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Verstehen mit Bourdieu

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Die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen steht hier ›nur‹ pars pro toto für das, was Pierre Bourdieu an der Markt- und Meinungsforschung insgesamt kritisiert hat.76 Bourdieu hat eine Wissenschaft abgelehnt, die Menschen erst über sozial zugeschriebene Kompetenzen und statistische Wahrscheinlichkeiten definiert, anschließend den Tatbestand der ungleichen Verteilung feiert oder beklagt und schließlich die Merkmalsträger anklagend beschreibt. Eine solche Wissenschaft laufe Gefahr, zum blinden Instrument einer rationalisierten Form von Demagogie zu werden.77 Die ist beim Desinformations-Frame gegeben, weil dort die Gründe für die Medien- und Demokratiekrise nicht bei Politikern, Journalisten oder Kommunikationswissenschaftlern verortet werden, sondern bei autoritären Kräften im Internet und bei unwissenden Bürgern. Der Desinformations-Frame gleicht so dem, was der Politikwissenschaftler Philip Manow »Demokratiegefährdungsdiskurs« nennt – ein Diskurs, der »zuletzt so zugenommen« habe und die Demokratie selbst gefährde, weil er kaschiere, dass der Populismus nicht Ursache, sondern Folge der Krise der Demokratie ist.78

Dass Menschen, die nicht über das Machtmittel Bildung verfügen, weniger zufrieden mit den symbolischen Machtmitteln sind (zu denen die Massenmedien zählen), ist nicht nur das regelmäßig wiederkehrende Ergebnis der Meinungsforschung,79 sondern auch ein fast schon selbsterklärender Befund. Doch die Evidenz, »die in die Augen sprang«, war für Bourdieu nur der Ausgangspunkt. Eine Sozialwissenschaft, die unter die Oberfläche offenkundiger Tatbestände gehen wolle, müsse die primäre Wahrheit zertrümmern und an die »wirklichen Ursachen des Leidens« gelangen80 – an die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Feldes und an die persönlichen Beschränkungen der Befragten. An ihre legitimen Ansprüche auf Glück, an die Zwänge des Arbeitsmarktes, an offene Sanktionen, schulische Verdikte oder Klassifikationen.

Aus dieser Forderung leitet Bourdieu die verstehende Methode ab, an der sich auch dieses Buch orientiert. Schritt eins: die Perspektive des Akteurs einnehmen. Schritt zwei: seine Position einnehmen. Damit ein Wissenschaftler die Perspektive eines Akteurs einnehmen kann, muss er manchmal »den Schirm von nicht selten absurden, ja oft widerwärtigen Projektionen durchbrechen«.81 Das methodische Werkzeug heißt in der Formulierung von Spinoza: »Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen.«82

Mit der Position des Akteurs ist das positionsbedingte Leid gemeint, das sich aus seiner Stellung im sozialen Raum ergibt. Dabei geht es um das absolute Gewicht seines ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitals sowie um die Beziehungen zu anderen Akteuren. Mit der verstehenden Methode ist die Hoffnung verbunden, eindimensionale Bilder durch eine komplexe, mehrdimensionale Vorstellung zu ersetzen – zugunsten einer Pluralität der Perspektiven, direkt konkurrierender und auch widersprüchlicher Standpunkte, die in der Gesamtschau eine große Not ergeben.83 Es geht in diesem Buch also nicht darum, das spezifische Elend der Medien zu untersuchen (etwa: sind die Medien glaubwürdig oder wer wird Medienzyniker), sondern um die vielen kleinen Nöte mit den Medien, die mit einer bestimmten Position im sozialen Raum einhergehen: als Ostdeutscher in einer westdeutschen Redaktion, als bayrischer Liedermacher im öffentlichen Kreuzfeuer, als Afrodeutsche ohne Chance, je die Tagessschau zu sprechen, als Mensch, den manche als Wutbürger bezeichnen würden, oder als westdeutscher Großbürger, der jede illusio in Sachen Medien verloren hat.

Um diese Menschen im sozialen Raum verorten zu können, sollen zunächst die ökonomischen und sozialen Bedingungen des journalistischen Feldes in Deutschland skizziert werden. Dazu nutze ich zwei weitere Frames, mit denen die Kommunikationswissenschaft das »Elend der Medien« erklärt, sowie Bourdieus Blick auf diesen Gegenstand (vgl. Tab. 1) – »counter frames« oder heterodoxe und häretische Sichtweisen.

Das Elend der Medien

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