Читать книгу Einfach nur Fußball spielen - Michael Stilson - Страница 4

Sonntag

Оглавление

Sechs Tage bis zum Finale

Meinen Vater hatte ich das letzte Mal gesehen, als er im Juni nach Kopenhagen gekommen war, zum Länderspiel gegen Dänemark. Nach dem Spiel sprachen wir kurz miteinander. Ich glaube, er war mit seinen Kumpels auf Männerurlaub, und da schien es sich zufällig zu ergeben, dass die U16-Nationalmannschaft, in der ich spiele, genau an diesem Wochenende in der Stadt war. Das hatte er zumindest behauptet. Nach dem Spiel standen wir da und er sagte: »Gut gespielt«, aber ich konnte ihm ansehen, dass er noch etwas anderes loswerden wollte. Vielleicht fiel ihm wieder ein, wie es letztes Mal gelaufen war, als er mir anschließend Tipps geben wollte, oder aber er hatte zu viel getrunken und vergessen, was er auf dem Herzen hatte. Wir blieben jedenfalls eine Weile so stehen und er starrte auf den Boden und in die Luft. Irgendwann meinte er, er müsse jetzt los, um seine Kumpels zum Essen zu treffen.

»Glückwunsch zum Sieg und zum Tor«, sagte er, umarmte mich verkrampft, klopfte mir etwas zu doll und zu lange auf den Rücken, als hätte er vergessen, wie man sich richtig in den Arm nimmt. Dann schlurfte er vom Platz und ich ging zum Mannschaftsbus, der uns zum Hotel fuhr. Im Hotelzimmer angekommen, schrieb ich ihm eine Nachricht:

Cool, dass du beim Spiel warst. Wenn du heute Abend Zeit hast, können wir uns vielleicht treffen? Hab gerade erfahren, dass wir den Abend freihaben, weil wir morgen wieder nach Hause fahren. Wäre toll zu hören, was du über das Spiel denkst, ich werd dieses Mal auch nicht ausrasten ;-)

Das war am dritten Juni.

Bis zu diesem Sonntag im November hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Um neun Uhr wurde ich vom Vibrieren meines Handys auf dem Nachttisch wach. Ich schaffte es gerade so, meinen Kopf vom Kissen zu heben und nach dem Handy zu greifen, das mit dem Display nach unten lag. Ich drehte es um, gab den Code ein und sah, dass Vater mir eine Nachricht geschickt hatte. Ich war zu müde, um mich aufzusetzen, drehte einfach nur den Kopf zur Seite, sodass ich die Nachricht lesen konnte.

Hei. Wollen wir uns auf dem Bolzplatz treffen? Ich hab was für dich :)

Ich legte das Handy zurück und vergrub mein Gesicht wieder im Kissen. Was wollte er denn jetzt? Noch eine Woche bis zum großen Finale und jetzt nahm er wieder Kontakt zu mir auf? Und wollte mich auf dem Bolzplatz treffen? Jedes Mal seit seinem Auszug, wenn wir uns dort zum Kicken getroffen hatten, wollte er mir erzählen, was ich falsch machte und wie er es angehen würde. In der Regel meldete er sich, nachdem er zufällig am Stadion vorbeigekommen war und mich spielen gesehen hatte, immerhin wohnte er direkt beim Lerkendal. Er kam dann immer auf den Platz geschlendert, stellte sich an die Seitenlinie, schaute zu und beobachtete jede meiner Aktionen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er stand einfach da, in seinen dreckigen Adidas-Hosen, die mit dem verwaschenen weißen Fleck, der irgendwann mal die Zahl Neun war. Und dem Rosenborg-Logo, das gerade noch so an dem Stoff hing. Es flatterte am oberen linken Hosenbein und wollte am liebsten noch tiefer abrutschen, doch Vater bestand darauf, dass es dort blieb. Wie zum Beweis, wer er einmal gewesen war, oder so. Und diese Sandalen mit den weißen Tennissocken! Er trug nie richtige Schuhe. Die Trainer und die anderen Eltern sagten nie etwas, weder zu ihm noch zu mir, aber ich bemerkte, wie sie ihn beäugten. Er stand da, ohne auch nur ein Wort zu sagen, nicht zu mir, nicht zu den anderen. Eine Viertelstunde sah er uns meistens zu, bevor er wieder ging, als würde dort einfach nur irgendjemand auf dem Platz stehen.

Doch selbst wenn ich für Vater nur irgendjemand gewesen wäre – für mich war er nicht einfach nur irgendwer. Seine Anwesenheit bei einem Spiel raubte mir jede Energie, weil ich wusste, dass er ohnehin nur enttäuscht sein würde, egal, wie ich spielte. In den wenigen Minuten, die er zusah, kam es mir so vor, als würden der Ball, der Platz und die Gegner sich verändern. Die Pässe zu mir waren plötzlich zu hart, ich konnte den Ball nicht ordentlich kontrollieren, die Verteidigung rückte mir zu eng auf den Leib, presste mich stärker, die Seitenlinie und die Torlinie rückten näher, sodass mir der ganze verdammte Platz auf einmal zu klein vorkam. In diesen Minuten verlor ich komplett die Kontrolle. Die anderen Jungs riefen lauter und brüllten mich an, und je lauter sie brüllten, desto häufiger verlor ich den Ball, egal, wie sehr ich mich bemühte. Dann bemerkte ich mit einem Blick über die Schulter, dass er wieder verschwunden war. Und sofort wich die Seitenlinie zurück, ich hatte mehr Platz und mehr Zeit. Ich konnte wieder atmen und alles schien ruhiger zu werden. Die Verteidigung rückte ab und der Ball landete genau dort, wo ich ihn haben wollte, nachdem ich seinen Blick nicht mehr in meinem Nacken spürte.

Jedes Mal, nachdem er da gewesen war, wusste ich, dass er mir später am Abend – manchmal sogar mitten in der Nacht – noch eine Nachricht schreiben würde. Es war stets eine lange Nachricht, in der er mir erklärte, was er beobachtet hatte, wo meine Fehler lagen und wie er selbst diese Probleme als Spieler angegangen war. Alles auf Grundlage der wenigen Minuten am Spielfeldrand, und er hatte keine Ahnung, dass diese Minuten, in denen er an der Seitenlinie stand, sich für mich wie ein schwarzes Loch anfühlten. Als würde alles auf einem anderen Planeten und in einer anderen Zeit stattfinden als das übrige Spiel. Deshalb wurde ich immer so wütend, wenn er meinte, etwas über mich als Fußballspieler sagen zu können. Was er gesehen hatte, war nicht mein Spiel. Diese Minuten waren eine ganz andere Nummer. Nach seinen ersten Nachrichten lag ich oft wach und grübelte über seine Worte nach. Fragte mich, ob mit mir irgendetwas nicht stimmte. Jetzt, ein paar Jahre später, legte ich mein Handy abends immer auf die Küchenbank, wenn er zuvor zugesehen hatte.

Ich versuchte wieder einzuschlafen, nachdem ich an diesem Sonntag seine SMS gelesen hatte, doch ich konnte nicht aufhören, mir den Kopf zu zerbrechen: Hatte mein Vater mir gerade eine Nachricht mit einem Smiley geschickt?

Ich tauchte mit dem Gesicht wieder aus dem Kissen auf, drehte mich um und griff nach meinem Handy. Ich öffnete die Nachricht und las sie noch mal:

Hei. Wollen wir uns auf dem Bolzplatz treffen? Ich hab was für dich :)

Ich studierte sie ganz genau. Das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte, war, eine Runde mit ihm zu kicken. Ich wollte eigentlich zum Lerkendal fahren und mit Mathias trainieren, weil wir heute kein Mannschaftstraining hatten, doch meine Gedanken kreisten darum, was Vater von mir wollte. Ich starrte die Nachricht lange an, bevor ich antwortete.

Hei. Wann?

Einfach nur Fußball spielen

Подняться наверх