Читать книгу Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt - Michael Schenk - Страница 8
Kapitel 6
Оглавление»Das Vorratshaus?«
Nedeam sah Marnalf fragend an, und der Magier nickte. »Es ist am besten
geeignet.«
»Nun, wie Ihr meint.« Der Erste Schwertmann schritt neben Marnalf durch
eines der Tore der Zwischenmauer in den hinteren Hof der Burg. Rechts lag
die Heilerstube, in der seine Mutter Meowyn die Verletzten und Erkrankten
behandelte, daran schlossen sich, der runden Mauer folgend, Schmiede,
Stallungen und das massige Vorratshaus an, das auf der linken Seite den
Abschluss bildete und an das Haupthaus angebaut war. Das kleine Gebäude
diente nicht nur der Einlagerung von Vorräten, sondern war auch Zugang zu
den Fluchtgewölben, die sich unter der Burg befanden. Die kleine Festung
stand über einem Felsendom, der den Bewohnern der Stadt im Falle eines
Angriffs Schutz bieten konnte, und verteidigte dessen Zugang.
Ein Schwertmann und eine der Küchenmägde waren gerade dabei,
Getreidesäcke zu kontrollieren, die in den Vorraum gestellt worden waren
und eingelagert werden sollten. »Achte darauf, dass alles trocken ist und
keine Schädlinge in den Säcken sind«, mahnte die Frau. »Erst letzte
Jahreswende hatten wie den Nagerjäger hier.«
Auf Marnalfs Wink hin schickte Nedeam die beiden hinaus. »Guter Herr
Marnalf, Euer Verhalten ist mir ein Rätsel. Ihr tut sehr geheimnisvoll«,
gestand Nedeam.
»Es hat alles seinen Grund, Erster Schwertmann.« Marnalf betrachtete die
Regale, in denen die unterschiedlichsten Vorräte lagerten. »Seid so gut und
schließt die Tür. Und legt den Sperrbalken vor, wir wollen nicht gestört
werden.«
Nedeam sah den Grauen forschend an. Marnalf hatte sein Leben
eingesetzt, um den König des Pferdevolkes zu retten, und später hatte er auch
in Merdonan ohne Vorbehalte für die Menschen gekämpft. Es gab keinen
Grund, an seinem guten Wesen zu zweifeln, und doch beschlich den
Pferdelord ein unbehagliches Gefühl. Zögernd legte er den Sperrbalken in die
Halterungen.
»Schön, guter Herr Marnalf, ich habe Euren Wunsch erfüllt. Doch nun
erklärt mir, was dies alles zu bedeuten hat.«
Marnalf zog einen Schinken aus dem Regal, schnupperte daran und seufzte
anerkennend. »Wundervoll. Hervorragend gewürzt. Leiht mir mal Euer
Messer, Hoher Herr Nedeam. Seht es mir nach, aber ich kann diesem Duft
nicht widerstehen.«
Nedeam unterdrückte seinen Unmut, zog das kurze Messer aus dem Gürtel
und reichte es, den Griff voran, Marnalf hinüber. Kaum hatte der es gepackt,
machte er eine schnelle Bewegung mit der Hand, und Nedeam schrie
erschrocken auf und sprang instinktiv zurück. Blut floss aus einem tiefen
Schnitt, den das Graue Wesen ihm über die Handfläche gezogen hatte.
»Verflucht, was soll das?«, zischte Nedeam, und seine unverletzte Hand
legte sich um den Griff seines elfischen Schwertes. »Erklärt Euch, Marnalf!
Seid Ihr verrückt geworden?«
Marnalf sah ihn forschend an. »Ist der Schnitt tief? Blutet er stark?«
»Natürlich ist er tief und blutet«, knurrte Nedeam.
»Wirklich?« Marnalf lächelte sanft, aber in diesem Augenblick konnte
Nedeam darin nichts Beruhigendes sehen. »Zeigt es mir.«
»Wenn Ihr nicht rasch erklärt, was das zu bedeuten hat, dann werde ich
Euch meine Klinge zeigen, Herr Marnalf.«
»Ah, das heiße Blut der Menschen«, seufzte der Zauberer. »Und das der
Pferdemenschen war schon immer leicht zum Kochen zu bringen.« Er
streckte seine Hand aus. »Nun kommt schon, zeigt mir die Wunde.«
Nedeams Misstrauen war geweckt. Marnalf war der Letzte der guten
Grauen, alle anderen waren verschwunden oder an die Seite des Schwarzen
Lords getreten. War nun auch Marnalf den Mächten der Finsternis verfallen?
»Ich werde jetzt diese Tür öffnen, Marnalf. Ihr werdet Euch mir erklären, und
zwar im Beisein der anderen.«
Marnalf lächelte gelangweilt. »Meint Ihr denn, die anderen könnten Euch
schützen?«
Der Schlag, der nun folgte, traf Nedeam nicht ganz unvorbereitet. Das
Verhalten des Zauberers hatte ihn alarmiert, und er hatte auf ein Anzeichen
gewartet, dass Marnalf sich gegen ihn wenden würde. Aber die Fähigkeiten
des Zauberers waren größer als die Nedeams. Der Erste Schwertmann bekam
seine elfische Klinge nicht mehr frei; er wurde herumgewirbelt und von einer
unbarmherzigen Gewalt mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür
geschmettert. Der wuchtige Aufprall nahm ihm für einen Moment den Atem,
und er fühlte, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Eine unsichtbare
Macht hielt den hilflosen Nedeam an der Wand. Er kannte diese Macht; es
war der Wuchtzauber der Grauen Wesen, mit dem sie Gegenstände bewegen
und sogar zerschmettern konnten.
»Nun, wie fühlt es sich an, Nedeam, Pferdemensch?« Marnalf hielt den
Ersten Schwertmann fest im Blick, während er ungerührt einen Streifen von
dem Schinken schnitt und in seinen Mund führte. »Keine Sorge, noch sind
alle Eure Knochen heil. Übrigens ist dies ein ganz hervorragender Schinken.
Es gibt wahrlich Dinge, die ich an Euch Menschen bewundere. Diese
Würzmischung ist einzigartig.«
»Verfluchte Bestie«, keuchte Nedeam. »Wann seid Ihr dem Wahnsinn
verfallen? Wer hat Euch in ein solches Monster verwandelt?«
Marnalf lächelte sanft. »Ihr täuscht Euch sehr.« Er machte eine
unmerkliche Bewegung mit der freien Hand, und Nedeam spürte, wie die
Kraft, die auf ihn wirkte, stärker wurde. Der Druck auf seine Brust begann
ihm die Luft abzuschnüren. Marnalf legte den Kopf schief und drehte sich ein
wenig vor Nedeam, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Nun, was ist,
Nedeam, Pferdemensch? Wie sehe ich aus?«
»Ihr habt einen guten Schneider«, ächzte der Erste Schwertmann.
»Wahrhaftig, den habe ich.« Marnalf lachte leise. »Ihr scheint stark zu
sein, wenn Ihr noch immer scherzen könnt.«
Erneut verstärkte sich der Druck. Nedeam spannte seine Muskeln an und
versuchte, sich der Kraft zu entziehen, aber es war sinnlos. Solange das Graue
Wesen ihn sehen konnte, vermochte es seine Zauberkraft auch gegen ihn
einzusetzen. Das war die einzige offensichtliche Schwäche dieser
geheimnisvollen Kreaturen: Wenn sie das Ziel ihrer Magie nicht mit den
Augen fixieren konnten, waren sie machtlos.
Nedeam spürte das Hämmern seines Pulses. Er versuchte zu schreien, aber
er konnte bloß ein leises Krächzen ausstoßen. Nur seine Augen vermochte er
frei zu bewegen, und so huschte sein Blick umher, um einen Weg zu finden,
den verräterischen Grauen zu bezwingen. Es brannte nur eine einzelne
Brennsteinlampe im Vorraum des Magazins. Der Brennstein war sorgsam von
einem Schirm aus Klarstein abgedeckt, denn bei der Lagerung von Getreide
und anderen Gütern konnten staubfeine Partikel aufwirbeln und sich an einer
offenen Flamme entzünden. Der Brennstein war frisch aufgefüllt, und es
bestand keine Aussicht, dass die Lampe so bald erlosch. Dunkelheit würde
Nedeam dem Blick Marnalfs entziehen und ihm die Chance geben, sich zu
wehren. Aber hier würde sie nicht zu seinem Verbündeten werden.
Marnalf lehnte sich mit gelangweiltem Gesicht an eines der Regale.
»Warum wehrt Ihr Euch nicht, Nedeam? Seid Ihr zu feige?«
Der Druck wurde noch stärker und begann Nedeam die Sinne zu rauben.
Dann trat Marnalf näher. Sein Gesicht blickte drohend und schien ins
Bösartige verzerrt. »Niemand wird erfahren, wie Ihr gestorben seid, Nedeam,
Pferdemensch. Euer Herz hat versagt, so etwas kommt vor.« Marnalf lachte
kalt. »Niemand wird mich verdächtigen, denn ich bin ein Freund der
Menschen. Sicherlich wird man sehr um Euch trauern.« Marnalf leckte sich
über die Lippen. »Und da gibt es ein elfisches Wesen, das sich besonders
grämen wird. Nun, sie ist sehr ansehnlich, die Elfin Llarana, findet Ihr nicht?
Vielleicht sollte ich meine besonderen Fähigkeiten einsetzen, um mich mit ihr
zu paaren?«
Voller Zorn versuchte Nedeam zu schreien, aber es wurde nur ein leises
Krächzen daraus. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Magie des Grauen
Wesens und glaubte tatsächlich zu spüren, wie die Macht schwächer wurde,
die gegen seinen Körper drückte.
Dann nickte Marnalf und trat zurück. »Nun weiß ich, was ich erfahren
musste.«
Unvermittelt erlosch die Macht, die Nedeam festhielt. Er hatte nicht einmal
die Kraft zu schreien, als er vornüberstürzte und schwer auf dem Boden
aufprallte. Es wäre Marnalf leichtgefallen, ihn zu töten, warum hatte der
Graue von seinem Vorhaben abgesehen?
Nedeam gelang es, sich auf die Seite zu wälzen, und starrte das Graue
Wesen hasserfüllt an. »Bringt es zu Ende, Marnalf«, keuchte er. »Denn wenn
ich erst wieder zu Kräften komme, werde ich nicht zögern, Euch zu
erschlagen.«
»Gesprochen wie ein wahrer Pferdelord.« Die Bösartigkeit in den Zügen
des Grauen Wesens war einem gütigen Lächeln gewichen. »Und glaubt mir,
Nedeam, ich hatte nicht vor, Euch ein Leid zuzufügen.«
Nedeam konnte sich nun auf die Knie aufrichten. Er schätzte die
Entfernung zu Marnalf ab und die Kraft, die er zum Sprung benötigte.
Doch der Graue schien seine Gedanken zu erraten. »Lasst es sein, Nedeam.
Es gibt keinen Grund zur Feindschaft. Ich habe Euch nur einer Prüfung
unterzogen.«
»Einer … Prüfung?« Er atmete einige Male tief durch und lockerte die
verkrampften Muskeln, bevor er sie für einen Sprung erneut anspannte.
»Der Ehrenwerte Jalan-olud-Deshay und seine Tochter Llarana haben sie
sich gemeinsam mit mir ausgedacht. Sie sind in Sorge um Euch.«
Nedeam wich dem Blick des Wesens aus, denn auch die Augen konnten
dem Gegner verraten, was man beabsichtigte. Er kniete auf einem Bein,
jederzeit bereit hochzuschnellen. Es gab nur eine Chance, er musste sein
Schwert mit einer einzigen Bewegung ziehen, es nach vorne schwingen und
dabei den Hals der Bestie durchtrennen.
»Eure Aura ist rot, mein Freund«, sagte Marnalf leise. »Glaubt mir, ich
werde Euch kein Leid zufügen. Begreift Ihr denn nicht, dass ich Euch prüfen
musste?« Das Graue Wesen schüttelte seufzend den Kopf. »Seht auf Eure
Hand. Auf die Wunde, die ich Euch zugefügt habe. Blutet sie noch?«
Nedeam wurde unsicher. Er kannte die Kräfte eines Grauen Wesens.
Marnalf hätte keine Mühe gehabt, ihn zu töten, stattdessen versuchte er, ihn
zu beschwichtigen. Was steckte dahinter?
»Es ist nur ein kleiner Schnitt«, erwiderte Nedeam, ohne auf seine Wunde
zu achten. Schließlich musste er vorbereitet sein, wenn Marnalf ihn erneut
angriff. Aber der Pferdelord spürte, dass es dazu nicht kommen würde.
»Ein winziger Schnitt. Und er wird sehr schnell heilen. Ungewöhnlich
schnell«, fügte Marnalf eindringlich hinzu. »Wie mir die Hohe Frau Llarana
berichtet hat. Ihr versteht noch immer nicht, habe ich recht?« Der Graue sah
in Nedeams Augen und lächelte bekümmert. »Nein, Ihr versteht es nicht. Seid
Ihr bereit, Euren Zorn zu mäßigen und Euer Schwert ruhen zu lassen? Oh, ich
weiß, dass Ihr es gerne ziehen würdet, ich kann es sehen. Eure Muskeln sind
angespannt, und die rechte Schulter ist ein wenig zurückgedreht. Um das zu
deuten, braucht es keine magischen Kräfte, nur ein gutes Auge. Also, reden
wir oder wollen wir uns im Kampf verausgaben? Glaubt mir, Nedeam, mein
Freund, ich bin ein alter Mann und würde lieber reden.«
»Schön, reden wir.« Nedeam erhob sich und lehnte sich an das andere
Regal, sodass sie beide nur zwei Schritte voneinander entfernt waren.
Marnalf seufzte erleichtert. »Wollt Ihr nicht auch ein wenig von dem
Schinken probieren? Er ist sehr gut, und ich muss gestehen, es entspannt
mich, davon zu kosten.«
»Ich bin nicht hungrig«, brummte Nedeam. »Aber ich will endlich wissen,
was für einer Prüfung Ihr mich unterzogen habt.«
»Das ist Euer gutes Recht.« Der Graue Zauberer schien zu überlegen. »Ihr
wisst nur wenig von meiner Art, Ihr Menschenwesen. Ich muss also etwas
ausholen. Ihr kennt die Elfen und wisst, dass sie sich regelmäßig der
Schröpfung unterziehen müssen?«
»Ja. Aber was hat das mit uns beiden zu tun?«
»Wenig und doch sehr viel.«
Nedeam seufzte. Solch unklare Worte waren nicht nach seinem
Geschmack. »Erklärt es.«
»Ich bin ja dabei. Es ist nur nicht so einfach. Wo war ich? Ja, nun, die
Schröpfung. Ein Elf bringt sein Wissen zu Papier und leert dann in der
Zeremonie der Schröpfung sein Gedächtnis. Es geschieht im Kreise der
Familie, damit kein Wissen von persönlichem Belang gelöscht wird. Wir
Grauen Wesen verfügen über eine ähnliche Fähigkeit. Doch sie dient uns
dazu, die Verbindung mit einem anderen Wesen aufzunehmen, um sein
Wissen in uns zu transferieren. Das Graue Wesen, dem Ihr bei den Elfen
begegnet seid, hat genau das bei Euch versucht.« Nedeam erinnerte sich an
den bösartigen Magier, der ihn im Haus des Urbaums verhört hatte, und
nickte unbewusst. Marnalf lächelte. »Dann habt Ihr gegen das Wesen
gekämpft und es bezwungen. Mit Hilfe der Elfin Llarana habt Ihr es über die
Brüstung eines Balkons geschoben, und es ist zu Tode gestürzt. War es so?«
»Ja, so war es.«
»Der Kampf war nicht leicht und dauerte eine Weile, nicht wahr? Das
Wesen hat sich heftig gewehrt, mit seinen Körperkräften und den Kräften
seines Geistes. Bis zuletzt hat es versucht, in Euren Geist einzudringen und
ihn zu beherrschen.« Marnalf trat näher an Nedeam heran, der es zuließ, da er
wusste, dass von dem Magier keine Gefahr mehr ausging. »Wenn ein Wesen
vergeht, so wird Energie freigesetzt, die Aura seines Lebens. Dabei ist völlig
gleichgültig, welches Leben vergeht. Eine Blume etwa hat eine winzige Aura,
die eines Menschen ist ungleich größer. Und die eines Wesens meiner Art
könnt Ihr kaum ermessen. Aber als der Graue Zauberer begriff, dass er
sterben würde, da wart Ihr, Nedeam, in körperlichem Kontakt zu ihm.«
»Das gilt auch für Llarana. Sie ergriff seine Beine, als wir das Wesen über
die Brüstung hoben.«
»Aber Euer Geist war es, mit dem sich die Kreatur verschmolzen hatte.
Nur wenige Augenblicke lang, Nedeam, Pferdelord, nur wenige Augenblicke.
Aber die haben Veränderungen in Euch bewirkt.« Marnalf nickte zu seinen
Worten. »Manchmal gehen dabei Fähigkeiten auf ein anderes Wesen über.
Das ist bei Euch geschehen, Nedeam. Ohne Zweifel.«
Der Erste Schwertmann erblasste. »Was hat das zu bedeuten?«
»Zeigt mir die Wunde, Nedeam. Seht Ihr? Es hat schon aufgehört zu
bluten. Bis sie sich schließt, wird es zwar noch dauern, aber sie heilt sehr
schnell, nicht wahr?«
Nedeam bedeckte die Wunde instinktiv mit der anderen Hand. Da
schüttelte Marnalf den Kopf und legte seine Hände auf die von Nedeam. »Es
darf Euch nicht beunruhigen, Nedeam. Es geschieht, und Ihr könnt es nicht
verhindern. Seht, als das Graue Wesen dem Tode nahe war, ging ein wenig
von seiner Kraft auf Euch über. Die Fähigkeit der Selbstheilung gehört dazu.
Bei meiner Art ist sie sehr ausgeprägt, und wenn eine Wunde nicht zu schwer
oder nicht sofort tödlich ist, so heilt sie rasch und zuverlässig. Ihr seid
deswegen nicht unverwundbar …« Marnalf lachte gutmütig. »Aber Ihr könnt
Verletzungen besser überstehen. Und ich denke, das ist nicht das Einzige, was
das Graue Wesen auf Euch übertragen hat.«
»Daher also die Prüfung?« Nedeam spürte, dass seine Beine schwach
wurden. Furchtbare Gedanken schossen ihm durch den Kopf. »Glaubt Ihr …
glaubt Ihr, ich werde zu einem … einem …?«
»Unsinn.« Marnalf schüttelte entschieden den Kopf. »Hätte er Euer Wesen
verwandelt, so hätte sich das vorhin gezeigt. Ihr seid noch immer Nedeam,
der Pferdelord.«
»Wie schön«, ächzte dieser erleichtert.
Der Graue Magier lachte auf, und es klang freundlich. »Ich fragte vorhin,
ob Euch etwas an meinem Aussehen auffällt. Nun, ich will es etwas genauer
formulieren. Seht Ihr gelegentlich andere Menschen von einer seltsamen
Erscheinung umgeben? Einem farbigen Licht? Ah, ich dachte es mir.
Verschiedene Farben, nicht wahr? Wann fiel es Euch zum ersten Mal auf?
Geschieht es regelmäßig? Könnt Ihr es kontrollieren?«
»Langsam, guter Herr Marnalf, das sind recht viele Fragen. Manchmal
sehe ich Menschen wie vor einem farbigen Leuchten stehen. Mal ist es rot,
dann grün oder blau.«
»Wenn Ihr die rote Aura seht, was empfindet Ihr dann?«
Nedeam lachte bitter. »Zuerst dachte ich, ich wäre krank. Oder meine
Augen seien nicht in Ordnung.«
»Oh, seid unbesorgt, das sind sie. Wir Grauen haben die Fähigkeit, die
Stimmung eines anderen Wesens zu erkennen. Wenn es uns feindlich gesinnt
ist, erscheint es in einer roten Aura. Eine grüne Aura bedeutet freundliche
Stimmung.« Marnalf lachte erneut. »Es hat uns schon oft geholfen, Feind von
Freund zu unterscheiden.«
»Nun verstehe ich.« Nedeam griff ebenfalls zu dem Schinken und schnitt
sich ein großes Stück ab. Er hatte keinen Hunger, aber er musste sich nun
irgendwie beschäftigen, um seine Nerven zu beruhigen. »Zum ersten Mal
bemerkte ich es, als ich in die Stadt Gendaneris kam, die von den Korsaren
der See besetzt war. Einige von ihnen waren von dem roten Licht umgeben.
Ich konnte es nicht deuten, aber ich spürte instinktiv, dass etwas nicht in
Ordnung war.«
»Wir Grauen können diese Gabe gezielt einsetzen. Ich fürchte, das ist bei
Euch nicht der Fall, Nedeam, aber dennoch kann sie Euch gute Dienste
leisten. Wenn auch nicht dabei, Wesen meiner Art zu erkennen, denn wir
können die Ausstrahlung unserer Aura unterbinden. Deshalb fällt es mir auch
schwer, meine eigenen Artgenossen aufzuspüren.« Marnalf fühlte die
Besorgnis des Pferdelords. »Ihr seid und bleibt ein Mensch, Nedeam,
Pferdelord. Ihr verfügt nun lediglich über ein paar besondere Fähigkeiten. Sie
verändern Euer Wesen nicht, aber dennoch solltet Ihr sie geheimhalten. Die
anderen Menschen werden kaum verstehen, was da mit Euch geschehen ist.
Sie könnten Euch mit Furcht, ja sogar mit Hass begegnen.«
»Ich verstehe es ja selber nicht.«
»Jedenfalls solltet Ihr niemandem von diesen Fähigkeiten erzählen.«
Marnalf blähte die Backen und stieß dann die Luft explosionsartig aus. »Eine
… unbedeutende Kleinigkeit wäre da noch zu erwähnen. Die Fähigkeit der
Heilung ist mit einem längeren Leben verbunden.«
Nedeams Lippen zitterten. »Ein Leben wie das der Elfen?«
»Nein, nur ein paar zusätzliche Jahreswenden. Vermutlich werdet Ihr
etwas langsamer altern. Aber Ihr werdet ebenso dahinscheiden wie alle
sterblichen Wesen.« Marnalf nahm Nedeam den Schinken und das Messer aus
den zitternden Händen. Dann legte er den Schinken ins Regal zurück, wischte
das Messer sauber und schob es wieder in Nedeams Gürtel. »Denkt immer
daran, Pferdemensch Nedeam, Ihr seid ein sterbliches Wesen und verfügt
über keinerlei Zauberkraft. Nur ein paar Gaben, die ungewöhnlich sind für
einen Menschen. Aber Ihr könnt sie nicht beherrschen; sie beherrschen Euch.
Aber sie haben Euer Wesen nicht verändert, mein Freund. Dessen musste ich
mich vergewissern.« Er schlug Nedeam aufmunternd auf die Schulter. »Und
nun sollten wir wieder zu den anderen gehen, sonst machen sie sich noch
Sorgen.« Er lächelte sanft. »Doch zuvor lasst uns noch ein Stück diese
Schinkens mitnehmen. Er ist wirklich zu köstlich.«
Die Ruhe oder Unruhe der anderen berührte Nedeam in diesem
Augenblick nicht sonderlich. Was der gute Graue Marnalf ihm da eröffnet
hatte, war unfassbar, und er wusste nur, dass es sein Leben entscheidend
beeinflussen konnte.