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Perfekt sein müssen

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HG: Zu hohe Ansprüche und Träume von Perfektion können enormen Stress verursachen. Denken wir etwa an Szenen, die sich am Heiligen Abend abspielen. Alles wird perfekt arrangiert, um der ersehnten harmonischen Idylle Genüge zu tun. Es scheint jedoch wie vorprogrammiert, dass diese Inszenierung platzen wird. Vielleicht sind es nur ein paar nervige Aktionen der Nachbarn oder Kinder, die nicht „mitspielen“. Schon allein der emotionale Druck kann etwas an die Oberfläche bringen, das bereits längere Zeit gegoren und in einer Beziehung nicht mehr gestimmt hat. Weniger Show und dafür mehr ehrliche Begegnungen könnten einiges an Streit und Enttäuschungen vermeiden helfen. Einfach ausprobieren: weniger Hochglanz, dafür mehr Zeit füreinander. Vielleicht auch ein Wort der Entschuldigung, wenn man sich gegenseitig überfordert hat.

ML: Mehr Gelassenheit wäre gut. Sie ist teilweise auch erlernbar. Außerdem gilt für jede Familie und jedes System: Ein Perfektionsanspruch macht verletzlicher und ist störungsanfälliger als eine dynamische Ordnung, in der Fehler und mangelhafte Zustände sein dürfen. Im Nicht-Perfekten, manchmal sogar im Chaos gibt es mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ein sicherer Weg in die Trostlosigkeit ist der Wunsch, es allen recht zu machen.

HG: Menschen arbeiten bis zum Umfallen, bleiben bis spät in die Nacht im Büro oder in der Firma. Wird das wirklich erwartet? Mit einem bewussten Weniger würden viele sich selbst und ihrem unmittelbaren Lebensumfeld wohl gerechter werden. Dahinter kann auch eine „Programmierung“ stecken. Vielleicht haben Eltern versucht, ihre ehrgeizigen Ziele, die sie selbst nicht erreichen konnten, mithilfe ihrer Kinder zu realisieren. Diesen wurde vermittelt, dass sie nur mit einem bestimmten Grad von Perfektion liebenswürdig seien. Meist wird jedoch gerade dadurch eine kreative Entfaltung der subjektiven Begabungen verhindert.

ML: Die Hemmung der Kreativität zeigt sich auch in dem verzweifelten Gefühl, nie den eigenen Ansprüchen zu genügen. Wenn du einen Perfektionisten fragst, was eigentlich „perfekt“ ist, wird er es nicht sagen können. Sein Verhalten mutet zwanghaft an. Er kann nicht, wie es die Daoisten so schön ausdrücken, mit dem großen Wasser fließen, sondern möchte das Leben in seine vorgefertigte Fassung hineinzwängen. Damit verunmöglicht er jeden Entwicklungsspielraum.

HG: Zum Leben gehören Störungen und Fehler – die vielen täglichen Ereignisse, die uns aufbauen, aber auch verletzen können. Wir sind Verursacher und Opfer unzähliger „Verwundungen“, und niemand geht ohne Schrammen und Verletzungen durchs Leben. Manche davon heilen wieder, andere bleiben unserer Seele eingeschrieben. Sie gehören zu unserer Biografie und machen unser ganz persönliches Profil aus. Sie anzunehmen macht uns menschlicher. Ich habe immer das Bild des auferstandenen Christus vor Augen, der den verängstigten Jüngern seine Wundmale zeigt. Genau daran haben sie ihn erkannt. Vor ihnen stand kein göttlicher Sunnyboy, der selbstherrlich über die Erde schwebt. Die sichtbaren Wunden, die ihm bei der Kreuzigung zugefügt wurden, haben ihr Vertrauen geweckt. Vielen ist die Diskussion rund um den „nackten Christus“ des Tiroler Bildhauers Rudi Wach bekannt. Die scheinbar provokante Kreuzesdarstellung auf der Innsbrucker Innbrücke hat jahrzehntelang für Wirbel gesorgt hat. Vordergründig haben sich die Leute an der Nacktheit gestoßen. Für mich schwer nachvollziehbar. Der eigentliche Skandal dieser Darstellung ist für mich das Fehlen der Wundmale. Ein Gekreuzigter ohne Wunden ist eine esoterische Lichtgestalt, die mit uns Menschen letztlich nichts zu tun hat. Von einem glattpolierten, „perfekten“ Christus geht kein Trost aus.

ML: Wunden zu verneinen ist eine Verdrängung von wichtiger Lebensrealität – und manchmal auch ein Schutz. Für den Perfektionisten sind Wunden inakzeptabel. Er möchte seine Vorstellungen durchsetzen, weil seine Ängste es ihm befehlen. Der Perfektionist hat etwas Autoritäres. Das ist meistens ziemlich abstoßend und in seiner Kälte trostlos.

HG: Ist es nicht gerade das Nicht-Perfekte, das uns offener, zugänglicher und verständnisvoller macht? Durch eine persönliche Schwäche, an der man leidet, kann eine innere Verbundenheit mit jemandem entstehen, der dasselbe Problem hat oder mit demselben Versagen kämpft. Durch eine persönliche „Verwundung“ kann es möglich werden, Menschen in ähnlichen Situationen und mit ähnlich schmerzvollen Erfahrungen besser zu verstehen. Wer Vergleichbares kennt, wird anders trösten können.

Selbst eine offenbar schwerwiegende Sünde kann in diesem Sinne ein Türöffner für ein Plus an Verständnis, Barmherzigkeit und Solidarität sein. Man könnte sogar sagen: Gott braucht diese Türöffner, diese Ritzen in der Wand, um uns menschlicher zu machen. Leonard Cohen singt in einem berühmten Lied genau von dieser heilsamen Bruchstelle: Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That’s how the light gets in. Übersetzt: „Vergiss dein perfektes Opfer. Es gibt eine Bruchstelle in allem. So kann das Licht hereinfallen.“ Verständlicherweise wollen wir Bruchstellen vermeiden oder genieren uns dafür. Aber genau durch diese „undichten Stellen“, wie du es einmal formuliert hast, kann uns Gott erreichen – und das Leben neu gelingen.

ML: Ja, genau die Schwachstellen sind die Vernetzungspunkte, die Kontaktpunkte zwischen uns und den anderen, der Welt, sogar mit dem Göttlichen. In der Tat geben einem gerade die Schwächen einer Person das Gefühl, sie besser zu kennen.

Es fehlt Perfektionisten häufig an Empathie. Dahinter steht oft mangelnde Selbstliebe. Sie sind sich selbst nie genug, müssen daher immer besser werden. Wie gesagt, ein verzweifelter Versuch! Wer seine ganze Energie dafür benützt, sich selbst zu optimieren, hat meist die Hände nicht mehr frei für die Welt. Und der Perfektionist hat oft wenig Verständnis für die Schwächen anderer, da er auch den eigenen Schwächen gegenüber gnadenlos ist. Es ist grauenhaft anzusehen, wie sich eine solche Weltsicht gegen alles Lebendige stellt. Indem wir das Lebendige in der Welt nicht würdigen, entwürdigen wir uns selbst. Das ist trostlos.

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