Читать книгу Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt - Michael Schenk - Страница 5

Kapitel 3

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»Es kommt selten vor, dass sich ein ganzes Rudel in die Hochmark verirrt.«

Der stämmige Mann, der soeben gesprochen hatte, stand weit über die Spuren

gebeugt und fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch den dichten Bart. Er

trug die kniehohen rotbraunen Stiefel der Pferdelords und deren bodenlangen

grünen Umhang. Dieser war mit einem schmalen blauen Saum eingefasst und

damit von der gleichen Farbe wie der lange Rosshaarschweif am Helm des

Mannes. Es waren die Farben der Hochmark des Pferdefürsten Garodem, und

der kleine Trupp bestand aus seinen Männern. »Aber es sind mindestens fünf

Tiere. Eher sechs.«


Hinter ihm beugte sich ein Mann im Sattel vor, und das Leder knarrte leise.

»Ich glaube auch, dass es sechs Raubkrallen sind, guter Herr Kormund. Eine

große und fünf kleine.«


Scharführer Kormund richtete sich wieder auf und stützte sich dabei

unmerklich auf die lange Lanze, an welcher sein dreieckiger Wimpel flatterte.


Einer der anderen Reiter beugte sich nun ebenfalls vor. »Möglicherweise

ein Männchen und fünf Weibchen. Das würde mir gar nicht gefallen. Wenn

wir sie nicht erwischen, wimmelt es in der Hochmark bald von den

verdammten Biestern, und dann ist keine Herde mehr sicher.«


Kormund schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube eher, dass es ein

Weibchen mit seinen Jungen ist. Übel genug für die Herden.« Er blickte in

das Tal hinein, an dessen Eingang sie gehalten hatten. »Aber wenn wir Glück

haben, erwischen wir sie hier. Der Zugang des Tals ist schmal und die Hänge

sind sehr steil, auch für ein Raubkralle. Zwei Mann decken den Zugang und

achten darauf, dass keines der Biester entkommt, ihr anderen folgt mir.« Er

blickte kurz in den Himmel hinauf. »Und wir sollten uns beeilen. Das Wetter

wird bald umschlagen, und dann dürfte es verdammt ungemütlich werden.«


Kormunds alte Narbe an der Brust, die ein Ork ihm beigebracht hatte,

schmerzte wieder einmal. Seine Erfahrung täuschte ihn nur selten, und wenn

er behauptete, das Wetter werde umschlagen, dann hatten die anderen keinen

Grund, daran zu zweifeln. Zwei von ihnen hielten Pfeil und Bogen

schussbereit, die beiden anderen folgten Kormund ins Tal hinein.


Die Hochmark des Pferdefürsten Garodem war die nördlichste Mark des

Reitervolkes. Sie bestand aus einer Reihe miteinander verbundener Täler, gut

geschützt durch die steil aufragenden Berge und nur über zwei Pässe

zugänglich. Der nördliche von ihnen wurde von der Stadt und Festung von

Eternas geschützt, der südliche durch die Wachen der Schwertmänner.


Die Täler boten Raum für die wachsenden Herden an Pferden, Schafen und

Hornvieh sowie für die zahlreichen Äcker, auf denen Getreide wuchs. Die

Berge waren reich an Metallen und Brennstein, nur an Holz mangelte es, doch

das konnte durch den Handel mit den unteren Marken besorgt werden.


Kormund und seine vier Begleiter waren Pferdelords wie die meisten

wehrhaften Männer der Marken. Sie hatten gelernt, dass Einigkeit ihr Volk

stark machte und man die eigene Freiheit mit der Waffe verteidigen musste.

Zu oft waren sie von Orks und anderen Feinden bedroht worden, als dass das

Pferdevolk diese Lektionen nicht gelernt hätte.


Aber auch im Frieden war eine Mark Bedrohungen ausgesetzt. Es gab

Raubwild oder Barbaren und Ausgestoßene, gegen die es die Grenzen zu

schützen galt. Dafür unterhielt der Pferdefürst einer Mark eine Truppe

Schwertmänner: Pferdelords, die ständig unter Waffen standen und von ihrem

Herrn versorgt und ausgerüstet wurden. Sie waren die Elite der Kämpfer und

verstanden sich auch auf den Umgang mit Schwert und Lanze.


Die Hufe der Pferde pochten leise auf dem mit Gras bewachsenen Boden,

während Kormund und seine beiden Flankenreiter aufmerksam in das Tal und

zu dessen Hängen spähten. Der stämmige Scharführer musste auf den Bogen

verzichten, denn die alte Wunde verhinderte, dass er ihn ausreichend spannen

konnte. So hielt er die Stoßlanze mit dem Berittwimpel bereit und folgte mit

den Blicken den Spuren des kleinen Rudels.


Die Schatten im Tal wurden länger, Wolken zogen sich zusammen; es

würde wohl nicht mehr lange dauern, und einer der heftigen Gewitterstürme

brach über das Land herein. Noch war es Herbst, doch die Nächte wurden

schon ungewöhnlich kalt. Vermutlich würde es ein schwerer Winter werden,

der den Herden zusetzte. Da konnte kein Pferdelord ein Rudel Raubkrallen

dulden, das die kostbaren Tiere hungrig belauerte.


Ursprünglich hatte das Rudel aus acht Tieren bestanden, aber die

Herdenwächter des Hammergrundweilers hatten zwei von ihnen erlegt.


Anschließend hatten die Bewohner des Weilers den Pferdefürsten gebeten,

einen Trupp Schwertmänner zu entsenden, um die Raubkrallen zu stellen.

Obwohl Kormund nicht mehr der Jüngste war, hatte er sich gefreut, wieder

einmal hinausreiten zu können, denn der Ritt würde ihm auch Gelegenheit

geben, einen alten Freund zu besuchen.


»Die Abdrücke sind frisch«, raunte er. »Sie müssen hier irgendwo

herumstreichen. Seid vorsichtig. Sie kennen unsere Pfeile und fürchten sie.

Aber wenn sie in die Enge getrieben werden …«


»Ich bin nicht zum ersten Mal einer Raubkralle auf der Spur, guter Herr

Kormund«, brummte einer der Schwertmänner.


»Ja, aber diese hier sind besonders gefährlich«, erwiderte der Scharführer

und sah den Schwertmann ernst an. »Sie haben zwei Herdenwächter des

Hammergrunds angefallen und einen von ihnen getötet, bevor jemand

eingreifen konnte. Diese Bestien haben Blut geleckt. Menschenblut. Sie

wissen nun, dass man uns töten kann, und werden nicht mehr davor

zurückschrecken.«


Die drei Reiter zogen sich zu einer weiten Linie auseinander. Während

Kormund die Spuren des Rudels, die tiefer ins Tal hineinführten, im Auge

behielt, entfernten sich die beiden anderen von ihm, damit sie die Hänge

besser übersehen konnten.


Die Raubkrallen scheuten davor zurück, ein Risiko einzugehen. Ein

Angriff, bei dem sie sich verletzten, konnte sie daran hindern, weiter auf die

Jagd zu gehen, und sie so einem qualvollen Hungertod preisgeben. Im Rudel

war die Chance größer, dass ein geschwächtes Tier genug Nahrung abbekam,

um wieder gesund zu werden. Nein, sie riskierten nicht viel, diese eleganten

Räuber, aber deswegen waren sie keineswegs feige. Wenn es darauf ankam,

kämpften sie rücksichtslos. Kein vernünftiger Mann würde sie unterschätzen.


Doch Terwin, der Schwertmann an Kormunds rechter Seite, war nicht

vernünftig. Obwohl er sich im Kampf gegen die Orks bewährt hatte, fehlte

ihm der Instinkt, die Raubkrallen richtig einzuschätzen. Kormund merkte das,

als der Reiter sich entfernte und auf den steilen Hang zuhielt, der den

Raubkrallen ein Entkommen unmöglich machte. Der erfahrene Scharführer

wandte den Kopf und musterte die Felsen, die vereinzelt und in Gruppen am

Fuße des Hanges lagen. Irgendwann hatte die Erosion sie gelöst und von oben

herabstürzen lassen. Einige lagen wohl schon viele Jahreswenden dort, denn

sie waren an der dem Wind zugewandten Oberseite mit Moos bewachsen.


Kormund brauchte nur Augenblicke, um die Stellen zu erkennen, an denen

der Bewuchs frisch abgeschabt war; er öffnete den Mund zu einem Warnruf.


Terwin hatte den Felsen nur einen flüchtigen Blick geschenkt und war

dann zwischen sie geritten, die Augen auf den vor ihm liegenden Hang

geheftet, wo er zuvor eine schemenhafte Bewegung wahrgenommen hatte

Tatsächlich erkannte er dort einen goldgelben Schatten. Unzweifelhaft eine

Raubkralle, und sie zog einen Hinterlauf nach. Terwin frohlockte, denn

verletzt würde sie eine leichte Beute sein.


Hinter ihm ertönte Kormunds Warnschrei, aber er nahm ihn kaum wahr. Er

hatte einen Pfeil aufgelegt und den Bogen halb gespannt und verfluchte allein

die Tatsache, dass sich das verletzte Tier immer nur für wenige Augenblicke

zeigte und dabei tiefer und tiefer zwischen die Felsen humpelte. Auf den

Gedanken, dass die Raubkralle ihn in eine Falle locken könnte, kam der

Pferdelord nicht. Er jagte ein Tier, und Tiere waren dumm. Eigentlich hätte er

es besser wissen müssen, aber das Jagdfieber hatte ihn gepackt.


»Zurück, Terwin!«, schrie Kormund auf. »Das Biest lockt dich zwischen

die Felsen!«


»Er ist scharf auf das Fell«, knurrte der andere Schwertmann.

»Verdammter Narr.«


Die beiden Reiter zogen ihre Pferde herum und trieben sie in Terwins

Richtung. Der Wind stand auf dem Hang und verhinderte so, dass das Pferd

des Schwertmanns den Geruch der Raubkrallen aufnahm. Erneut hörte

Terwin den warnenden Schrei des Scharführers hinter sich, aber er hatte die

verletzte Raubkralle nun deutlich im Blick und konnte den Bogen endlich

zum Schuss spannen. Dann, gerade als er den Pfeil lösen wollte, geschah es.


Auf dem Felsen, an dem Kormund die verräterischen Spuren gesehen

hatte, erschien eine weitere Raubkralle und duckte sich zum Sprung. Nervös

peitschte ihr Schwanz, während sie mit dem Becken die typischen

Bewegungen machte, mit denen die Tiere ihre Muskeln spannten. Begleitet

von Kormunds Aufschrei sprang die Raubkralle los.


Terwin schoss in dem Moment den Pfeil ab, als das Tier gegen ihn prallte.

Mit seinem Körper von der Größe eines Schafes und der Wucht des Sprunges

warf es Mann und Pferd einfach um. Der Schwertmann schrie auf, als sein

eines Bein unter dem stürzenden Pferd begraben wurde und brach, während

das liegende Tier auskeilte und versuchte, wieder auf die Läufe zu kommen.

Der Räuber hatte unterdessen seine Krallen in den Leib des Mannes

geschlagen und riss ihm blutige Wunden, bevor der Schwung des Sturzes sie

wieder voneinander trennte.


Der Pfeil Terwins ging ins Leere, denn die scheinbar verletzte Raubkralle,

auf die er gezielt hatte, war plötzlich herumgefahren und hastete nun mit

weiten Sprüngen heran. Zwei weitere Tiere erschienen zwischen den Felsen

und näherten sich ebenfalls.


Das Pferd kam hoch und wieherte erregt, als es die anstürmenden

Raubkrallen sah. Seine Instinkte verlangten, dass es flüchtete und sich in

Sicherheit brachte, aber Terwins Reittier war gut ausgebildet, und so stellte es

sich zum Kampf, statt zu fliehen. Noch während der Gestürzte versuchte, sich

vom Boden zu erheben, stieg sein Hengst auf die Hinterhand und

zerschmetterte einer der Raubkrallen mit dem Vorderlauf den Schädel.


Die andere sprang jedoch am Pferd vorbei und traf den Schwertmann, der

mittlerweile aufrecht stand, das gebrochene Bein aber nicht belasten konnte.

Er wollte gerade den Bogen fallen lassen und sein Schwert ziehen, als das

frontal von vorn kommende Tier gegen seine Brust prallte. Terwin stürzte

hintenüber, und eine der Tatzen der Raubkralle zog eine blutende Wunde über

sein Gesicht. Wäre der schützende Helm nicht gewesen, hätte er sicherlich ein

Auge verloren. Aber er war auch so schon übel zugerichtet.


Innerhalb weniger Augenblicke hatten ihn zwei Raubkrallen angegriffen.

Nun blutete er aus mehreren tiefen Wunden, hatte ein gebrochenes Bein, und

zudem war auch noch sein Schwert weg. Er warf sich herum und versuchte

die Klinge zu ergreifen, dann setzte auch die dritte Raubkralle zum Angriff

an.


Kormund schrie in einer Mischung aus Schmerz und Wut auf. Er war

kaum mehr eine halbe Hundertlänge vom Geschehen entfernt und schleuderte

die Wimpellanze mit aller Kraft. Der daraufhin einsetzende Schmerz in seiner

Wunde raubte ihm fast die Sinne, und er konnte sich nur mühsam im Sattel

halten. Aber die Lanzenspitze bohrte sich bis zum grünen Tuch des Wimpels

in die Brust der heranschnellenden Raubkralle, die durch die Wucht des

Aufpralls zurückgeworfen wurde und mit zuckenden Läufen liegen blieb.


Die Raubkralle, die als Erste angegriffen hatte, war unterdessen

herumgeschnellt und rannte nun geduckt mit weiten Sätzen über den Boden.

Terwin hatte sein Schwert ergriffen und rollte sich genau in dem Moment

herum, als die Bestie sich auf ihn warf. Die stählerne Klinge fuhr ihr

zwischen die Rippen, traf ihr Herz und tötete sie auf der Stelle. Aber selbst im

Tod zuckten ihre krallenbewehrten Läufe noch und rissen Terwin weitere

Wunden.


Kormunds Begleiter löste einen Pfeil, ein zweiter folgte, und der vierte

Räuber maunzte getroffen auf und humpelte hastig in die Deckung einiger

Felsen zurück. Jetzt waren Kormund und sein Begleiter endlich heran, und

während sich der Scharführer schmerzerfüllt im Sattel hielt, sprang der andere

Mann behände vom Pferd, zog mit einer gleitenden Bewegung seine Klinge

und vergewisserte sich, dass die Raubtiere tot waren.


Erst danach warf er einen forschenden Blick auf Kormund. »Geht es,

Scharführer, oder braucht Ihr Hilfe?«


Kormund verbiss sich den Schmerz und schüttelte den Kopf. »Kümmert

Euch um Terwin, er hat es nötiger. Die Krallen haben ihn übel zugerichtet,

und er verliert viel Blut.«


In dem Moment näherte sich das Geräusch von Hufschlag; es war einer der

beiden Schwertmänner vom Taleingang. »Wir haben zwei von ihnen

erwischt«, sagte er, als er sein Pferd neben ihnen gezügelt hatte. »Eine andere

sprang irgendwo zwischen den Felsen hervor und versteckt sich nun weiter

hinten im Tal. Eldwin ist ihr auf der Spur. Sie blutet stark und wird ihm nicht

entkommen.«


»Wir können Eure Hilfe brauchen«, brummte Kormund. »Terwin ist

verletzt.«


Der Schwertmann sah sich kurz um und stieß dann ein verächtliches

Schnauben aus. »Er hat sich zwischen den Felsen überrumpeln lassen, nicht

wahr? Verdammter Narr, man sollte diese Biester niemals unterschätzen. Sie

sind verflucht schlau, Scharführer.«


»Ja, ich weiß.«


Dann kümmerten sich die beiden Schwertmänner um Terwin. Der

Verletzte stöhnte gelegentlich auf, als die Männer seine Kleidung auftrennten,

um an die Wunden heranzukommen. Sein Pferd war nun, da die Gefahr

vorüber war, ein Stück zur Seite getrabt, hielt sich aber in der Nähe, um auf

den Pfiff seines Reiters hin herbeizueilen.


Kormund ließ sich unterdessen langsam aus dem Sattel gleiten. Für einen

Moment hielt er sich am Sattelknauf fest und löste die Wasserflasche. Er hatte

keinen Durst, aber er wollte nicht, dass die Männer sahen, wie sehr er im

Augenblick den zusätzlichen Halt des Sattels brauchte. So heftig war der

Schmerz schon lange nicht mehr gewesen, aber der stämmige Scharführer

hatte auch schon lange keinen solchen Wurf mehr gemacht. Er nahm einen

Schluck, spülte den Mund und spuckte aus, um anschließend zu trinken.

Nachdem er die Flasche wieder verschlossen hatte, hängte er sie zurück und

trat zu der toten Raubkralle, in deren Körper noch die Wimpellanze steckte.

Er befreite diese vorsichtig, darauf gefasst, erneut den Schmerz zu spüren,

doch diesmal blieb er verschont. Kormund würde Spitze und Tuch im

Wasserloch säubern, sobald Terwin versorgt war.


»Raffinierte Biester«, brummte einer der Männer. »Es war tatsächlich ein

Muttertier mit seinen fünf Jungen. Ganz, wie Ihr vermutet habt, guter Herr

Kormund. Die vier Jungtiere hier versuchten uns abzulenken und aufzuhalten,

während sich das Muttertier mit einem weiteren Jungtier davonschleichen

wollte. Sie opfern sich für ihr Rudel auf.«


Kormund lächelte halbherzig. »Darin sind sie uns ähnlich, nicht wahr? Wie

geht es ihm?«


Terwin stöhnte noch immer, aber er versuchte, sich den Schmerz zu

verbeißen. Er wusste, dass er die Wunden seinem Übereifer zu verdanken

hatte, der Ausdruck in seinen Augen verriet es. Mit einem verzerrten Lächeln

erwiderte er Kormunds Blick.


»Es war mein Fehler, Scharführer. Ich hätte auf Euch hören müssen, aber

das Jagdfieber hatte mich gepackt.«


Kormund nickte. »Lernt daraus, Schwertmann Terwin. Ihr werdet ein paar

Narben und unangenehme Erinnerungen zurückbehalten. Aber das wird

vielleicht Eure Instinkte schärfen.«


Terwin grinste schief. »Und auch meine Ohren. Für die Worte erfahrenerer

Männer.«


Kormund nickte erneut. Terwin hatte einen Fehler gemacht, aber er war

nicht zu stolz, dies einzugestehen; eine gute Voraussetzung, dass er daraus

lernte. Wenn er künftig solche Risiken vermied und das Schicksal es gut mit

ihm meinte, könnte er als Pferdelord alt werden.


Aus dem Tal trabte Eldwin heran. Es war ihm anzusehen, dass er die letzte

Raubkralle erlegt hatte. Er blieb ihm Sattel und achtete auf die Umgebung,

während Terwin auf ein Stück Leder biss und die Männer seine schlimmsten

Wunden vernähten.


»Die Nähte sind ein wenig grob«, brummte Buldwar und säuberte die

blutverschmierte Nadel. »Aber sie werden erst einmal halten. Er sollte jedoch

nicht zu weit reiten, sonst reißen sie wieder auf. Diese verdammten Biester

haben mörderische Krallen.«


Über ihnen war ein dumpfes Grollen zu hören, und Kormund blickte auf.

Finstere Wolken zogen sich am Himmel zusammen. Es würde nicht mehr

lange dauern, und der Gewittersturm brach über sie herein.


»Eldwin, reitet zum Hammergrund und berichtet dort, was sich ereignet

hat«, entschied Kormund. »Sie sollen sich die Felle der Raubkrallen holen,

das wird sie ein wenig für das verlorene Vieh entschädigen.« Er musterte den

Verletzten nachdenklich. »Und wir bringen Terwin zu Balwins Gehöft. Der

gute Herr Dorkemunt wird sich über den Besuch freuen, und wir können

Terwin dort versorgen, bis ein Heiler nach ihm sieht.«


»In Eternas könnte sich die Hohe Frau Meowyn um ihn kümmern«, meinte

Eldwin zögernd. »Sie ist die beste Heilerin.«


»Der Weg ist zu weit für Terwin, und der Sturm wird bald da sein. Das

Gehöft könnten wir gerade noch erreichen, bevor es zu blitzen und zu hageln

beginnt.«


Sie hoben den verletzten Schwertmann auf sein Pferd und saßen auf.

Erneut spürte Kormund einen schwachen Schmerz, aber es war zu ertragen.

Erleichtert setzte er den metallenen Bodendorn der Wimpellanze in den

Köcher am Steigbügel, dann gab er den Befehl zum Aufbruch.


Sie verließen das kleine Seitental und wandten sich nach links, dem

Verlauf des Bergmassivs folgend, das sich innerhalb der Hochmark wie ein

eigenständiges Gebirge erhob und doch nur ein Teil des gewaltigen Noren-

Brak war. Sie würden an Halfars Gehöft vorbeireiten. Auch dort hätten sie

Schutz vor dem Unwetter und Hilfe für Terwin gefunden, aber Kormund

drängte es danach, seinen alten Freund Dorkemunt wiederzusehen.


Das Grollen über ihnen wurde lauter, und die ersten Regentropfen fielen.

Im Sommer waren diese Unwetter verheerend genug. Der Boden war dann

von der Sonne derart ausgetrocknet, dass er die Wassermengen, die ein

Regensturm brachte, nicht schnell genug aufnehmen konnte. Im Tal von

Eternas trat dann gelegentlich der kleine Fluss Eten über die Ufer, und immer

wieder lösten sich bei den heftigen Güssen Felsen aus den Hängen und

stürzten herab. Aber das war nichts im Vergleich zur Gewalt eines

Gewittersturms, wie er im Herbst oftmals tobte. Dabei fielen nicht nur

Regentropfen vom Himmel herab, sondern auch dicke Hagelkörner, die

Mensch und Tier verletzen und Gebäude beschädigen konnten. In der hoch

gelegenen Mark Garodems waren diese Stürme besonders berüchtigt.


Auch dieses Unwetter würde bedrohlich werden, das spürte Kormund

sofort. Schon in die ersten Regentropfen mischten sich winzige Eisbröckchen,

die wie Nadeln auf die ungeschützte Haut einstachen. »Beeilung, Männer, es

wird ein schwerer Sturm.«


Doch die anderen brauchten nicht angetrieben zu werden. Sie kannten die

Gefahren, und alle waren erleichtert, als sich endlich das kleine Tal vor ihnen

öffnete, in dem Balwins Gehöft lag.


Eigentlich wurde ein Gehöft nach seinem Besitzer genannt, aber in diesem

Falle war es anders. Denn Balwins Gehöft gehörte Nedeam, dem Ersten

Schwertmann der Hochmark, der es von seinem verstorbenen Vater

übernommen hatte. Viele Jahreswenden hatte es dem jungen Pferdelord und

seinem älteren Mentor Dorkemunt als Heimstatt gedient. Gemeinsam hatten

sie hier ein wenig Hornvieh und ihre Schafe gezüchtet, doch seitdem Nedeam

als Schwertmann Garodems in Eternas diente, bewirtschaftete sein Freund

Dorkemunt den kleinen Hof allein, auch wenn es ihm im Alter zunehmend

schwerfiel.


Der kleinwüchsige Pferdelord ließ sich das nur ungern anmerken, aber die

vielen Jahre, die er kämpfend im Sattel verbracht hatte, hatten ihre Spuren

hinterlassen. Dorkemunt nahm dies ohne großes Murren hin und hatte im

letzten Jahr die Witwe eines Pferdelords und deren zwei Söhne bei sich

aufgenommen, die nun bei ihm lebten und ihm zur Hand gingen.


Der Regen wurde dichter und nahm den Männern zunehmend die Sicht.

Glücklicherweise war er noch nicht stark von Hagel durchsetzt, doch das

würde sich rasch ändern. Kormund konnte nun die einzelnen Gebäude des

Gehöfts ausmachen.


An dem halb fertigen Stall waren zwei verschwommene Gestalten zu

erkennen, und als der Trupp der Schwertmänner näher kam, hörten sie Flüche

und das Blöken von Schafen. Schließlich erkannte Kormund seinen Freund

Dorkemunt, der zusammen mit einem fast erwachsenen Jungen die kleine

Schafherde unter das schützende Dach trieb. Das Donnern des Unwetters und

das Prasseln von Regen und Eis dämpfte die Geräusche, sodass der kleine

Pferdelord die Ankunft der Reiter erst bemerkte, als diese das Gehöft

erreichten. Sofort verzog sich sein faltiges Gesicht zu einem freudigen

Lächeln.


Einer der Böcke war besonders störrisch. Dorkemunt hatte es soeben

geschafft, das Tier an den Hörnern zu packen, und der junge Mann an seiner

Seite schickte sich an, einen Riemen um die Hinterläufe zu binden. Das

Schnauben von Kormunds Pferd ließ den Jungen erschrocken aufblicken, und

der Bock nutzte die Gelegenheit. Er keilte aus, warf den Jungen hintenüber

und stürmte dann quer über den Hof.


»Bei den Finsteren Abgründen, packt das verdammte Biest«, schrie

Dorkemunt wütend auf.


Unverzüglich trieb Buldwar sein braunes Pferd an und schnitt dem Bock

den Weg ab. Das Tier senkte die Hörner, aber der Schwertmann drehte die

Lanze in seiner Hand und stieß das stumpfe Ende an den Schädel des

Widerspenstigen. Der Bock sackte auf die Hinterbeine und blieb benommen

sitzen, sodass der Junge und Dorkemunt ihn endlich fesseln konnten.


»Habt Dank für die Hilfe«, sagte der kleine Pferdelord ächzend und grinste

dann seinen Freund Kormund an. »Obwohl er mir nicht entkommen wäre,

wenn Anderim sich nicht derart erschrocken hätte.«


Der Junge zog den letzten Knoten fest und machte dabei ein beleidigtes

Gesicht. Aber dann fiel sein Blick auf Terwin, der von dem anderen

Schwertmann gestützt wurde. »Der gute Herr Schwertmann ist verletzt. Hattet

Ihr einen Kampf?« Der Junge sprang eifrig auf, um zu den Reitern

hinüberzulaufen, aber Dorkemunts Stimme hielt in zurück.


»Der Schwertmann ist in guten Händen, was ich von unserem Bock noch

nicht behaupten kann.« Dorkemunt wies zum halb fertigen Stall. »Bring ihn

zu den anderen, und dann komm ins Haus.« Der alte Pferdelord wischte sich

Regen aus Gesicht und Haaren und ignorierte die herabprasselnden Eisstücke.

»Stellt eure Pferde unter, Freund Kormund. Ich habe unsere schon in den Stall

gebracht. Er ist zwar noch nicht fertig, aber dieser Gewittersturm wird übel,

und das Dach bietet etwas Schutz.«


Kormund und der andere Schwertmann halfen dem Verletzten vom Pferd

und führten ihn zum Haus hinüber, während Buldwar die Reittiere in

Sicherheit brachte. Immer mehr kleine Eiskörner mischten sich in den Regen,

und es hörte sich an, als würde ein Hagel von Pfeilen auf die Dächer

trommeln. So waren sie alle froh, als sie den Schutz des Hauses erreichten.


Als sie eintraten, empfing sie eine blonde Frau in mittleren Jahren, die

beim Anblick Terwins nicht zögerte und den Männern sofort half, ihn in eine

der Kammern zu bringen. »Helft mir, seine Kleidung zu öffnen, damit ich mir

die Wunden ansehen kann.«


»Wir haben sie schon versorgt, gute Frau.« Kormund legte Helm und

Umhang ab und setzte sich seufzend auf die Bank unter dem Fenster.


»Das will ich Euch gerne glauben, guter Herr Kormund«, erwiderte die

Frau freundlich. »Aber in solchen Dingen sind die Hände einer Frau oft

geschickter als die eines Mannes.«


»Hm.« Buldwar schätzte es nicht, wenn man an der Qualität seiner Stiche

zweifelte, und sein Blick verriet deutlich seinen Unmut.


»Glaubt mir, Buldwar«, wandte Dorkemunt in versöhnlichem Ton ein,

»die gute Frau Henelyn versteht sich auf die Wundversorgung. An ihr ist

wahrhaftig eine Heilerin verloren gegangen.«


»Nun, wenn Ihr es sagt, guter Herr Dorkemunt.« Buldwar legte seinen

Waffengurt ab und sah die blonde Frau forschend an. »Soll ich Euch zur

Hand gehen?«


»Ich komme zurecht.« Henelyn öffnete Terwins Kleidung und betrachtete

die Binden, die teilweise durchblutet waren. »Doch, Ihr könntet vielleicht so

freundlich sein und mir heißes Wasser bringen.«


»Und frische Tücher«, wies Dorkemunt einen Knaben an, der sich im

Hintergrund hielt und die Schwertmänner mit großen Augen ansah. »Geh,

Lenim, und hilf deiner Mutter. Die Tücher sind in der Truhe.«


Der Junge nickte und konnte den Blick kaum von den Männern lösen, bis

ein Ruf der Mutter ihn fortriss.


»Es sind gute Jungs, sie kommen nach ihrer Mutter«, sagte Dorkemunt

leise und öffnete den kleinen Schrank, in dem Brot, Käse, Trockenfrüchte und

Fleisch aufbewahrt wurden. »Henelyn hat es nicht leicht mit ihren Kindern.

Sie vermissen ihren Vater Kelmos, der vor Merdonan fiel.« Er lächelte und

zuckte die Schultern. »Ah, und ich werde wohl auch meinen Teil zu dem

Durcheinander beitragen. Frauen haben einen anderen Ordnungssinn als wir.«


Allein konnte Dorkemunt das Gehöft nicht mehr bewirtschaften, und die

hübsche Witwe hatte sein Angebot gerne angenommen, mit ihren Kindern zu

ihm zu ziehen. Der Pferdelord war aus dem Alter heraus, da er schönen

Frauen nachstellte, obwohl Henelyns Anblick einen Mann durchaus in

Versuchung bringen konnte. Aber er konnte der kleinen Familie ein Heim

bieten und erhielt als Gegenleistung die Unterstützung, die er benötigte. Es

war zu gegenseitigem Vorteil, doch manchmal bereute Dorkemunt seinen

Entschluss. Oft hörte er in der Nacht das Weinen Henelyns, die um ihren

Mann trauerte, oder das leise Schluchzen der beiden Jungen, die ihren Vater

vermissten. Dann fühlte der alte Pferdelord sich hilflos und verfluchte sein

Unvermögen, den dreien ausreichend Trost zu spenden. Er versuchte in seiner

raubeinigen Art, ihnen über den Kummer hinwegzuhelfen, hielt sie

beschäftigt und vermittelte, was er an Wissen besaß. Gelegentlich hörte er

dann das Lachen von Mutter oder Kindern, und das waren die Augenblicke,

in denen er merkte, dass er ihnen doch etwas gab. Eines Tages würde sich

Henelyn sicherlich auch wieder einem Mann öffnen können, und der kleine

Pferdelord verspürte zwiespältige Gefühle bei diesem Gedanken.


»Es ist ein ungewöhnlich schwerer Gewittersturm für diese Jahreszeit«,

brummte Buldwar.


»Und ungewöhnlich kalt ist es auch«, erwiderte Dorkemunt. »Wir werden

einen harten Winter bekommen.«


»Ja, die Schafe haben dicke Wolle angesetzt.« Kormund sah sich in der

Stube um und bemerkte, dass sein Freund sich die Bettstatt im Wohnraum

errichtet hatte. Offenbar wollte er es Mutter und Kindern möglichst bequem

machen. Dorkemunt bemerkte den Blick des Scharführers und lächelte sanft.

»Ich habe genug Platz, alter Freund. Zudem liege ich dort etwas näher am

Kamin, und inzwischen weiß ich die Behaglichkeit eines wärmenden Feuers

zu schätzen.«


Kormund nickte verständnisvoll. »Du hättest für die Kinder einen Raum

anbauen können.«


»Das Haus ist gut, so wie es ist. Wehrhaft und stabil.«


Damit hatte Dorkemunt seinem Freund alles gesagt. Sie waren Pferdelords,

und der Schutz der Familie hatte Vorrang vor ihrer Bequemlichkeit. Ein

Mauerdurchbruch für einen Anbau hätte das Haus geschwächt. Und ein

zusätzliches Gebäude zu errichten, in dem er oder die Kinder schlafen

konnten, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Denn wurde das Gehöft

angegriffen, musste die Familie versammelt sein und zusammenstehen, um

den Feinden, seien es zweibeinige oder vierbeinige, zu begegnen.


»Wie steht es mit deinen Vorräten, alter Freund?«, fragte Kormund.


Dorkemunt füllte seinen Becher nach und schob den Krug zu den anderen

hinüber. »Nehmt, Freunde. Mit Wasser verdünnter Wein. Genug, um etwas

Geschmack auf der Zunge zu haben, aber zu wenig für einen Rausch.«


»Er wird dennoch gehaltvoller sein als der, den man im ›Donnerhuf‹ in

Eternas bekommt«, spottete Buldwar. »Je mehr der Schankwirt Malvin an

Jahreswenden zulegt, desto sparsamer geht er mit den Trauben um.«


»Nun, Dorkemunt?« Der Scharführer sah seinen Freund auffordernd an.


Der kleine Pferdelord zuckte die Schultern. »Die letzten Jahreswenden

waren hart, Kormund, alter Freund. Ich muss gestehen, allein hätte ich das

Gehöft wohl nicht halten können. Aber gemeinsam mit Henelyn und ihren

Söhnen schaffe ich es. Wir werden über den Winter kommen, Kormund, sei

unbesorgt. Etwas Futter für das Hornvieh brauchen wir noch, aber das ist kein

Problem. Weißt du, alter Freund, als ich noch allein war, konnte ich die Wolle

nicht spinnen. Aber nun macht Henelyn hervorragende Fäden daraus, und du

weißt, die bringen einen guten Preis. Nein, du brauchst dich wirklich nicht zu

sorgen.«


Kormund nickte erleichtert. »Ja, die letzten Jahreswenden waren sicherlich

hart für dich.« Er beugte sich ein wenig näher zu Dorkemunt. »Etwas an

Henelyns Blick gefällt mir nicht.«


Der kleine Pferdelord senkte seine Stimme ebenfalls. »Es sind die grünen

Umhänge, alter Freund. Sie war glücklich mit ihrem Mann Kelmos. Aber

dann folgte er Garodems Banner nach Merdonan und kehrte nicht mehr

zurück. Der Anblick der grünen Umhänge lässt ihre Wunden wieder

aufbrechen.«


Dafür hatte Kormund Verständnis. Egal, wie ruhmreich ein Kampf auch

verlief, immer gab es Opfer und Frauen und Kinder, die allein zurückblieben.

Zwar sorgte das Pferdevolk für die seinen, aber das minderte nicht den

Schmerz über den persönlichen Verlust.


Dorkemunt räusperte sich und deutete zur Kammer hinüber, in der die

blonde Witwe den verletzten Terwin versorgte. »Lenim ist nun fünfzehn

Jahreswenden alt, und er könnte bald den Eid als Pferdelord ablegen. Ich

glaube, er ist dazu bereit, aber er weiß auch, welchen Schmerz er seiner

Mutter damit zufügen würde.« Er zuckte die Schultern. »Ich kann nicht sagen,

wie er sich entscheiden wird.«


Kormund schenkte sich nach. »Der Jüngere scheint schon jetzt bereit zu

sein.«


»Anderim? Er ist jetzt zwölf und kann es kaum erwarten, ein Pferdelord zu

werden. Ah, du solltest seine Augen sehen, wenn ich vom Sturm unserer

Beritte erzähle.« Der alte Pferdelord seufzte. »Natürlich nur, wenn Henelyn

nicht dabei ist.«


Buldwar räusperte sich vernehmlich, und als Dorkemunt und Kormund

ihre Köpfe hoben, sahen sie die blonde Frau in der Türöffnung ihrer Kammer

stehen. In ihren Händen hielt sie einige blutige Binden. »Eure Stiche waren

gut, Pferdelords. Dennoch habe ich eine der Nähte erneut geöffnet. Eine

Wunde muss sauber sein, bevor sie verschlossen wird, sonst entzündet sie

sich.«


»Wir waren in großer Eile«, murmelte Kormund entschuldigend.


»Ihr Pferdelords seid meist in großer Eile.« Die Frau legte die Binden in

einen Korb und wusch sich die Hände. Dabei hob sie lauschend den Kopf.

»Der Sturm ist ungewöhnlich stark. Wird das Dach halten, guter Herr

Dorkemunt?«


»Dieses in jedem Fall. Es ist aus guten Steinplatten und fest gefügt.« Der

kleine Pferdelord wiegte den Kopf. »Was den Stall betrifft, bin ich mir nicht

so sicher. Wir haben sein Dach mit Stein gedeckt, aber noch nicht mit

Grassoden belegt. Immerhin sind die Balken und Stützen tief eingegraben und

fest. Es wird wohl halten.«


»Hoffentlich. Wir können uns nicht erlauben, Schafe oder Hornvieh zu

verlieren«, seufzte die Witwe. Sie trocknete ihre Hände ab und trat an den

Tisch. Die anderen rückten ein wenig zusammen, um ihr Platz zu machen,

und auch die beiden Jungen gesellten sich dazu.


»Für Anderim nur Wasser«, sagte Henelyn rasch. »Es hat noch Zeit, bis er

vom Wein kosten kann.«


Der zwölfjährige zog eine Schnute, aber als Dorkemunt ihn mahnend

ansah, nickte er rasch.


»Wie macht sich Nedeam, alter Freund?«, fragte Dorkemunt, da sich

verlegenes Schweigen am Tisch ausbreitete.


Kormund lehnte sich ein wenig zurück und grinste breit. »Nichts gegen

den Hohen Herrn Tasmund. Du weißt, Dorkemunt, ich schätze ihn sehr. Aber

Nedeam ist wohl der beste Erste Schwertmann, den die Marken jemals

hatten.«


Die anderen Schwertmänner nickten beifällig, und Buldwar lächelte

verschmitzt. »Nur im Umgang mit der Lanze tut er sich schwer.«


»Hört, hört«, brummte Kormund und schlug Buldwar auf die Schulter.

»Das sagt mir gerade der Richtige.«


Dorkemunt wies zur Tür, neben der seine Axt lehnte. »Er schätzt den

Bogen, wie ich meine Axt schätze. Aber er ist der beste Pferdelord, dem ich je

begegnet bin. Nun, von mir vielleicht einmal abgesehen.«


»Die Männer werden ihm jedenfalls folgen«, sagte Kormund, und sein

Gesicht wurde ernst. »Er wird Garodems Banner und der Hochmark Ehre

machen. Anders als Garwin, der mir Kummer bereitet.«


Garwin war der Sohn von Pferdefürst Garodem und dessen Gemahlin

Larwyn. Garodem hatte all seine Hoffnung in den Sohn gesetzt, aber seine

Erwartungen schienen enttäuscht zu werden. Obwohl sich Garwin als

perfekter Reiter und Kämpfer erwies, fehlten ihm die Achtung vor den

Traditionen des Pferdevolkes und, was noch weitaus bedenklicher war, der

Wille, sich vorbehaltlos für das Volk und dessen Freunde einzusetzen.


Dennoch würde der Sohn des Pferdefürsten eines Tages, wenn Garodem

den letzten Ritt zu den Goldenen Wolken antrat, das Banner der Hochmark

aufnehmen und ihre Geschicke lenken. Eine Vorstellung, die viele

Pferdelords mit Unbehagen erfüllte.


»Garodem hat seinem Sohn mehr Verantwortung übertragen«, seufzte

Kormund. »Er hofft, dass er daran wachsen wird. Niemand zweifelt an

seinem Mut, doch viele misstrauen seinem Herzen.« Er sah seine Leute

drohend an. »Doch das bleibt unter uns, Schwertmänner der Mark. Sollte

Garwin eines Tages das Banner des Hohen Lords aufnehmen, darf kein

Zweifel an seinem Führungsanspruch aufkommen.«


Buldwar wandte sich zur Seite und spuckte aus. Als er Henelyns Blick

bemerkte, errötete er und verrieb den Speichel hastig mit dem Stiefel auf der

Steinplatte des Bodens. »Möge Garodem das lange Leben der Elfen

beschieden sein.«


Dorkemunt nickte. »Darauf will ich gerne meinen Becher erheben.«


Kormund schenkte allen nach, wobei Henelyn sehr darauf achtete, dass der

junge Anderim auch diesmal keinen Wein erhielt. »Auf den Hohen Lord

Garodem und die Hochmark des Pferdevolkes.«


»Schneller Ritt …«, stimmte Dorkemunt ein.


»… und scharfer Tod!«, ergänzten die anderen die Losung der Pferdelords.


Henelyns Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, und Dorkemunt spürte,

dass der Trinkspruch böse Erinnerungen in ihr wachrief. Aber sie war eine

Frau des Pferdevolkes und würde der Vergangenheit nicht ewig ausweichen

können. Ein Volk wie auch der Einzelne musste aus seiner Geschichte lernen,

sonst hatte keiner von beiden eine Zukunft. Eine Weisheit der Elfen, der

Dorkemunt aus ganzem Herzen zustimmte.


»Der Sturm legt sich.« Kormund hob lauschend den Kopf, und die anderen

taten es ihm gleich.


»Du hast recht, alter Freund.« Dorkemunt erhob sich, trat an eines der

Fenster und öffnete den Rahmen mit der wertvollen Klarsteinscheibe. Früher

waren die Fenster des Gehöfts mit Schafdarm bespannt gewesen und hatten

wenig Licht hereingelassen und kaum Ausblick nach draußen geboten. Doch

inzwischen florierte der Handel, und der durchsichtige Klarstein hielt überall

Einzug in den Häusern. Er bot freie Sicht, war fast ohne Schlieren und, zu

Henelyns Entzücken, leicht zu reinigen. Der kleine Pferdelord stieß den

Sturmladen auf und atmete tief durch. »Ja, das Unwetter ist vorbei. Noch

etwas Regen, aber kein Eis mehr in der Luft, und es klart schon wieder auf.«


»Dann sollten wir aufbrechen.« Kormund erhob sich. »Ich würde es

begrüßen, gute Frau Henelyn, wenn Terwin noch ein wenig bei Euch bleiben

könnte.«


»Das ist selbstverständlich, guter Herr Scharführer«, erwiderte sie

freundlich. »Ich hätte es ohnehin nicht zugelassen, wenn Ihr ihn nun schon

hättet mitnehmen wollen. Er muss sich erst erholen, bevor er wieder ein Pferd

besteigen kann.«


»Unter Eurer kundigen Pflege wird das rasch geschehen«, versicherte

Kormund lächelnd. »Dorkemunt, mein Freund, lass uns nachsehen, ob das

Gehöft Schaden genommen hat. Wir werden erst reiten, wenn alles in

Ordnung ist.«


Aber Gebäude und Tiere hatten den Gewittersturm unbeschadet

überstanden. Dorkemunt und Henelyn standen mit den Kindern vor dem

Haupthaus, als Kormund mit seinen Begleitern aufsaß und den Bewohnern

des Gehöfts zum Abschied zunickte.


»Grüß mir Nedeam, alter Freund«, rief Dorkemunt dem Scharführer nach.


»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte dieser und gab das Zeichen

zum Aufbruch.


Die Hufe der Pferde patschten über den aufgeweichten Boden, als die

kleine Gruppe aus dem Seitental in das weite Haupttal ritt, durch das die

Handelsstraße der Mark verlief. Links führte der Weg in die Hochmark

hinein, zu den großen Weilern und schließlich zur Stadt und Festung von

Eternas. Rechts ging es zum südlichen Pass mit seiner gut bewachten

Schlucht, der die Verbindung zu den anderen Marken des Pferdevolkes schuf.

Ein Stück voraus erkannte man den Turm, der sich am Nordende des Passes

erhob. Er war von einer kleinen Wachtruppe der Schwertmänner besetzt und

trug eines der Signalfeuer, welche die Marken miteinander verbanden und bei

Gefahr die Pferdelords zu den Waffen riefen. Unterhalb des Turms erkannte

man den Einschnitt, der in die Schlucht hineinführte.


»Bewegung am Pass, guter Herr Kormund«, sagte Buldwar in die Stille

hinein.


»Habe ich gesehen.« Kormund verengte die Augen. »Das sieht mir nicht

nach den Wagen eines Handelszuges aus. Buldwar, deine Augen sind besser.

Was kannst du erkennen?«


»Eine kleine Marschkolonne. Eine Handvoll Reiter und etwas Fußvolk.«

Buldwar stieß einen überraschten Laut aus. »Ein blaues Elfenbanner. Ah,

Scharführer, es scheint, als würde die Mark Besuch von den Elfen

bekommen.«


»Elfen?« Kormund reckte sich im Sattel und blickte unbewusst in

Richtung Eternas. »Das ist wahrhaftig ein seltener Besuch. Elfen verlassen

die Länder ihrer Häuser nicht ohne guten Grund. Da wird es wohl interessante

Neuigkeiten geben. Kommt, Männer der Mark, lasst uns die Gäste begrüßen

und nach Eternas geleiten.«


Die Reiter trabten an, und je näher sie der kleinen Formation der Elfen

kamen, desto mehr verspürte Kormund Unbehagen. Die Elfen waren Freunde

des Pferdevolkes und hatten Seite an Seite mit ihm gefochten. Dennoch war

es ungewöhnlich, dass sie die Hochmark aufsuchten, noch dazu, wie

Kormund feststellte, mit Elodarion und Jalan, den Führern von zweien ihrer

Häuser. So sehr es ihn auch freute, sie nun in der Hochmark willkommen zu

heißen, so spürte er doch mit dem Instinkt eines Pferdelords, dass der

unerwartete Besuch nichts Gutes zu bedeuten hatte.


Die Pferdelords 06 - Die Paladine der toten Stadt

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