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Die wiedergefundene Zukunft Kraftplatz Liebing, 7443 Mannersdorf an der Rabnitz
ОглавлениеDa stehen sie, die Riesen aus einer anderen Welt, und geben Rätsel auf. Hunderte Jahre lang schon spenden sie Kraft und Schatten. Im Frühjahr recken sich die reifen Dolden wie Christbaumkerzen auf den Zweigen und zeigen dem Himmel ihre Blüten, im Herbst werfen sie stachelige Bällchen ab, worin sich braune Kleinode befinden. Nicht alle von ihnen sind essbar. Die edleren schon. Bis zu drei davon stecken in der Dornenhülle. Flach sind die Früchte, herzförmig. In früheren Tagen sagten die Menschen „Kartoffel der Armen“ oder „Brot des kleinen Mannes“ dazu. Ihres hohen Stärkegehaltes wegen wurden sie zu Mehl gemahlen und zum Brotbacken verwendet. „Maronen“ nennt man sie heute, die Zuchtsorte der ursprünglichen Esskastanie. Man kann sie in der Glut rösten, im Backofen backen oder in Wasser kochen. Vereinfacht gesagt: Die spitzen, behaarten Esskastanien landen in der Küche, die runden, glatten Rosskastanien auf dem Basteltisch der Taferlklassler.
Am Kraftplatz
Weshalb die urzeitlich anmutenden Bäumlinge an diesem Platz wurzeln, vermag keiner mehr zu sagen. Maria Theresia könnte sie gebenefizt haben, demnach wären sie gut zweihundertfünfzig Jahre alt. Kastanien nährten damals die Bedürftigen und davon gab’s zur Kaiserzeit eine Menge. Möglicherweise wurden sie auch später gepflanzt, beseelte Mönche vermeinten den Platz als einen segensreichen zu erkennen und trachteten danach, sich dessen Kraft zunutze zu machen. Wie immer.
Das mittelburgenländliche Liebing, Bezirk Mannersdorf, besitzt zwar nur zweihundert Einwohner, aber mindestens dreimal so viele Kastanienbäume. Und einen Kraftplatz, der sich gewaschen hat. Ein paar Schritte außerhalb des Örtchens, wo die Hauptstraße in die Fünfundfünfziger mündet, von der wiederum ein Feldweg abzweigt, stehen sie in Formation: Baumriesen vergangener Zeiten. Hier haben sie überlebt. Eher schlecht als recht, denn manche von ihnen sind hohl, vermorscht oder bereits abgestorben. Andere aber haben noch genügend Leben in sich, das auf die menschliche Psyche eine wohltuende Wirkung hat. Neben dem Naturerlebnis ist der Besuch des Kastanienhains also auch aus ganzheitlich medizinischer Sicht zu empfehlen. Radiästheten haben die Erdplätze um die Baumriesen vor mehreren Jahren untersucht: Keine zwanzig Minuten (im Schnitt) genügen, um die aus Urzeiten gespeicherte Kraft in Energie umzuwandeln. Das Strahlenfeld unter den Bäumen soll jenem in Pyramiden ähneln. Vergleichbares wurde am australischen Ayers Rock entdeckt, bei den peruanischen „Wüstenlinien“ am Hochplateau zwischen Nazca und Palpa, in Stonehenge und – am Druidenweg im Yspertal. Esoteriker erkennen in diesen Plätzen Orte der Ruhe, der Inspiration, des Trosts und der Kraft. Einer dieser energetischen Plätze liegt zu Füßen der aus der Dimension geratenen Kastanienbäume von Liebing im Mittelburgenland.
Bänke und umgelegte Baumstämme laden zum Verweilen ein. Und tatsächlich, als ich eintreffe, bin ich umzingelt: Im Gras liegend, die Arme zum Himmel erhoben, auf Steinen in Gebärhaltung hockend oder auf Zehenspitzen balancierend, Esoterik-Gruppen tummeln sich Stamm auf, Stamm ab. Natürlich habe ich Respekt vor der Sehnsucht und dem Bedürfnis Andersgläubiger. Dennoch, ich kann mir eine gewisse Häme nicht verkneifen, wenn ich Scharen von Urkreisanbetern beobachte. Ich selbst habe nie Ähnliches empfunden, also bin ich skeptisch. „Cogito ergo sum“, rette ich mich in profanen Zitatenschatz und belasse „Überirdisches“ den Leichtgläubigen. Die Angebote griechischer Insel-Sommerkurse wie „Mein Weg zum Ich“, „Schrei dich frei“ oder „Heute schon geatmet?“, das Hör-Seminar „Dein Ohr als spirituelle Klangschale“ und der Kursus „Tanze deinen Namen“ fanden immer schon ohne mich statt. Der Ahnungslose kann leicht lästern, gewiss, und immer schon wunderte ich mich über Menschen, die mit seelenvollem Blick zwischen Monolithen töpfern oder quer durch urzeitliche Farne wünscheln, immer auf der Suche nach rechtsdrehenden Wasseradern oder geomantisch positiv aufgeladenen Kraftlinien.
Und nun also hier. Ich schlendere an den alten Baumlackeln vorbei, berühre die Stämme, mache mir so manchen Reim auf die Sinnhaftigkeit übernatürlicher Kräfte und lese kopfschüttelnd die Schautafeln, die Lernwilligen Auskunft geben über die Kraftfelder wundertätiger Natur. „Dieser Punkt eignet sich gut bei einer Harmonisierung des energetischen Feldes mit allen sieben Chakren“, lese ich. Oder: „Die Energien erteilen den Besuchern eine umwandelnde Kraft und Vitalität für deren Körper, Knochen, Verdauungstrakt, Gehirn, Blut, Atemwege, für neurologische, energetische Aura- und Zellfunktionen sowie Lebensprozesse.“ Na bumm, denke ich, da bin ich eben recht am Ort. Hier gibt’s nichts, was man nicht brauchen könnte. Und dann lese ich noch, dass die empfohlene Verweildauer auf diesem Kraftfeld nicht unter dreißig Minuten liegen soll, ich zur Belohnung aber einen Energiewert von zumindest dreihunderttausend „Bovis“ (was immer das ist) sowie eine Heilungschance von schlanken fünfundsiebzig Prozent lukriere. Das ist eindrücklich. Ich steuere einen anderen Riesen an und erfahre, dass ich hier auch noch meine „hormonellen Störungen, motorischen Einschränkungen und alle Magen-, Darm- und Hämorrhoidenprobleme“ loswerde.
Ich habe genug. Obwohl nichts davon auf mich zutrifft, werde ich von all dem geheilt. Die Sinnhaftigkeit fehlt, die Häme überwiegt, der Magen knurrt. Time to say goodbye. Ich lasse Überirdisches hinter mir und steuere meine sehr reale rote Freundin an. Der Schlüssel ist weg. Ich suche die Taschen ab, taste, fühle, tappe, in der Jacke, im Rucksack. Nichts. Ich habe keinen Schlüssel mehr. Ohne den aber macht das Vespa-Fahren wenig Spaß. Was tun? Verzweifeln erst mal. Ich suche den Weg ab, schnüffle in den umliegenden Büschen, kehre zurück zum Kraftplatz, treffe erneut auf die Esoterikgruppen, die längst einen anderen Kraftbaum umringen und sich gegenseitig elektromagnetische Wechselwirkungen durch Leib und Seele schicken. Ich nicke schuldbewusst in ihre Richtung, falle indes auf allen Plätzen, die ich in der letzten Stunde besucht habe, auf die Knie und betaste das feuchte Moos am Fuße der Baumriesen. Nichts. Von drüben dringt Säuseln durch die Farne. Eine der Gruppen schüttelt kollektiv die Hände aus, verschraubt die Hälse, während der Om-Ton langsam anschwillt. Es fehlte noch, dass sie sich die Kleider vom Leib reißen und in kollektives Stöhnen verfallen. In diesem Augenblick … Ich glaube es nicht. Im Gras vor mir blitzt Metallisches, daran ein bunter Schlüsselanhänger. Das Wunder ist vollzogen, der Rückzug gesichert. Ich stehe vor dem vielleicht kostbarsten Fund der Neuzeit: Unter einem viele Jahrhunderte alten Kastanienbaum liegt mein Zündschlüssel. Blinzelt er mir zu? Nein. Jetzt nur nicht sentimental werden. Ich habe bloß wiedergefunden, was ich bereits verloren meinte.
Die wiedergefundene Zukunft
Mein Blick fällt auf die Schautafel des Kraftplatzes Nr. 1. Direkt darunter liegt mein kleiner, großer Schatz. Auf dem Brettchen steht schwarz auf weiß: „Linderung bei Knochenbauproblemen, Gehörschwierigkeiten und Sehproblemen. Hundertfünfzigtausend Bovis. Heilungschance fünfundsiebzig Prozent.“ Ich bücke mich. In diesem Moment sieht einer der Jünger aus dem Baumkreis zu mir herüber und bemerkt meinen Kniefall. Er nickt, lächelt und spitzt die Lippen zu einem Kussmund. Ich zwinkere zurück, erhebe mich, schicke ihm meinerseits ein Luftbussi und trolle mich – vorbei an den Kraft spendenden Urbäumen, in Richtung Sonnenuntergang.
Die Kastanienbäume haben auch an mir ein Wunder vollzogen. Bedeutet dies meine Inauguration als Mitglied der Gruppe der Wundergläubigen und Spiritualisten? Eher nicht. Dennoch: Einen kleinen, gar nicht unbedeutenden Zufall zur rechten Zeit nehme ich gerne als kleinen Wink außerirdischer Kraft mit. Besonders wenn er mir hilft, die Vespa zu starten und einer vom ersten Abendrot beschienenen, wiedergefundenen Zukunft entgegenzufahren …