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Das Burgenland entdecken! Versuch einer Annäherung
ОглавлениеDer Bub sitzt im Fond des dottergelben Opel Rekord, eingepfercht zwischen Weinkisten, Taschen und Omama, indes der strenge Herr Papa hinterm Volant sitzt, den Hut am Kopf, die Hände in kokett gelöchertem Sämischleder. Aufmerksam mustert der Herr Chauffeur die bügelbrettflache Landschaft, weicht geschickt den aus den Feldwegen einbiegenden, mit Bergen von Weintraubenbutten beladenen Leiterwägen aus, um endlich auf der schnurgeraden Straße zwischen Jois und Purbach seiner Lust am „Dahinbrettln“ freien Lauf zu lassen. Wenn sich die Tachonadel bei Tempo siebzig einzittert, saugt die Mutter hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und stemmt sich mit all ihrer Kraft auf ihr (imaginäres) Bremspedal, worauf der Vater-Blick gestrenger wird, als er ohnehin schon ist. „Die Straßen sind zum Fahren da“, brummt er und betätigt das Gaspedal nur noch heftiger.
Der Wiederaufbau des beginnenden Wirtschaftswunderlandes ist in vollem Gange, die Herren duften nach Haarcreme und Tabac-Rasierwasser, und die Mädels stecken in Karottenhosen oder Jersey-Hemdblusenkleidern. So auch die Mutter des damaligen Dreikäsehochs. Um die Dauerwelle zu schützen, hat sie heute ein groß gemustertes Tuch aus Dralon um den Kopf geschlungen – unter der amerikanischen Sonnenbrille trägt Frau von Welt die Wimperntusche aus dem Hause Winterstein: La Bella Nussy. Die städtischen Ausflügler putzen sich an Sonntagen fein heraus. Auch der Bub steckt im Feiertagsgewand: Ein allerletztes Mal darf er heute die „Kurze“ anhaben, seine Füße aber stecken schon in den von der reichen Katzi Steinbrecher abgelegten Übergangsschuhen, unverhandelbare Vorboten der kühlen Jahreszeit. Die Omama, bei Familienfahrten oftmals als Lastenträgerin und Kofferraumschlichterin eingesetzt, komplettiert.
Im Ortsgebiet wird die Fahrgeschwindigkeit stark reduziert, der Herr Papa, der sich sonst nicht ungern mit den Gendarmen anlegt, achtet darauf, dass heute die Scheine nicht zum Autofenster hinausflattern, denn man hat Großes vor. Die Mutter jauchzt beim Anblick der Standln, die zu beiden Seiten der Straßen wie die Dominosteine aufgereiht stehen, kaum dass die Familienkutsche die geduckten burgenländischen Häuser passiert, laut auf. Trauben und Erdäpfel werden in der „goldenen Jahreszeit“ in Steigen angeboten, und die vorüberkommenden Städter greifen gerne zu.
„Ich liiiiiebe das Burgenland!“, ruft sie den einheimischen Burschen zu, während die der übermütigen Städterin sehnsuchtsvoll zuwinken.
„Omama, brauchen wir noch Erdäpfel?“, kreischt sie fröhlich gegen den Fahrtwind an, denn eins, zwei, drei macht ihr das Fahrtempo gar nichts mehr aus, und noch ehe aus dem Fond des Wagens ein schwerhöriges „Waaas?“ ertönt, steigt der Vater, kaum dass das Ortsende-Schild in Sichtweite kommt, wieder auf die Tube, worauf die Mutter, hin und her gerissen zwischen Lust und Enttäuschung, reflexartig auf die Beifahrerbremse steigt und ihr unvermeidliches „Nicht so schnell, Goschi!“ stöhnt.
Tage vorher schon sorgt der alljährlich wiederkehrende Familienausflug für Vorfreude. Die Realität aber erweist sich als widerspenstig: Die Mutter, glücklich über die Spritztour in ihr Lieblingsbundesland, verbleibt ob der „Raserei“ des Vaters mehr als nur angespitzt, der Vater, den anschließenden Heurigenbesuch im Visier, wird von seiner Frau zum wievielten Male zum „Vernünftigsein“ angehalten, kaum dass das erste Achterl in Nipp-Nähe kommt, die Omama, die sich ein Näschen voll Ungarn (wo ihre Wurzeln liegen) erhofft, indes der Herr Schwiegersohn wie zufleiß an allem Pannonischen vorbeibraust, und endlich der Bub, der einmal mehr ein Kopftüchl „gegen den Zug“ verordnet bekommt, von den festen, ausrangierten Katzi-Schuhen ganz zu schweigen. So hat ein jeder nicht wirklich das, was er sich erhofft, jedoch genug, womit er sich zu bescheiden hat.
Die alljährliche Expedition ins Burgenland erreicht ihren Höhepunkt, wenn der Weinhauer des Vertrauens erreicht ist, die Omama die Weinkisten mit dem Leergut in die Hofeinfahrt schleppt, die Mutter das Kopftuch des Buben herunternestelt, der Vater die hastig gerauchte Belohnungs-Nil austritt, und die Familie schließlich die holprigen Steinstufen in den bacchantischen Keller hinuntersteigt. „Jöschaschna, ist das glatt!“, sagt die Muttermutter und krallt sich am Geländer fest. Hier unten geschieht das Unvermeidliche: Der Vater leckt sich zufrieden die Lippen, die Mutter beginnt nach dem ersten Schluck zu kichern, die Omama verzieht das Gesicht („Höchstens ein Stamperl Eierlikör!“) und der Bub ist zum ersten Mal an dem Tag zufrieden – das Tüchl ist endlich weg und die klobigen Schuhe schützen gegen die Kälte.
Die Weinverkostung gewinnt an Schwung. Obwohl die Erwachsenen wissen, was sie wollen und wie das Gewünschte schmeckt, muss man doch pflichtschuldig dem ersten „Staubigen“ die Aufwartung machen, indem man unter „Oh!“ und „Ah!“ und „Heuer ist es aber ein ganz besonderes Tröpferl!“ das goldene oder rote Getränk einer fachkundigen Verkostung unterzieht, es für „TADELLLLOS!“ befindet, worauf der Weinbauer entschlossen Kiste um Kiste die steile Treppe hinaufwuchtet, gefolgt von der bereits reichlich illuminierten Degustationsrunde (die eigentlich einzig und allein aus dem Vater besteht). Oben übernimmt die Omama die neue Lieferung und „zaht“ Unmengen von Dopplern zum geöffneten Kofferraum, während der Vater bezahlt, die Mutter das Erdäpfel-Sortiment in der Küche der Dame des Hauses begutachtet und der Bub sich vor einem heimtückischen Überfall der Hofgänse in Sicherheit bringt.
Als alles bereit zur Abfahrt ist, steigt das obligate Abschiedswinken, der Schwur, auch im nächsten Herbst wieder pünktlich zur Stelle zu sein, und nachdem man sich gegenseitig ein „gutes Geschäftsjahr“ und ein herzhaftes „G’sund bleiben!“ wünscht, steigt der Vater auf des Opels Tube, die Mutter auf die Bremse, die Omama krallt sich an den Taschen voller Erdäpfel fest, während der Bub sich das wieder verpasste Tüchl vom Kopf reißt und beschließt, die Fahrt über zu bocken.
Diese, meine alljährlichen Begegnungen mit dem jüngsten aller österreichischen Bundesländer sind lange schon Geschichte. Vater, Mutter und Omama sind allesamt schon längst vorausgegangen und verkosten jetzt anderswo den jungen Wein, der Opel ist verschrottet, die Doppler-Flaschen sind in anachronistischer Versenkung verschwunden, über das Buben-Kopftuch liegt der Mantel des Vergessens, und, das Wichtigste, der heimische Wein lebt lange schon nicht mehr vom Ondit seiner selbst, sondern von der De-facto-Qualität einer neuen Winzergeneration.
Ja, das Burgenland hat sich herausgeputzt, und der Ruf besteht längst nicht mehr aus Saufen, Störchen und See. Im Gegenteil. Seit den Neunzehnsiebzigerjahren haben kluge Köpfe jede Menge Grips und Kohle investiert – und das Ergebnis ist verblüffend. Das Land hat sich in allen Belangen selbst überholt. Unzählige große und kleine Initiativen ließen es zum europäischen Chimborasso kulturellen Selbstbewusstseins aufschließen: die Gelsenbastionen Mörbisch und St. Margarethen, das Gidon-Kremer-Kammermusikfest in Lockenhaus, das Haydn-Festival in Eisenstadt, das Liszt-Zentrum in Raiding, das länderverbindende picture on festival Bildein, die interkulturelle KUGA Großwarasdorf, nicht zu vergessen der Literaturweg Csaterberg, die Hianzen-Gesellschaft in Oberschützen, die Osliper Cselley Mühle, das Künstlerdorf Neumarkt, die Rabnitztaler Malerwochen, das Jazz Festival Wiesen und und und …
Und erst die Vielfalt der Museen! Vom Auswanderermuseum Güssing, dem Erwin Moser Museum Gols, dem Land Art Project The Pit in Breitenbrunn, dem Dorfmuseum Mönchhof, dem Museum für Baukultur in Neutal, dem Wimmer-Museum Oberschützen, dem Skulpturenpark Pöttsching bis zum Stiefelmachermuseum Rechnitz und dem Töpfermuseum in Stoob – und das sind, bei der Ikone von Kasan, potzneusiedelnocheinmal, bei Gott noch lange nicht alle!
Wer bitte weiß um den Kraftplatz Liebing, um die größte Marillen-Gemeinde Österreichs in Kittsee, um das Kanufahren im Drei-Länder-Eck des Naturparks Raab-Őrség-Goričko? Wer weiß vom Grasschizentrum Rettenbach oder dem von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommenen Neckenmarkter Fahnenschwingen?
Man staunt über die Vielfalt und den Reichtum von Schlössern und Burgen: Deutschkreutz und Bernstein, Lockenhaus und die Friedensburg Schlaining, Tabor und Batthyány, von den stupenden Schätzen Forchtensteins ganz zu schweigen.
Kurioses wie Erlesenes, Handwerkliches wie Überraschendes, Wohlschmeckendes und Gutriechendes. Naturwunder, Historie, Bedenkens- und Gedenkenswertes. Kaum ein Bundesland hat so viele Überraschungen parat wie die 100-jährige Jubilarin!
Immer aber sind es die Schicksale der Menschen, die mich in ihren Bann ziehen: Die der Stinatzer Kroaten, der Roma in Oberwart, der Kobersdorfer Juden, der Zwangsarbeiter von Rechnitz oder die der Ungarn-Flüchtlinge in Andau. Menschen und ihre Geschichten. Was sonst macht ein Land aus? Ich durfte sie kennenlernen, über einige lachen, manche haben mich mehr berührt, als ich es mir eingestehen wollte, viele haben mich überrascht.
Überall haben Menschen mir ihre Lebensgeschichten erzählt. Und ich, ich habe ihnen zugehört. Ich durfte durch ihr Land reisen, ein Land, wie es vielfältiger, entdeckungsreicher nicht sein könnte: vom Großen See, dem Neusiedler See, im Norden, dem Vogelparadies der Langen Lacke über die Höhen des mittelburgenländischen Geschriebensteins, von den mit Kellerstöckeln überzuckerten Uhudler-Hügeln und den romantischen Flusskrümmungen der Raab zurück zu den Ausläufern des Leithagebirges und der weiten Ebene der Parndorfer Platte.
Menschen haben mir ihr altes Handwerk vorgeführt: Der Blaudrucker und der Schilfschneider, der Töpfer, der Gschalerma(n)dlbauer, der Winzer und der Marillen-Bauer, die Dialektforscherin, der Parfümeur, der Grabinschriftenjäger – bis hin zur Omama in Stinatz. Sie alle haben mich mit offenen Armen empfangen, ohne Argwohn, und haben drauflos geplaudert. Ich habe gestaunt, gelernt, entdeckt und all das Neue um mich herum genossen. Die Menschen des kleinen, großen, jungen, alten Landes haben mich willkommen geheißen. Schöneres kann einem Reisenden nicht passieren.
Ich habe sie besucht, die hundert bemerkenswertesten Orte, Plätze und Sehenswürdigkeiten des Landes. Über manche von ihnen habe ich Geschichten geschrieben, andere gebe ich als besondere Empfehlungen weiter. Setzen Sie sich auf den Sozius und entdecken Sie mit mir ein bekanntes unbekanntes Land, ein Land, das sich so viel jünger anfühlt, als es ist: Das hundertjährige Burgenland!