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Kapitel 1

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Michael H. Schenk

Die Pferdelords 6

- Die Paladine der toten Stadt -

Fantasy-Roman

© Überarbeitete Neuauflage Michael Schenk 2020

Vorwort

Die Leserschaft der Serie „Die Pferdelords“ wird im ersten Roman eine große Nähe zu den Verfilmungen von „Der-Herr-der-Ringe“ feststellen. Dies war eine Bedingung des damaligen Verlages, meine auf zwölf Bände festgelegte Reihe überhaupt zu veröffentlichen, da man sich dadurch einen größeren Umsatz versprach. Ich stand also vor der Wahl, nicht veröffentlicht zu werden oder mich dieser Forderung zu stellen. Ich entschied mich für meine „Pferdelords“ und nahm einen raschen Genozid an ihren ursprünglich gedachten Feinden, den Walven, vor, um diese durch die Orks zu ersetzen. Man möge mir diesen Eigennutz verzeihen, doch damals war dies der einzige Weg, meine Pferdelords in den Sattel zu heben.

Die Pferdelords bieten detailreiche und spannende Abenteuer, in der die Völker mit ihrer jeweils eigenen Geschichte und Kultur zum Leben erweckt werden. Wem die tatsächlichen oder scheinbaren Wiederholungen von Beschreibungen in den Bänden auffallen, der wird feststellen, dass sie die Entwicklung der Völker und ihrer Siedlungen aufgreifen, denn bei den insgesamt zwölf Bänden handelt es sich um eine Chronologie. Im Lauf der Zeit entsteht aus dem Tauschhandel eine Währung, aus dem schlichten Signalfeuer ein kompliziertes optisches Instrument, man entdeckt das Schießpulver und die Dampfmaschine sowie schließlich sogar das Luftschiff. Man begleitet den Knaben Nedeam, der schon bald als Schwertmann und Reiter und schließlich sogar als Pferdefürst an der Seite seiner Freunde steht. Man begleitet den ehrenhaften Orkkrieger Fangschlag und auch dessen hinterlistigen Gegenspieler Einohr.

Meine Leser begegnen alten und neuen Völkern, doch selbst jenen, die man zu kennen glaubt, gewinne ich manche neue Seite ab.

Es erwartet Sie also eine spannende Saga um mein Pferdevolk und ihre Freunde und Feinde.

Die Pferdelords-Reihe:

Pferdelords 01 – Der Sturm der Orks

Pferdelords 02 – Die Kristallstadt der Zwerge

Pferdelords 03 – Die Barbaren des Dünenlandes

Pferdelords 04 – Das verborgene Haus der Elfen

Pferdelords 05 – Die Korsaren von Um´briel

Pferdelords 06 – Die Paladine der toten Stadt

Pferdelords 07 – Das vergangene Reich von Jalanne

Pferdelords 08 – Das Volk der Lederschwingen

Pferdelords 09 – Die Nachtläufer des Todes

Pferdelords 10 – Die Bruderschaft des Kreuzes

Pferdelords 11 – Die Schmieden von Rumak

Pferdelords 12 – Der Ritt zu den goldenen Wolken

Mein Dank gilt dem Verlag WELTBILD, der es mir ermöglichte, die von ihm lektorierten Manuskripte für die weiteren Veröffentlichungen als e-Book zu verwenden und so dazu beitrug, dass diese Serie weiterhin im Handel erhältlich ist.

Die vorliegende Neuauflage der e-Books wurde von mir überarbeitet, ohne deren Inhalte zu verändern. Begriffe wurden vereinheitlicht und die Romane durch überarbeitete oder zusätzliche Karten ergänzt.

Viel Lesevergnügen wünscht Ihnen

Michael H. Schenk

Hinweis:

Kapitel 58: Karte der Völker, der Pferdelords-Reihe

Kapitel 59: Detailkarte "Die nördliche Öde Rushaan"

Kapitel 60: Personenregister

Kapitel 61: Einige Maße und Definitionen

Kapitel 62: Vorschau auf "Die Pferdelords 7 – Das vergangene Reich von Jalanne"







Die Männer bewegten sich vorsichtig.


Sie waren es gewöhnt, über losen Felsgrund zu steigen. Ihre Füße tasteten

sich vorwärts, behutsam wie scheue Wesen, und wenn sie Halt gefunden

hatten, verlagerten die Männer ihr Körpergewicht, ohne dabei ihre

Aufmerksamkeit von der Umgebung zu wenden. Viele Geschichten erzählten

von dem Reich Rushaan, und keine von ihnen war angenehm. Es war ein

Land, das fremd und unheimlich war. Nicht umsonst nannte man es die Öde,

denn hier gab es nur wenig Leben. Selbst die Pflanzen schienen davor

zurückzuschrecken, sich in dem trostlosen Landstrich auszubreiten.


Die Öde war abweisend und verlockte nicht zum Verweilen, aber die Not

hatte die vier Männer hierher getrieben. Elmoruk führte den kleinen Jagdtrupp

der Zwerge, und seine Hand lag um den Griff der Bolzenschleuder. Er und

seine Begleiter stammten aus der gelben Kristallstadt Nal’t’hanas. Wie alle

Städte des Zwergenvolkes hatte sie einst tief verborgen in einer riesigen

Höhle gelegen, überwölbt von den Felsmassen des Gebirges und geschützt

von einer Kuppel aus Platten gelben Kristalls. Ihre Bewohner waren ungestört

ihrer Arbeit nachgegangen und hatten ein gutes Leben geführt. Sie hatten

nach Erzen, Mineralien und Kristallen geschürft, hatten sich um ihre Nahrung

gesorgt und ihren Nachwuchs, die Hüpflinge, aufgezogen.


Es gab nicht viel, wovor sich ein Axtschläger des Zwergenvolkes

fürchtete. Da waren zum einen die Feuerbestien aus den Abgründen der Welt

und zum anderen die Gefahr, dass ihnen der Felsenhimmel ihres Reiches auf

den Kopf stürzen könnte. Und eben dies war vor etlichen Jahren in

Nal’t’hanas geschehen.


Ein Beben hatte einen Teil des steinernen Doms zum Einsturz gebracht.

Dabei hatten gewaltige Felsbrocken die Kuppel zerstört und viele der

Bewohner erschlagen. Männer, Frauen und Hüpflinge waren getötet worden.

Viel zu viele kostbare Leben waren vergangen, und Trauer hatte in

Nal’t’hanas geherrscht. Mühsam hatten die Zwerge die Opfer geborgen und in

Ehren bestattet, so, wie es ihre Tradition verlangte.


Dann hatten sich die Zwerge, in ihrer typischen Zähigkeit, an den

Wiederaufbau gemacht. Inzwischen war eine lange Zeit verstrichen, aber

Nal’t’hanas hatte sich noch immer nicht ganz von dem Schicksalsschlag

erholt. Aus dem Felsendom war ein großes Tal geworden, an dessen einem

Ende nun die Stadtkuppel lag, nur noch halb verdeckt vom schützenden

Gestein; eine Veränderung, die sich stark auf das Leben der Zwerge

ausgewirkt hatte.


Der Einsturz des Doms hatte viele der Pilzbeete verschüttet, die sich auf

den Dächern der Zwergenhäuser befanden und die Nahrungsgrundlage des

Volkes lieferten. Die restlichen Beete waren ungeschützt der Witterung

ausgesetzt gewesen und zum großen Teil eingegangen. Zwar hatten die

Zwerge sofort begonnen, die Kristallkuppel zu reparieren, aber es war

aufwendig, die zerstörten Platten zu ersetzen. Doch schließlich hatte man es

geschafft; die gelbe Kristallstadt war wieder von ihrer Kuppel umgeben,

sodass der Regen die Dachbeete nicht mehr überfluten konnte und die

Eigenwärme der Stadt verhinderte, dass die Pilze weiter unter dem Schnee

und Eis des Winters litten. Allerdings blieb der östliche Teil der Stadt dem

Sonnenlicht ausgesetzt, was zu empfindlichen Einbußen bei der Pilzernte

führte. Daher waren die Bewohner der Stadt bestrebt, sich zusätzliche

Nahrungsquellen zu erschließen. Denn nur eine ausreichende Ernährung

konnte zusammen mit der Vermehrungsfreudigkeit des kleinen Volkes dafür

sorgen, dass Nal’t’hanas seine einstige Stärke zurückerlangte.


Natürlich hatten die kleinen Männer versucht, Hilfe aus den anderen

Kristallstädten zu erhalten, denn auch wenn man einander nur selten besuchte,

so war die Verbundenheit unter den Zwergenvölkern doch groß. Zwei Trupps

hatten die Zwerge der Stadt ausgeschickt, um Kontakt aufzunehmen, aber

keiner von ihnen war zurückgekehrt. Vielleicht waren die Männer einem

Unfall zum Opfer gefallen oder von einem Feind getötet worden.


Denn über der Erde herrschte Gewalt, seitdem die Häuser der Menschen

und Elfen im Krieg gegen die Orks des Schwarzen Lords der Finsternis

standen. Ein Krieg, von dem auch die Kristallstädte des kleinen Volkes nicht

verschont bleiben würden, wenn der Feind sie entdeckte.


Weitere Männer auszusenden, erschien dem König der Stadt daher als zu

riskant; zu leicht hätte ein Trupp ungewollt einen Gegner heranführen

können. Die Zwerge waren vorsichtig und betrachteten jeden als Feind, der

nicht ihrem Volk angehörte, etwa die Elfen, deren Land an das Gebiet der

gelben Stadt grenzte. Diese Wesen waren hochmütig und kümmerten sich

kaum um die Belange der Sterblichen. Es war besser, ihnen aus dem Weg zu

gehen, und so hielten sich die Zwerge gut verborgen, wenn ein Trupp der

Elfen durch die Berge marschierte.


Bislang war Nal’t’hanas unentdeckt geblieben, aber die Gefahr wurde

immer größer, denn um ihr Volk zu ernähren, mussten sich die Jagdtrupps

immer weiter von der Stadt entfernen.


Seit drei Jahreswenden versuchten die Zwerge nun Felsböcke zu fangen

und in ihr verborgenes Tal zu bringen. Die Tiere mochten die saftigen

Dornsträucher, die dort wuchsen, und die Zwerge mochten das saftige Fleisch

der Böcke; was lag also näher, als sie vor Ort zu züchten? Ein paar hatten sie

bereits gefangen, aber das reichte nicht aus, um die Herde schnell zu

vergrößern.


So war Elmoruks Trupp ausgerückt, um weitere Felsböcke in die Stadt zu

holen.


Die Jagd hatte sich gut angelassen.


In der Nähe fanden sie die Spuren eines kleinen Rudels, denen sie folgten.

Mehrmals waren sie nahe genug an die Tiere herangekommen, um sie sehen

zu können. Ein kapitaler Bock mit drei beeindruckenden Hörnern auf der

Stirn, dazu drei Kühe und zwei Jungtiere. Ein guter Fang, wenn sie die alle

ins Tal bringen konnten.


Aber leicht machte es ihnen das Rudel nicht.


Die vier Zwerge waren nun schon viele Tageswenden auf der Spur der

Felsböcke. Schon mehrmals hätten sie Gelegenheit gehabt, die Tiere zu

erlegen. Aber sie wollten sie lebend fangen, und das war bedeutend

schwieriger.


Schon vor zwei Tageswenden hatten sie die Ausläufer des Gebirges

verlassen und unwirtliches Gebiet betreten, die Öde von Rushaan. Aber nun,

da sie so dicht vor ihrem Ziel standen, wollte Elmoruk die Jagd nicht

abbrechen. Die Männer bewegten sich wie Schemen durchs Gelände und

nutzten die Deckung der Felsen, während sie den Spuren des Felsbockrudels

folgten und sich ihm immer weiter annäherten. Elmoruk und Parnuk gingen in

der Mitte, die beiden anderen Zwerge in einigem Abstand an den Flanken.

Diese Männer waren, ebenso wie Elmoruk, erfahrene Axtschläger und sollten

die beiden Jäger vor Gefahren schützen, besonders Parnuk, der als Einziger

von ihnen kein Kämpfer, sondern einfacher Schürfer war. Wenn der kapitale

Rudelführer die Zwerge witterte und keinen Ausweg sah, würde er angreifen.

Ein Felsbock konnte mit seinen drei ausladenden Stirnhörnern tödliche

Wunden schlagen, und bevor dies geschah, würde man ihn selbst töten

müssen.


Elmoruk hob eine Hand, und die anderen erstarrten. Wieder einmal spähte

der erfahrene Axtschläger und Jäger über einen der Felsen und sah erleichtert

das Rudel vor sich. Kaum eine Dutzendlänge entfernt standen die Tiere an

einem kleinen Wasserloch und tranken. Der Bock hob immer wieder witternd

den Kopf und sah sich um, aber der Wind stand günstig für die Zwerge.


Keiner der Männer trug ein metallenes Rüstungsteil oder einen Helm.

Nichts sollte klappern oder ihre Anwesenheit durch Lichtreflexe verraten.


Elmoruk nickte Parnuk zu, und lautlos ordneten die beiden Männer die

Fangnetze, um sich auf den entscheidenden Wurf vorzubereiten. Sie hatten

sich zuvor abgesprochen. Der Schürfer würde die nächststehende Kuh

übernehmen und Elmoruk den kapitalen Bock. Wenn es gelang, sie mit den

Netzen zu fangen, würden die beiden Jungtiere einfach stehen bleiben, denn

der Instinkt würde sie bei den Muttertieren halten. Die beiden anderen Kühe

würden zu fliehen versuchen, aber in ihren Eutern war keine Milch, und die

Jungen würden sich ihnen nicht anschließen.


Die Maschen und Gewichte des Netzes glitten durch Elmoruks prüfende

Finger, und er nickte Parnuk zu. Als dieser die Geste erwiderte, richteten sich

die beiden Männer hinter dem Felsen auf und warfen ihre Fangnetze

blitzschnell auf ihre Beute.


Der Bock bemerkte die Bewegung und wandte sich ihr instinktiv zu,

während er den Schädel senkte und die Hörner der möglichen Gefahr

entgegenstellte. Wäre er zur Seite gesprungen, dann hätte ihn das Netz nicht

getroffen, aber Elmoruk hatte damit gerechnet, dass der Bock sein Rudel

verteidigen wollte.


Die Maschen glitten über die Spitzen der drei Hörner hinweg, und das Netz

legte sich über Schädel und Rücken des Bocks, während die Gewichte es

zusammenzogen. Als das Tier die Berührung spürte, richtete es sich auf und

versuchte zu entkommen, aber es war zu spät. Mit einem wütenden Blöken

verlor es den Halt und stürzte zur Seite um. Der von Parnuk ausgewählten

Kuh erging es nicht besser. Während die beiden gefangenen Felsböcke zu

Boden gingen, stürmten die beiden anderen Kühe blindlings los. Zwei

Pfeilbolzen zischten durch die Luft, und die Tiere überschlugen sich und

blieben liegen.


»Packt sie«, schrie Elmoruk und warf sich nach vorne.


Sie brauchten nicht mehr vorsichtig zu sein, nun kam es auf Schnelligkeit

an, damit der Anfangserfolg nicht zunichtegemacht wurde.


Der Bock blökte erneut und versuchte erfolglos, wieder auf die Beine zu

kommen. Dann sah er Elmoruk, wandte ihm den Schädel zu und stieß nach

ihm. Doch der Zwerg wich aus, sprang an den Rücken des Tieres und fesselte

die Beute gekonnt. Parnuk hingegen erhielt einen schmerzhaften Tritt von der

Kuh und schrie wütend auf. Das Tier richtete sich halb auf, aber der

Getroffene drückte es wieder nach unten. »Verdammt, packt mal mit an. Das

Vieh wehrt sich wie verrückt.«


»Sie will ihre Jungen schützen«, erwiderte einer der Axtschläger.


Gemeinsam fesselten sie das Tier. Der vierte Mann stand vor den beiden

verängstigten Jungtieren, die keinen Versuch machten, zu entkommen. Im

Gegenteil drängten sie der gefesselten Mutter entgegen, denn ihre Instinkte

waren noch darauf ausgelegt, Schutz und Nahrung bei ihr zu finden.


»Ein guter Fang«, knurrte Elmoruk und richtete sich ächzend auf.


»Ein verdammt guter Fang«, bestätigte Axtschläger Maratuk auflachend.

»Ein starker Bock, der die Kühe ordentlich bespringen wird, und dazu ein

Muttertier mit zwei Jungen, die rasch heranwachsen werden. Ah, ein wahrhaft

guter Fang.«


»Die Jungen sind groß genug und werden ins Tal laufen können.« Parnuk

rieb sich das getroffene Bein und sah zu den beiden erlegten Kühen hinüber.

»Das ist gut. Dann brauchen wir sie nicht den ganzen Weg zu tragen und

können das Fleisch der beiden Kühe mitnehmen.«


»Ja, nehmen wir sie aus. Es hat wenig Sinn, das ungenießbare Zeug

mitzuschleppen. Schneiden wir also nur die guten Stücke heraus.« Elmoruk

legte seine Bartzöpfe in den Nacken und verknotete sie, damit sie bei der nun

folgenden Arbeit nicht beschmutzt würden, und zückte sein scharfes Messer.


Während die Bauchdecken der erlegten Kühe geöffnet wurden, füllte

Maratuk die Wasserflaschen des Trupps auf. Dann bezog er Posten an einem

der Felsen und hielt Ausschau nach Gefahr. Unterdessen machten sich die

anderen daran, die beiden toten Kühe auszunehmen.


»Reibt das Fleisch gut mit Salz ein«, meinte Elmoruk. »Wir haben einen

weiten Weg vor uns, und es soll nicht verderben.« Er deutete mit der blutigen

Klinge auf Parnuk. »Nimm eines der Felle und schabe es sorgfältig aus, damit

es sauber ist und wir die besten Stücke darin tragen können.«


»Ich bin zwar zum ersten Mal auf der Jagd, aber ich weiß sehr wohl, was

zu tun ist«, erwiderte der Schürfer errötend.


»Dein Netzwurf war gut«, lobte Elmoruk. »Sei also nicht gleich beleidigt.«


Der andere Axtschläger zog soeben Darm und Eingeweide aus dem Bauch

der zweiten Kuh, trennte beides ab und warf es zur Seite. Überall stank es

nach Blut und dem Darminhalt, den die Tiere im Tode von sich gegeben

hatten. »Trotzdem hat er sich einen kräftigen Tritt eingefangen.« Er sah

Parnuk forschend an. »Wirst du bis nach Hause durchhalten?«


»Ich denke, schon.«


»Lass mich mal sehen.« Elmoruk machte eine auffordernde Geste, dann

steckte er das Messer in den Boden und sah zu, wie Parnuk sein Hosenbein

nach oben zog. »Nichts gebrochen. Aber du wirst ein bunt geschecktes Bein

und Schmerzen bekommen.« Er musterte Parnuk ernst. »Wenn es nicht mehr

geht, dann melde dich.«


»Es wird gehen.«


»Wir sollten uns beeilen.« Der Wächter kratzte sich am Bart. »Da hinten

kommt Nebel auf, und das gefällt mir nicht.«


»Nebel? Jetzt schon?« Elmoruk erhob sich ächzend und trat zu dem

Posten. »Es sind noch mehrere Zehnteltage bis zum Einbruch der Dunkelheit.

Vor dem Morgen wird es keinen Nebel geben, denn die Luft ist klar und

trocken.«


»Sieh selbst.« Der Axtschläger wies nach Norden.


Elmoruk beschattete seine Augen. »Du hast recht. Das sieht nach Nebel

aus.«


Nördlich von ihnen erstreckte sich ein ausgedehntes Geröllfeld, dessen

Felsen im Sonnenlicht scharf konturiert wirkten. Doch hin und wieder wurden

die Konturen von einem seltsamen Wallen verdeckt, einem milchig trüben

Nebel, wie er am Morgen den Wechsel vom Tag zur Nacht ankündigte, zu

dieser Zeit aber höchst ungewöhnlich war.


»Das gefällt mir gar nicht«, brummte der Wächter. »Der Nebel wird immer

dichter und breitet sich aus.« Er sah Elmoruk an. »Und er kommt direkt auf

uns zu.«


»Ja, seltsam«, bestätigte der erfahrene Axtschläger. »Aber die nördliche

Öde ist auch ein seltsames Land.«


»Kein Land, in dem ich leben oder sterben möchte.«


»Hm.« Elmoruk sah zu den beiden anderen, welche die Felsböcke

zerlegten. »Beeilt euch. Wir wollen sehen, dass wir bald wieder in den Schutz

der Berge kommen.«


Parnuk nickte erleichtert. »Einen halben Zehnteltag noch. Wir müssen das

Fleisch etwas abhängen lassen, damit das Blut heruntertrieft und wir die

Stücke salzen können, sonst verderben sie.«


Elmoruk biss sich auf die Unterlippe und sah den Wächter an. »Hilf ihnen.

Ich werde das da selber im Auge behalten.«


»Meine Augen sind gut.«


»Ich weiß.« Elmoruk legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Aber

beim Salzen hast du die flinkeren Finger.«


Der Axtschläger lachte auf und nickte, dann warf er nochmals einen Blick

zum Geröllfeld hinüber. »Da geht etwas vor sich, Elmoruk. Achte gut

darauf.«


Der Zwerg verzichtete auf eine Erwiderung. Während seine Gefährten sich

beeilten, die eingefangenen Tiere und das erbeutete Fleisch für den Transport

vorzubereiten, lehnte er am Felsen und spähte misstrauisch zu dem fernen

Nebel hinüber. Immer wieder sah er auch in die anderen Richtungen, aber

seine Aufmerksamkeit galt der ungewöhnlichen Erscheinung. Das Wabern

und Wallen machte es schwer festzustellen, wohin die Nebelfront sich

bewegte. Also konzentrierte sich der erfahrene Kämpfer auf einen der Felsen

und konnte nun erkennen, dass der Stein immer undeutlicher wurde. Ja, der

Nebel kam näher. Wenn es denn Nebel war.


Es sah aus, als verdampfe dort sehr viel Wasser, doch anstatt nach oben zu

steigen, hielt sich der Dunst in Bodennähe und wurde immer dichter, während

er langsam auf Elmoruk zufloss. An den undurchdringlichsten Stellen des

Nebels bemerkte der Zwerg gelegentlich ein Aufblitzen, als tobe dort ein

winziges Gewitter. Aber eigentlich war es gar kein richtiges Blitzen, sondern

ein sanftes Glühen, das sich ausbreitete wie die Wellen auf der Oberfläche

eines Sees, nachdem man einen Stein hineingeworfen hatte, und das dann

ebenso wie diese Wellen verebbte.


Nein, der Anblick erfüllte Elmoruk mit immer größerem Unbehagen.


»Wie weit seid ihr?«, rief er den Gefährten zu.


»Fast fertig«, erwiderte Maratuk. »Was macht der verdammte Nebel?«


»Er kommt näher.«


Maratuk nickte. »Dann sollten wir verschwinden.«


Elmoruk bückte sich, hob etwas Sand vom Boden und säuberte sich die

Hände, während er abermals zu dem Nebel hinübersah. Er war noch dichter

geworden und schien nun auch dunkler zu sein. Der Axtschläger verengte die

Augen, als er feste Konturen innerhalb des Wallens zu erkennen glaubte.

Täuschten ihn die Sinne?


Inmitten des Nebels meinte er zwei menschliche Gestalten auszumachen.

Für einen Augenblick schien das Metall von Rüstungen zu funkeln, aber dann

verdichtete sich der Dunst erneut und verschlang alles. Der Zwerg

konzentrierte sich auf die Stelle, an der er das Phänomen gesehen hatte. Doch

es war nichts mehr zu erkennen. Nur der Nebel, der sich mit einem Mal

schneller zu bewegen schien.


Elmoruk hatte nichts gegen einen Kampf einzuwenden, bei dem man

einem sichtbaren Feind gegenüberstand, bei dem man wusste, dass die Klinge

der eigenen Axt auf Stahl und Fleisch des Gegenübers treffen würde. Aber

dieses Wallen und Glühen war ihm unheimlich. Was immer sich in dem

Nebel verbarg, es war ihm und den anderen feindlich gesinnt, und Elmoruk

hatte das unangenehme Gefühl, dass ihm der gute Stahl seiner Axt hier wenig

nützen würde.


Ein wenig blass geworden, wandte er sich endgültig ab und hastete zu den

Gefährten. »Beeilt euch, wir müssen los!«


Sie hoben den gefesselten Bock und die geschnürte Kuh auf die Schultern

Parnuks und des anderen Axtschlägers, und Maratuk nahm das schwere Fell

mit den frischen Fleischvorräten. Als alles bereit war, seufzte Elmoruk

erleichtert und blickte sich um.


Zwischen den Felsen am Wasserloch sah es nach einer wilden Schlächterei

aus. Blut befleckte den Boden, und die unbrauchbaren Überreste der toten

Felsbockkühe lagen achtlos zwischen den Steinen verstreut. Unter anderen

Umständen hätten die Zwerge die Spuren sorgfältig beseitigt, aber keinen von

ihnen verlangte es danach, länger als nötig an diesem Ort zu verweilen.


Parnuk hatte es besonders eilig, wieder ins Gebirge zu kommen,

wenngleich sein Bein verletzt war und er so das Tempo des kleinen Trupps

bestimmte. Er merkte kaum, dass Elmoruk immer wieder einen Blick

zurückwarf. Aber niemand folgte ihnen, und nachdem ein Zehnteltag

verstrichen war, ohne dass ein unheilvoller Nebel oder fremde Gestalten sich

auf sie stürzten, war der Truppführer erleichtert. Schließlich ließ er eine Rast

einlegen, obwohl sie die Öde noch nicht hinter sich hatten. Aber der Rand des

Gebirges Noren-Brak war nun nahe, und inmitten einer Felsengruppe fühlten

sie sich einigermaßen sicher.


Sie hatten den ausgewachsenen Felsböcken die Mäuler zugebunden, damit

ihr Blöken die Gruppe nicht verriet. Die beiden Jungen waren folgsam auf

ihren dürren Beinen mitgelaufen und wirkten nun erschöpft. Sie störten sich

nicht an den Fesseln des Muttertieres, sondern stürzten sich sofort auf dessen

Zitzen, als Maratuk es auf den Boden legte.


»Wir müssen den Älteren die Fesseln lösen«, brummte Elmoruk, »damit

auch sie etwas saufen und fressen können.«


Parnuk nickte und sah auf die beiden jungen Felsböcke, die gierig saugten.

»Wir sollten uns ebenfalls etwas zubereiten. Es wird sowieso bald dunkel.

Am besten lagern wir im Schutz dieser Felsen und braten uns etwas Fleisch.«

Er leckte sich über die Lippen. »Ich habe schon lange kein geröstetes

Felsbockfleisch mehr gegessen.«


Der Gedanke war sicherlich verlockend. Elmoruk strich sich über die

Enden seiner langen Bartzöpfe. Eine der gelben Schnüre, mit denen sie

gebunden waren, hatte sich ein wenig gelockert, und der Truppführer ließ sich

ächzend nieder und löste den Knoten. »Die Felsen bieten uns Schutz. Ich

denke, du hast recht. Mit der Beute schaffen wir es vor Einbruch der Nacht

nicht mehr ins Gebirge. Also schön, richten wir uns hier für die Nacht ein.«

Er sah die anderen eindringlich an. »Aber kein Feuer.«


»Keinen Braten?«, brummte Parnuk enttäuscht. »Bei den feurigen

Abgründen von Irghil, wozu die ganze Plackerei, wenn wir uns nicht einmal

einen herzhaften Bissen gönnen dürfen?«


»Wir sind noch immer in der Öde«, entgegnete Maratuk an Elmoruks

Stelle. »Fremdes Land, Parnuk. Feindliches Land.«


»Es ist vor allem totes Land«, versetzte Parnuk störrisch. »Ich kann hier

keine Gefahr entdecken.«


»Dein Hunger ist größer als dein Verstand«, zischte der andere

Axtschläger. »Als wir die Öde betraten, konntest du es kaum erwarten, sie

wieder zu verlassen. Und jetzt willst du hier ein gemütliches Feuer machen,

damit man uns auf große Entfernung sehen kann. Verdammter Schürfer.«


»Was soll das heißen?« Erbost wandte sich Parnuk dem Axtschläger zu.

»Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass wir nun das Fleisch haben. Du

hast kein Recht, mich zu beleidigen.«


»Ruhe!« Elmoruk ließ das Zopfende sinken, das er gerade neu flocht, und

hob den Kopf. »Seid still, ich höre etwas!«


Die anderen schwiegen und lauschten. Parnuk nickte zögernd. »Ich auch.

Steine, die sich bewegen.«


Elmoruk deutete auf die jungen Böcke. »Haltet ihnen die Mäuler zu. Da

marschiert jemand durch die Öde, und ich will nicht, dass er uns bemerkt.«


Begleitet von Maratuk, schob sich Elmoruk in die Deckung einiger

größerer Felsen und spähte in die Richtung, aus der die schwachen Geräusche

erklangen. Ab und zu war das leise Klicken und Poltern eines rollenden

Steines zu hören.


»Wer immer das auch ist«, hauchte Maratuk, »er bewegt sich leise.«


Der Boden war dicht mit Geröll bedeckt, und so ließen sich Geräusche

nicht ganz vermeiden. Ein Glück für die Zwerge, die sonst die

Herannahenden wohl nicht bemerkt hätten.


Elmoruk legte die Hand auf die Schulter des anderen Axtschlägers und

deutete nach rechts. Dort erschienen undeutlich Gestalten, die langsam näher

kamen. »Elfen«, flüsterte der erfahrene Kämpfer. »Wenigstens eine

Hundertschaft.«


Auf die Entfernung konnte man weder ihre Gesichter noch die spitzen

Ohren erkennen, aber ihre Gestalt machte sie unverwechselbar: schlanke,

hochgewachsene Männer mit den hellblauen Umhängen ihres Volkes. Sie

trugen die typischen hohen Helme mit dem Nackenschutz und dem

aufragenden Symbol ihres Hauses an der Stirn. Die Zwerge konnten das

Zeichen nicht erkennen, aber es mussten Elfen von einem der Häuser des

Waldes sein, denn die Muster auf Kleidung und Helmen waren eindeutig.

Über den Schultern ragten die langen Bogen empor, und an den Hüften

hingen Pfeilköcher und Schwerter. Viele der Elfen trugen zudem schwere

Lasten mit sich.


»Sie marschieren in die Öde hinein«, murmelte Maratuk.


»Nein, nicht in die Öde.« Elmoruk duckte sich tiefer hinter die Felsen.

Elfische Krieger hatten verdammt scharfe Sinne, und er wollte nicht, dass die

Spitzohren ihn und seine Männer bemerkten. Er zog Maratuk nach unten und

bedeutete ihm zu schweigen. »Sie marschieren nach Osten, am Rand des

Gebirges entlang«, flüsterte er. »Wahrscheinlich zum Pass von Rushaan, der

in die Länder der Orks hineinführt.«


»Ob es wieder Krieg gibt?«, fragte Maratuk erschrocken. »Werden die

Legionen des Schwarzen Lords wieder gegen den Bund kämpfen?«


»Ich glaube nicht, dass die Elfen in den Kampf ziehen. Dafür sind es zu

wenige. Gerade mal eine Hundertschaft ihrer Bogen.«


»Ja, du hast recht.«


Die Elfen zogen vorüber, schweigend und nahezu lautlos. Nur gelegentlich

rollte ein Stein unter dem Tritt eines Fußes. Eine schemenhafte Prozession,

die schon bald wieder aus dem Blickfeld der Zwerge verschwunden war.


»Glaubst du wirklich, sie wollen zum Pass von Rushaan?«


Elmoruk nickte entschlossen. »Sie werden nicht in die Öde vordringen.

Niemand dringt dorthin vor.«


Maratuk nickte mit düsterer Miene. »Und wer es tut, kommt nicht mehr

zurück. Die ›Anderen‹, die Wächter, sie dulden es nicht.«


»Die Wächter sind nur ein Gerücht, nicht mehr als ein Aberglaube«,

brummte Elmoruk. Aber seine Stimme verriet Zweifel. Er musste an die

Schemen denken, die er in dem Nebel gesehen hatte.


»Es macht keinen Unterschied, ob die Elfen den ›Anderen‹ oder den Orks

begegnen.« Maratuk richtete sich auf und bedeutete den Begleitern mit einem

Wink, dass die Gefahr vorüber sei. »Sie sind so gut wie tot. Kein lebendes

Wesen wird den Wächtern entkommen. Und um einer Legion der Orks

standzuhalten, sind sie zu wenige.«


»Sollten wir sie nicht warnen?«


»Wozu?« Maratuk zuckte die Schultern. »Die Elfen sind nicht unsere

Freunde. Und sie leben schon lange genug, um zu wissen, was in Rushaan vor

sich geht.«


Parnuk und der andere Axtschläger waren erleichtert und beeilten sich, die

Tiere zu versorgen. Sie erhoben keinen Widerspruch, als Elmoruk entschied,

in die hereinbrechende Nacht zu marschieren. »Je eher wir den Schutz unserer

Berge erreichen, desto besser«, seufzte Parnuk. »In dieser Öde fühle ich mich

nicht wohl.«


Elmoruk sah nachdenklich in die Richtung, in der die Elfen verschwunden

waren. »Es heißt, sie werden das Land bald verlassen.«


Maratuk lachte und schulterte den gefesselten Felsbock. »Wer? Die Elfen?

Das kümmert mich wenig. Kommt, lasst uns lieber zusehen, dass wir das

Fleisch nach Hause schaffen. Ich möchte hier nicht länger bleiben. Das ist ein

Land des Todes.«


Elmoruk nickte. Er glaubte nicht, dass einer der Elfen aus der Öde

zurückkehren würde. Egal, was ihr Ziel war, sie würden nur den Tod finden.


Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt

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