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Kapitel 6

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»Das Vorratshaus?«


Nedeam sah Marnalf fragend an, und der Magier nickte. »Es ist am besten

geeignet.«


»Nun, wie Ihr meint.« Der Erste Schwertmann schritt neben Marnalf durch

eines der Tore der Zwischenmauer in den hinteren Hof der Burg. Rechts lag

die Heilerstube, in der seine Mutter Meowyn die Verletzten und Erkrankten

behandelte, daran schlossen sich, der runden Mauer folgend, Schmiede,

Stallungen und das massige Vorratshaus an, das auf der linken Seite den

Abschluss bildete und an das Haupthaus angebaut war. Das kleine Gebäude

diente nicht nur der Einlagerung von Vorräten, sondern war auch Zugang zu

den Fluchtgewölben, die sich unter der Burg befanden. Die kleine Festung

stand über einem Felsendom, der den Bewohnern der Stadt im Falle eines

Angriffs Schutz bieten konnte, und verteidigte dessen Zugang.


Ein Schwertmann und eine der Küchenmägde waren gerade dabei,

Getreidesäcke zu kontrollieren, die in den Vorraum gestellt worden waren

und eingelagert werden sollten. »Achte darauf, dass alles trocken ist und

keine Schädlinge in den Säcken sind«, mahnte die Frau. »Erst letzte

Jahreswende hatten wie den Nagerjäger hier.«


Auf Marnalfs Wink hin schickte Nedeam die beiden hinaus. »Guter Herr

Marnalf, Euer Verhalten ist mir ein Rätsel. Ihr tut sehr geheimnisvoll«,

gestand Nedeam.


»Es hat alles seinen Grund, Erster Schwertmann.« Marnalf betrachtete die

Regale, in denen die unterschiedlichsten Vorräte lagerten. »Seid so gut und

schließt die Tür. Und legt den Sperrbalken vor, wir wollen nicht gestört

werden.«


Nedeam sah den Grauen forschend an. Marnalf hatte sein Leben

eingesetzt, um den König des Pferdevolkes zu retten, und später hatte er auch

in Merdonan ohne Vorbehalte für die Menschen gekämpft. Es gab keinen

Grund, an seinem guten Wesen zu zweifeln, und doch beschlich den

Pferdelord ein unbehagliches Gefühl. Zögernd legte er den Sperrbalken in die

Halterungen.


»Schön, guter Herr Marnalf, ich habe Euren Wunsch erfüllt. Doch nun

erklärt mir, was dies alles zu bedeuten hat.«


Marnalf zog einen Schinken aus dem Regal, schnupperte daran und seufzte

anerkennend. »Wundervoll. Hervorragend gewürzt. Leiht mir mal Euer

Messer, Hoher Herr Nedeam. Seht es mir nach, aber ich kann diesem Duft

nicht widerstehen.«


Nedeam unterdrückte seinen Unmut, zog das kurze Messer aus dem Gürtel

und reichte es, den Griff voran, Marnalf hinüber. Kaum hatte der es gepackt,

machte er eine schnelle Bewegung mit der Hand, und Nedeam schrie

erschrocken auf und sprang instinktiv zurück. Blut floss aus einem tiefen

Schnitt, den das Graue Wesen ihm über die Handfläche gezogen hatte.


»Verflucht, was soll das?«, zischte Nedeam, und seine unverletzte Hand

legte sich um den Griff seines elfischen Schwertes. »Erklärt Euch, Marnalf!

Seid Ihr verrückt geworden?«


Marnalf sah ihn forschend an. »Ist der Schnitt tief? Blutet er stark?«


»Natürlich ist er tief und blutet«, knurrte Nedeam.


»Wirklich?« Marnalf lächelte sanft, aber in diesem Augenblick konnte

Nedeam darin nichts Beruhigendes sehen. »Zeigt es mir.«


»Wenn Ihr nicht rasch erklärt, was das zu bedeuten hat, dann werde ich

Euch meine Klinge zeigen, Herr Marnalf.«


»Ah, das heiße Blut der Menschen«, seufzte der Zauberer. »Und das der

Pferdemenschen war schon immer leicht zum Kochen zu bringen.« Er

streckte seine Hand aus. »Nun kommt schon, zeigt mir die Wunde.«


Nedeams Misstrauen war geweckt. Marnalf war der Letzte der guten

Grauen, alle anderen waren verschwunden oder an die Seite des Schwarzen

Lords getreten. War nun auch Marnalf den Mächten der Finsternis verfallen?

»Ich werde jetzt diese Tür öffnen, Marnalf. Ihr werdet Euch mir erklären, und

zwar im Beisein der anderen.«


Marnalf lächelte gelangweilt. »Meint Ihr denn, die anderen könnten Euch

schützen?«


Der Schlag, der nun folgte, traf Nedeam nicht ganz unvorbereitet. Das

Verhalten des Zauberers hatte ihn alarmiert, und er hatte auf ein Anzeichen

gewartet, dass Marnalf sich gegen ihn wenden würde. Aber die Fähigkeiten

des Zauberers waren größer als die Nedeams. Der Erste Schwertmann bekam

seine elfische Klinge nicht mehr frei; er wurde herumgewirbelt und von einer

unbarmherzigen Gewalt mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür

geschmettert. Der wuchtige Aufprall nahm ihm für einen Moment den Atem,

und er fühlte, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Eine unsichtbare

Macht hielt den hilflosen Nedeam an der Wand. Er kannte diese Macht; es

war der Wuchtzauber der Grauen Wesen, mit dem sie Gegenstände bewegen

und sogar zerschmettern konnten.


»Nun, wie fühlt es sich an, Nedeam, Pferdemensch?« Marnalf hielt den

Ersten Schwertmann fest im Blick, während er ungerührt einen Streifen von

dem Schinken schnitt und in seinen Mund führte. »Keine Sorge, noch sind

alle Eure Knochen heil. Übrigens ist dies ein ganz hervorragender Schinken.

Es gibt wahrlich Dinge, die ich an Euch Menschen bewundere. Diese

Würzmischung ist einzigartig.«


»Verfluchte Bestie«, keuchte Nedeam. »Wann seid Ihr dem Wahnsinn

verfallen? Wer hat Euch in ein solches Monster verwandelt?«


Marnalf lächelte sanft. »Ihr täuscht Euch sehr.« Er machte eine

unmerkliche Bewegung mit der freien Hand, und Nedeam spürte, wie die

Kraft, die auf ihn wirkte, stärker wurde. Der Druck auf seine Brust begann

ihm die Luft abzuschnüren. Marnalf legte den Kopf schief und drehte sich ein

wenig vor Nedeam, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Nun, was ist,

Nedeam, Pferdemensch? Wie sehe ich aus?«


»Ihr habt einen guten Schneider«, ächzte der Erste Schwertmann.


»Wahrhaftig, den habe ich.« Marnalf lachte leise. »Ihr scheint stark zu

sein, wenn Ihr noch immer scherzen könnt.«


Erneut verstärkte sich der Druck. Nedeam spannte seine Muskeln an und

versuchte, sich der Kraft zu entziehen, aber es war sinnlos. Solange das Graue

Wesen ihn sehen konnte, vermochte es seine Zauberkraft auch gegen ihn

einzusetzen. Das war die einzige offensichtliche Schwäche dieser

geheimnisvollen Kreaturen: Wenn sie das Ziel ihrer Magie nicht mit den

Augen fixieren konnten, waren sie machtlos.


Nedeam spürte das Hämmern seines Pulses. Er versuchte zu schreien, aber

er konnte bloß ein leises Krächzen ausstoßen. Nur seine Augen vermochte er

frei zu bewegen, und so huschte sein Blick umher, um einen Weg zu finden,

den verräterischen Grauen zu bezwingen. Es brannte nur eine einzelne

Brennsteinlampe im Vorraum des Magazins. Der Brennstein war sorgsam von

einem Schirm aus Klarstein abgedeckt, denn bei der Lagerung von Getreide

und anderen Gütern konnten staubfeine Partikel aufwirbeln und sich an einer

offenen Flamme entzünden. Der Brennstein war frisch aufgefüllt, und es

bestand keine Aussicht, dass die Lampe so bald erlosch. Dunkelheit würde

Nedeam dem Blick Marnalfs entziehen und ihm die Chance geben, sich zu

wehren. Aber hier würde sie nicht zu seinem Verbündeten werden.


Marnalf lehnte sich mit gelangweiltem Gesicht an eines der Regale.

»Warum wehrt Ihr Euch nicht, Nedeam? Seid Ihr zu feige?«


Der Druck wurde noch stärker und begann Nedeam die Sinne zu rauben.

Dann trat Marnalf näher. Sein Gesicht blickte drohend und schien ins

Bösartige verzerrt. »Niemand wird erfahren, wie Ihr gestorben seid, Nedeam,

Pferdemensch. Euer Herz hat versagt, so etwas kommt vor.« Marnalf lachte

kalt. »Niemand wird mich verdächtigen, denn ich bin ein Freund der

Menschen. Sicherlich wird man sehr um Euch trauern.« Marnalf leckte sich

über die Lippen. »Und da gibt es ein elfisches Wesen, das sich besonders

grämen wird. Nun, sie ist sehr ansehnlich, die Elfin Llarana, findet Ihr nicht?

Vielleicht sollte ich meine besonderen Fähigkeiten einsetzen, um mich mit ihr

zu paaren?«


Voller Zorn versuchte Nedeam zu schreien, aber es wurde nur ein leises

Krächzen daraus. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Magie des Grauen

Wesens und glaubte tatsächlich zu spüren, wie die Macht schwächer wurde,

die gegen seinen Körper drückte.


Dann nickte Marnalf und trat zurück. »Nun weiß ich, was ich erfahren

musste.«


Unvermittelt erlosch die Macht, die Nedeam festhielt. Er hatte nicht einmal

die Kraft zu schreien, als er vornüberstürzte und schwer auf dem Boden

aufprallte. Es wäre Marnalf leichtgefallen, ihn zu töten, warum hatte der

Graue von seinem Vorhaben abgesehen?


Nedeam gelang es, sich auf die Seite zu wälzen, und starrte das Graue

Wesen hasserfüllt an. »Bringt es zu Ende, Marnalf«, keuchte er. »Denn wenn

ich erst wieder zu Kräften komme, werde ich nicht zögern, Euch zu

erschlagen.«


»Gesprochen wie ein wahrer Pferdelord.« Die Bösartigkeit in den Zügen

des Grauen Wesens war einem gütigen Lächeln gewichen. »Und glaubt mir,

Nedeam, ich hatte nicht vor, Euch ein Leid zuzufügen.«


Nedeam konnte sich nun auf die Knie aufrichten. Er schätzte die

Entfernung zu Marnalf ab und die Kraft, die er zum Sprung benötigte.


Doch der Graue schien seine Gedanken zu erraten. »Lasst es sein, Nedeam.

Es gibt keinen Grund zur Feindschaft. Ich habe Euch nur einer Prüfung

unterzogen.«


»Einer … Prüfung?« Er atmete einige Male tief durch und lockerte die

verkrampften Muskeln, bevor er sie für einen Sprung erneut anspannte.


»Der Ehrenwerte Jalan-olud-Deshay und seine Tochter Llarana haben sie

sich gemeinsam mit mir ausgedacht. Sie sind in Sorge um Euch.«


Nedeam wich dem Blick des Wesens aus, denn auch die Augen konnten

dem Gegner verraten, was man beabsichtigte. Er kniete auf einem Bein,

jederzeit bereit hochzuschnellen. Es gab nur eine Chance, er musste sein

Schwert mit einer einzigen Bewegung ziehen, es nach vorne schwingen und

dabei den Hals der Bestie durchtrennen.


»Eure Aura ist rot, mein Freund«, sagte Marnalf leise. »Glaubt mir, ich

werde Euch kein Leid zufügen. Begreift Ihr denn nicht, dass ich Euch prüfen

musste?« Das Graue Wesen schüttelte seufzend den Kopf. »Seht auf Eure

Hand. Auf die Wunde, die ich Euch zugefügt habe. Blutet sie noch?«


Nedeam wurde unsicher. Er kannte die Kräfte eines Grauen Wesens.

Marnalf hätte keine Mühe gehabt, ihn zu töten, stattdessen versuchte er, ihn

zu beschwichtigen. Was steckte dahinter?


»Es ist nur ein kleiner Schnitt«, erwiderte Nedeam, ohne auf seine Wunde

zu achten. Schließlich musste er vorbereitet sein, wenn Marnalf ihn erneut

angriff. Aber der Pferdelord spürte, dass es dazu nicht kommen würde.


»Ein winziger Schnitt. Und er wird sehr schnell heilen. Ungewöhnlich

schnell«, fügte Marnalf eindringlich hinzu. »Wie mir die Hohe Frau Llarana

berichtet hat. Ihr versteht noch immer nicht, habe ich recht?« Der Graue sah

in Nedeams Augen und lächelte bekümmert. »Nein, Ihr versteht es nicht. Seid

Ihr bereit, Euren Zorn zu mäßigen und Euer Schwert ruhen zu lassen? Oh, ich

weiß, dass Ihr es gerne ziehen würdet, ich kann es sehen. Eure Muskeln sind

angespannt, und die rechte Schulter ist ein wenig zurückgedreht. Um das zu

deuten, braucht es keine magischen Kräfte, nur ein gutes Auge. Also, reden

wir oder wollen wir uns im Kampf verausgaben? Glaubt mir, Nedeam, mein

Freund, ich bin ein alter Mann und würde lieber reden.«


»Schön, reden wir.« Nedeam erhob sich und lehnte sich an das andere

Regal, sodass sie beide nur zwei Schritte voneinander entfernt waren.


Marnalf seufzte erleichtert. »Wollt Ihr nicht auch ein wenig von dem

Schinken probieren? Er ist sehr gut, und ich muss gestehen, es entspannt

mich, davon zu kosten.«


»Ich bin nicht hungrig«, brummte Nedeam. »Aber ich will endlich wissen,

was für einer Prüfung Ihr mich unterzogen habt.«


»Das ist Euer gutes Recht.« Der Graue Zauberer schien zu überlegen. »Ihr

wisst nur wenig von meiner Art, Ihr Menschenwesen. Ich muss also etwas

ausholen. Ihr kennt die Elfen und wisst, dass sie sich regelmäßig der

Schröpfung unterziehen müssen?«


»Ja. Aber was hat das mit uns beiden zu tun?«


»Wenig und doch sehr viel.«


Nedeam seufzte. Solch unklare Worte waren nicht nach seinem

Geschmack. »Erklärt es.«


»Ich bin ja dabei. Es ist nur nicht so einfach. Wo war ich? Ja, nun, die

Schröpfung. Ein Elf bringt sein Wissen zu Papier und leert dann in der

Zeremonie der Schröpfung sein Gedächtnis. Es geschieht im Kreise der

Familie, damit kein Wissen von persönlichem Belang gelöscht wird. Wir

Grauen Wesen verfügen über eine ähnliche Fähigkeit. Doch sie dient uns

dazu, die Verbindung mit einem anderen Wesen aufzunehmen, um sein

Wissen in uns zu transferieren. Das Graue Wesen, dem Ihr bei den Elfen

begegnet seid, hat genau das bei Euch versucht.« Nedeam erinnerte sich an

den bösartigen Magier, der ihn im Haus des Urbaums verhört hatte, und

nickte unbewusst. Marnalf lächelte. »Dann habt Ihr gegen das Wesen

gekämpft und es bezwungen. Mit Hilfe der Elfin Llarana habt Ihr es über die

Brüstung eines Balkons geschoben, und es ist zu Tode gestürzt. War es so?«


»Ja, so war es.«


»Der Kampf war nicht leicht und dauerte eine Weile, nicht wahr? Das

Wesen hat sich heftig gewehrt, mit seinen Körperkräften und den Kräften

seines Geistes. Bis zuletzt hat es versucht, in Euren Geist einzudringen und

ihn zu beherrschen.« Marnalf trat näher an Nedeam heran, der es zuließ, da er

wusste, dass von dem Magier keine Gefahr mehr ausging. »Wenn ein Wesen

vergeht, so wird Energie freigesetzt, die Aura seines Lebens. Dabei ist völlig

gleichgültig, welches Leben vergeht. Eine Blume etwa hat eine winzige Aura,

die eines Menschen ist ungleich größer. Und die eines Wesens meiner Art

könnt Ihr kaum ermessen. Aber als der Graue Zauberer begriff, dass er

sterben würde, da wart Ihr, Nedeam, in körperlichem Kontakt zu ihm.«


»Das gilt auch für Llarana. Sie ergriff seine Beine, als wir das Wesen über

die Brüstung hoben.«


»Aber Euer Geist war es, mit dem sich die Kreatur verschmolzen hatte.

Nur wenige Augenblicke lang, Nedeam, Pferdelord, nur wenige Augenblicke.

Aber die haben Veränderungen in Euch bewirkt.« Marnalf nickte zu seinen

Worten. »Manchmal gehen dabei Fähigkeiten auf ein anderes Wesen über.

Das ist bei Euch geschehen, Nedeam. Ohne Zweifel.«


Der Erste Schwertmann erblasste. »Was hat das zu bedeuten?«


»Zeigt mir die Wunde, Nedeam. Seht Ihr? Es hat schon aufgehört zu

bluten. Bis sie sich schließt, wird es zwar noch dauern, aber sie heilt sehr

schnell, nicht wahr?«


Nedeam bedeckte die Wunde instinktiv mit der anderen Hand. Da

schüttelte Marnalf den Kopf und legte seine Hände auf die von Nedeam. »Es

darf Euch nicht beunruhigen, Nedeam. Es geschieht, und Ihr könnt es nicht

verhindern. Seht, als das Graue Wesen dem Tode nahe war, ging ein wenig

von seiner Kraft auf Euch über. Die Fähigkeit der Selbstheilung gehört dazu.

Bei meiner Art ist sie sehr ausgeprägt, und wenn eine Wunde nicht zu schwer

oder nicht sofort tödlich ist, so heilt sie rasch und zuverlässig. Ihr seid

deswegen nicht unverwundbar …« Marnalf lachte gutmütig. »Aber Ihr könnt

Verletzungen besser überstehen. Und ich denke, das ist nicht das Einzige, was

das Graue Wesen auf Euch übertragen hat.«


»Daher also die Prüfung?« Nedeam spürte, dass seine Beine schwach

wurden. Furchtbare Gedanken schossen ihm durch den Kopf. »Glaubt Ihr …

glaubt Ihr, ich werde zu einem … einem …?«


»Unsinn.« Marnalf schüttelte entschieden den Kopf. »Hätte er Euer Wesen

verwandelt, so hätte sich das vorhin gezeigt. Ihr seid noch immer Nedeam,

der Pferdelord.«


»Wie schön«, ächzte dieser erleichtert.


Der Graue Magier lachte auf, und es klang freundlich. »Ich fragte vorhin,

ob Euch etwas an meinem Aussehen auffällt. Nun, ich will es etwas genauer

formulieren. Seht Ihr gelegentlich andere Menschen von einer seltsamen

Erscheinung umgeben? Einem farbigen Licht? Ah, ich dachte es mir.

Verschiedene Farben, nicht wahr? Wann fiel es Euch zum ersten Mal auf?

Geschieht es regelmäßig? Könnt Ihr es kontrollieren?«


»Langsam, guter Herr Marnalf, das sind recht viele Fragen. Manchmal

sehe ich Menschen wie vor einem farbigen Leuchten stehen. Mal ist es rot,

dann grün oder blau.«


»Wenn Ihr die rote Aura seht, was empfindet Ihr dann?«


Nedeam lachte bitter. »Zuerst dachte ich, ich wäre krank. Oder meine

Augen seien nicht in Ordnung.«


»Oh, seid unbesorgt, das sind sie. Wir Grauen haben die Fähigkeit, die

Stimmung eines anderen Wesens zu erkennen. Wenn es uns feindlich gesinnt

ist, erscheint es in einer roten Aura. Eine grüne Aura bedeutet freundliche

Stimmung.« Marnalf lachte erneut. »Es hat uns schon oft geholfen, Feind von

Freund zu unterscheiden.«


»Nun verstehe ich.« Nedeam griff ebenfalls zu dem Schinken und schnitt

sich ein großes Stück ab. Er hatte keinen Hunger, aber er musste sich nun

irgendwie beschäftigen, um seine Nerven zu beruhigen. »Zum ersten Mal

bemerkte ich es, als ich in die Stadt Gendaneris kam, die von den Korsaren

der See besetzt war. Einige von ihnen waren von dem roten Licht umgeben.

Ich konnte es nicht deuten, aber ich spürte instinktiv, dass etwas nicht in

Ordnung war.«


»Wir Grauen können diese Gabe gezielt einsetzen. Ich fürchte, das ist bei

Euch nicht der Fall, Nedeam, aber dennoch kann sie Euch gute Dienste

leisten. Wenn auch nicht dabei, Wesen meiner Art zu erkennen, denn wir

können die Ausstrahlung unserer Aura unterbinden. Deshalb fällt es mir auch

schwer, meine eigenen Artgenossen aufzuspüren.« Marnalf fühlte die

Besorgnis des Pferdelords. »Ihr seid und bleibt ein Mensch, Nedeam,

Pferdelord. Ihr verfügt nun lediglich über ein paar besondere Fähigkeiten. Sie

verändern Euer Wesen nicht, aber dennoch solltet Ihr sie geheimhalten. Die

anderen Menschen werden kaum verstehen, was da mit Euch geschehen ist.

Sie könnten Euch mit Furcht, ja sogar mit Hass begegnen.«


»Ich verstehe es ja selber nicht.«


»Jedenfalls solltet Ihr niemandem von diesen Fähigkeiten erzählen.«

Marnalf blähte die Backen und stieß dann die Luft explosionsartig aus. »Eine

… unbedeutende Kleinigkeit wäre da noch zu erwähnen. Die Fähigkeit der

Heilung ist mit einem längeren Leben verbunden.«


Nedeams Lippen zitterten. »Ein Leben wie das der Elfen?«


»Nein, nur ein paar zusätzliche Jahreswenden. Vermutlich werdet Ihr

etwas langsamer altern. Aber Ihr werdet ebenso dahinscheiden wie alle

sterblichen Wesen.« Marnalf nahm Nedeam den Schinken und das Messer aus

den zitternden Händen. Dann legte er den Schinken ins Regal zurück, wischte

das Messer sauber und schob es wieder in Nedeams Gürtel. »Denkt immer

daran, Pferdemensch Nedeam, Ihr seid ein sterbliches Wesen und verfügt

über keinerlei Zauberkraft. Nur ein paar Gaben, die ungewöhnlich sind für

einen Menschen. Aber Ihr könnt sie nicht beherrschen; sie beherrschen Euch.

Aber sie haben Euer Wesen nicht verändert, mein Freund. Dessen musste ich

mich vergewissern.« Er schlug Nedeam aufmunternd auf die Schulter. »Und

nun sollten wir wieder zu den anderen gehen, sonst machen sie sich noch

Sorgen.« Er lächelte sanft. »Doch zuvor lasst uns noch ein Stück diese

Schinkens mitnehmen. Er ist wirklich zu köstlich.«


Die Ruhe oder Unruhe der anderen berührte Nedeam in diesem

Augenblick nicht sonderlich. Was der gute Graue Marnalf ihm da eröffnet

hatte, war unfassbar, und er wusste nur, dass es sein Leben entscheidend

beeinflussen konnte.



Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt

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