicher Trost muss sich auch der globalen Wirklichkeit stellen, um nicht zur individualistischen Vertröstung der ohnehin Saturierten zu verkommen. Trost ist weitsichtig und „weltsichtig“.

ML: Ja, ich stimme dir zu. Man muss sich den Ungerechtigkeiten, dem Bösen und dem Sündigen in der Welt stellen. Es sind Ausformungen von Lieblosigkeit im großen Format, verstanden als ein vom Wesen her liebloses Sein in der Welt. Ich denke bei dem Thema an einen Besuch bei Mutter Teresa in Kalkutta. Damals herrschte dort eine ungeheure Armut. Man musste auf der Straße über Leichen steigen, und das war nur ein Aspekt der alle Sinne beschäftigenden Umgebung. Ich war zutiefst beeindruckt und erschüttert. Diese Umgebung veranlasste Mutter Teresa, ihr Werk zu beginnen. Sie ließ sich vom Schicksal der Menschen berühren. Im Jesuitenkolleg in Kalkutta lernte ich dann einen liebenswürdigen Jesuitenpater kennen, der eine ambivalente Beziehung zu Mutter Teresa hatte. Er kritisierte, dass die Ordensfrau ihre Berühmtheit und ihre Einflussmöglichkeiten nicht nutzte, um die eklatante Ungerechtigkeit des indischen Sozialsystems strukturell zu verändern.

HG: Für Mutter Teresa hat doch alles damit begonnen, dass sie Sterbende von der Straße wegholte. Sie brachte sie in einen ehemaligen Hindutempel, den sie zu einem Sterbehaus umfunktionierte. Denen, die wie Hunde auf der Straße dahinvegetierten, wollte sie zumindest einen Ort bereiten, wo sie würdevoll „als Menschen“ sterben dürfen. Ein Kraftwerk von Tröstung bis heute. Mutter Teresa und ihre „Missionaries of Charity“ sind eine lebendige Provokation für uns alle, die wir uns gerne in Wohlstandsnischen zurückziehen – oft eingelullt in einer „globalisierten Gleichgültigkeit“, wie es Papst Franziskus bei seiner ersten Auslandsreise auf der Insel Lampedusa nannte.

ML: Viele Jahre später hörte ich folgende Geschichte: Mutter Teresa soll von einem sozial engagierten Mann belehrt worden sein, was man politisch tun könnte, um die soziale Ungerechtigkeit in Indien zu verändern. Sie hörte sich die Thesen geduldig an, lobte sie umfassend, lobte vor allem ihre Scharfsinnigkeit und Richtigkeit, um schließlich damit zu enden: „Ich schlage vor, Sie ändern das indische Sozialsystem und ich betreue weiterhin die Sterbenden!“

Auch wenn bis heute viele Menschen eine solche Haltung nicht verstehen, bin ich mittlerweile der Meinung, dass das unmittelbare Engagement nächstenliebender Menschen eine erstaunlich große Wirkung entfaltet. Sie unterlaufen jeden Widerstand, während sich das explizit politische Engagement nicht selten im Widerstand festläuft. Daher ist das Schicksal vieler Revolutionen, nicht nur in Nicaragua oder in Russland, die Rekonstruktion des bekämpften Systems.

HG: Jahrhundertelang war es eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche, Menschen zu trösten, vor allem Kranke, Siechende und Sterbende, für die es keine ausreichende Fürsorge gab. In dieser Kernkompetenz ist die Kirche jedoch durch die religionskritische Aufklärung in Frage gestellt worden. Tröstung wurde als Vertröstung diffamiert. Karl Marx und Lenin brachten es besonders scharf auf den Punkt: „Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. (…) Die Religion ist das Opium des Volks.“

Tatsächlich kommt von dieser religionskritischen Seite ein wichtiger Impuls zur Korrektur christlicher Hoffnungsarbeit. Der Trost auf ein ewiges, also besseres Leben bei Gott ist irreführend, ja sogar zynisch, wenn man sich nicht auch auf dieser Welt ernsthaft für ein menschenwürdiges Leben aller einsetzt – mehr Lebenschancen, Bildung und Teilnahmemöglichkeiten für alle! Diese „Option für die Armen“ sollte jedoch nicht dazu führen, dass der spirituelle Auftrag der Kirche zur Nebensache wird. Alles gehört zusammen! Woher sollten denn das wirkliche Tröstungspotenzial und der lange Atem im Kampf gegen die Entwürdigung des Menschen und für eine nachhaltige Bewahrung der Schöpfung kommen, wenn nicht aus dem Schatz der Frohen Botschaft, die nach den Worten Jesu „allen zu verkünden ist“?

Trost

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