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Orthodoxer Desinformations-Frame: der Feind im Internet
ОглавлениеWie die Geschichte über das Elend der Medien gewöhnlich beginnt, lehrt exemplarisch eine Regierungserklärung von Angela Merkel vom 29. Oktober 2020: Öffentliche Kritik an den Corona-Maßnahmen sei unverzichtbar, so Merkel, »aber Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus.« Die Bundeskanzlerin definiert damit das Problem im öffentlichen Kommunikationsraum – so, wie es unabhängig von Corona dem herrschenden Narrativ der vergangenen Jahre entspricht. »Wir müssen lernen, mit Fake News als Teil der hybriden Kriegsführung umzugehen«, sagte Merkel 2019 bei der Einweihung der BND-Zentrale in Berlin.35 Den »Kampf gegen Desinformation« führt Deutschland auf EU-Ebene gemeinsam mit Frankreich. Die Regierung von Emmanuel Macron, einst liberaler Wirtschaftsminister der sozialistischen Partei, warf Russland 2019 vor, durch Falschmeldungen über die sozialen Netzwerke die Proteste der Gelbwesten anzuheizen.36 »Putins Medien«, wie Macron Sputniknews und Russia Today nennt, hätten bereits 2017 im Präsidentschaftswahlkampf sein Privatleben thematisiert. Nach dem Wahlsieg Macrons folgte Frankreich dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz und erließ ein ›Fake-News-Gesetz‹, das nach Einschätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung »nicht grundlos« als »Anschlag auf die Pressefreiheit« bezeichnet werden könne.37 Legitimiert wurde das mit einem guten Grund: mit Wladimir Putin und dem Elend der Medien.
Auch Frank-Walter Steinmeier sieht die Demokratie »unter Druck« (wegen alternativer Wahrheiten)38 und warnt vor einer »Zersetzung«. Allerdings gibt der Bundespräsident eine andere Handlungsempfehlung als Macron: Die Gesellschaft brauche seriöse Medien dringender denn je!39 »Die Demokratie ist angewiesen auf freie, unabhängige und wahrheitsgetreue Information«. Das digitale Umfeld sei nicht »freundlich«, weshalb sich der Qualitätsjournalismus noch auf unbestimmte Zeit gegen Verflachung, Verzerrung und Glaubwürdigkeitsverlust behaupten müsse.40
In dieser Erzählung von Merkel-Macron-Steinmeier steckt der hegemoniale Frame westlich-liberaler Gesellschaften über das Elend der Medien. Wenn man so will: die offizielle Version der Geschichte aus einer unendlichen Reihe von Deutungsmöglichkeiten. In einem Frame sind Facetten eines Ereignisses so verknüpft, dass sie beim Empfänger eine bestimmte Interpretation aktivieren. Eine Meta-Story, die sich in die Sequenzen Problem, Ursache, Handlungsempfehlung und moralische Bewertung unterteilen lässt.41 Was Entman »Frame« nennt, ist bei Bourdieu ein Standpunkt über die »legitime Sichtweise über die Dinge«. Anders als bei Entman schweben die Deutungsmuster hier nicht im »luftleeren Raum«42, sondern sind an Feldpositionen gebunden. Entman macht über die vier Frame-Sequenzen klar, wie eine »legitime Sichtweise« analysiert werden kann.
In der Soziologie von Pierre Bourdieu haben die Felder Politik, Wissenschaft und Journalismus eines gemeinsam: Alle drei Felder beanspruchen, über die legitime Sichtweise der Dinge zu verfügen. Mit ihren Konstruktionen der Wirklichkeit üben sie jeweils symbolische Macht aus. Die entsprechenden Kämpfe werden einerseits innerhalb der Felder ausgetragen und andererseits im sozialen Raum. Den Wettstreit um Deutungshoheit gewinnt, wer über das meiste ökonomische, kulturelle und soziale Kapital verfügt. Ein Standpunkt, der sich über die Feldgrenzen hinweg durchsetzt, gilt als orthodox. Es ist die Sichtweise der Wirklichkeit, die gesamtgesellschaftlich mindestens unbewusst als gesetzt gilt.43 Kurz: der orthodoxe Frame. Konkurrierende Sichtweisen in einer deliberativen Demokratie44 nennt Entman »counter frames«. Mit Bourdieu können die unterlegenen Standpunkte als heterodox oder als häretisch bezeichnet werden. Während es Vertretern von heterodoxen Sichtweisen darum geht, innerhalb einer bestehenden Ordnung mit ihrem Standpunkt eine höhere Position zu erlangen, wollen Häretiker die Kapitaldistribution insgesamt verändern.45
Ich nenne die Erzählung von Merkel-Macron-Steinmeier den orthodoxen Desinformations-Frame, weil sich diese Sichtweise über das Elend der Medien mit dem Mehrheits-Konsens in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft deckt. Stephan Ruß-Mohl spricht zum Beispiel von der »Pest der Desinformation«. Die ›Feinde‹ der informierten Gesellschaft sind in seiner Lesart »Populisten und Propagandisten«, die die Digitalisierung nutzen, um mit Fake News, Konspirationstheorien, Halb- und Viertelwahrheiten zu punkten oder Verwirrung zu stiften«.46 Wolfgang Schweiger verbindet die Ursache Desinformation mit dem Aufstieg von digitalen Plattformen und nennt als Probleme den Bedeutungsverlust journalistischer Nachrichten, eine sinkende politische Informiertheit, die schwache Diskursfähigkeit der Bevölkerung sowie eine Polarisierung der Gesellschaft.47 Diana Rieger versucht nachzuweisen, dass Internet-Propaganda rechtsextreme Positionen stärkt,48 Nikolaus Jackob sieht das Internet mit aggressiven Kommentaren und Verschwörungstheorien geflutet,49 und Thorsten Quandt befürchtet wegen der »Missinformation« im Netz gar eine »Populismus-Pandemie«.50 Diese Beispiele vom Machtpol der Kommunikationswissenschaft dürften hinreichend sein, um zu zeigen, dass hier der Frame ›Desinformation‹ vorherrscht. Mit Entman gedacht ist dies die Meta-Story, die sich mit leichter Varianz auf die moralische Bewertung einzelner Akteure überträgt.51 In einem solchen Deutungsprozess wird immer mindestens implizit bestimmt, wer die Guten sind und wer die Bösen.
In dem von 36 Forschern und Praktikern erstellten Handbuch Fake News, Framing, Fact-Checking steht die Argumentationskette zur moralischen Beurteilung gleich im Vorwort: Weil »nichtjournalistische Kommunikatoren« im Internet zum Sender »nachrichtlicher Informationen« werden, steigt die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Da sich Fake News erfolgreicher als seriöse Meldungen verbreiten, so heißt es im nächsten Kettenglied, führt das auch bei etablierten Medien zu einem Glaubwürdigkeitsverlust. Folge: »Lücken- und Lügenpresse-Vorwürfe« sowie pauschale Kritik an »Mainstream-Medien«, »Systempresse« oder »Staatsfunk«.52 Die Moral dieser Geschichte: Schuld sind ›nichtjournalistische Kommunikatoren‹. Böse. Gut sind dagegen traditionelle Medien.
Der Journalist und Soziologe Marcus Klöckner, den wir in diesem Buch ausführlich zu Wort kommen lassen, beobachtet im Feld des Journalismus einen tiefen Graben zwischen Vertretern großer Medien und ihren Kritikern auf den Plattformen des Gegendiskurses.53 In der orthodoxen Kommunikationswissenschaft wird diese Spaltung meist in den Gegensatz ›alternative‹ versus ›etablierte‹ Medien gegossen. ›Alternative Nachrichtenmedien‹ sind Thorsten Quandt zufolge Angebote, die sich als kritische Gegenstimme und Korrektiv zu journalistischen ›Mainstream-Medien‹ verstehen und vor allem online aktiv sind. In einem Aufsatz, der im April 2020 ohne Peer-Review veröffentlicht und von vielen Medien zitiert wurde, haben Quandt und sein Team Angeboten wie RT Deutsch, Sputnik, Compact oder den NachDenkSeiten vorgeworfen, in Sachen Corona Verschwörungstheorien zu verbreiten. Fazit: »Die Alternativmedien […] vermischen in ihren Veröffentlichungen das Leugnen des Klimawandels, die Flüchtlingskrise, Weltuntergangstheorien und das Coronavirus«.54 Diesen Befund kann jeder selbst prüfen und sich zum Beispiel die NachDenkSeiten ansehen. Man würde dann schnell sehen, dass es wenig Sinn macht, alle Alternativmedien und staatlich finanzierte Medien aus dem Ausland analytisch zu einer Kategorie zusammenzufassen.55 Der Frame allerdings ist in der Welt: gute Traditionsmedien, böse Alternative.