Читать книгу Einfach nur Fußball spielen - Michael Stilson - Страница 9
Montag
ОглавлениеFünf Tage bis zum Finale
Wir begannen das Training immer mit der Übung Vier-gegen-zwei und positionierten uns, vier Spieler außen und zwei in der Mitte, die uns den Ball abjagen mussten. Immer wieder warf ich einen flüchtigen Blick auf Ståle, der am Strafraum Hütchen aufstellte. Ich wollte wissen, wie groß das Feld war, auf dem wir spielen sollten. Wenn er ein Feld absteckte, das so breit war wie der Strafraum und doppelt so lang, dann wäre klar, dass wir Vier-gegen-vier spielten. Dann wäre auch klar, dass ich die Übung dominieren würde.
Das sei die körperlich anspruchsvollste Trainingseinheit, sagte Ståle immer. Jedes Vier-gegen-vier-Spiel dauerte vier Minuten und wir wurden in vier Teams aufgeteilt. Zwei Teams hatten Pause, während die beiden anderen gegeneinander antraten. Der Fokus lag auf Pressing, Laufleistung und Umschaltspiel. »Lauft euch den Arsch ab in den vier Minuten, die ihr dran seid«, sagte Ståle.
Aber alle Fußballer wissen, dass Zeit auf dem Platz etwas völlig anderes ist als Zeit im wirklichen Leben. Vier Minuten sind nicht gleich vier Minuten. Es kommt darauf an, ob du mit dem Ball läufst oder hinter ihm her. Bist du im Ballbesitz, dann läufst du eigentlich nicht. Du spielst nur, und zwar solange du willst. Aber wenn du dem Ball hinterherläufst? Dann können vier Minuten eine Ewigkeit sein.
Ich hörte Eriks Prusten schon seit einer Weile, stets ein kleines Stück hinter mir. Der frostige Atem, der aus seinem Mund kam, wurde von den Flutlichtern um uns herum erhellt, er stieß ihn aus wie kleine SOS-Signale, dreimal kurz, dreimal lang, und er musste sich anstrengen, um genug Luft zu kriegen. Er hing hinterher. Ich spürte, wie seine Hand versuchte, nach meiner Schulter zu greifen, doch ich führte den Ball innen an ihm vorbei und er konnte mich nicht aufhalten. Zehn Meter vor dem Tor zog ich mit rechts ab, ein beinahe mittiger Spannstoß, mit Tendenz zum Außenrist. Ich schnitt den Ball so an, dass der Torwart nicht mehr rankam und er sich am langen Pfosten ins Tor senkte.
Als der Ball meinen Fuß verließ, spürte ich sofort, dass ich treffen würde. Als handelte es sich um eine chemische Reaktion, bei der Fuß und Ball miteinander verschmolzen; und dieses Gefühl war alles, was ich brauchte, um zu wissen, wo der Ball landen würde. Vor meinem inneren Auge sah ich den Bolzplatz, und wie der Ball die abgenutzte Stelle am Pfosten traf. Das war mein Schuss. Aber ich war schon wieder unterwegs Richtung Seitenlinie, bevor der Ball überhaupt ins Netz ging.
Die Regel lautete nämlich, dass die gegnerische Mannschaft, nachdem sie ein Tor kassiert hatte, den Anstoß direkt vom Torwart ausführen ließ.
»Umschalten!«, rief Ståle, doch ich war den anderen schon längst voraus.
Ich hörte Erik mit seinen Mitspielern schimpfen, dabei war er derjenige, der nicht hinterherkam. Er war das schwache Glied, was ich jedes Mal ausnutzte. Aber Erik war schon immer so gewesen. Er blaffte alle anderen an, sobald er selbst versagte, auf diese Weise sprach er sich von aller Schuld frei. Ich konnte es nicht fassen, wie leichtgläubig die Trainer waren. Sie fielen jedes Mal auf dieses Alibi-Gemecker rein, sowohl in der Nationalmannschaft als auch bei Rosenborg. In den Pausen, in denen es darum gehen sollte, die Mannschaft anzuspornen, lobten sie Erik stets als denjenigen, der seinen Job macht, obwohl er sich von allen am schwersten tat. Nur weil er immer der Erste war, der mit dem Finger auf andere zeigte und sich laut beschwerte.
Die Trainer liebten diese Typen, die herummeckerten und mit dem Finger auf andere zeigten. Sie sahen jemanden, der Verantwortung übernahm. Ich sah jemanden, der die Verantwortung auf seine Mitspieler schob.
An der Seitenlinie drehte ich mich um, sodass ich beide Tore im Blick hatte. Der Ball war bereits wieder im Spiel und die Zeit schien langsamer zu vergehen; das Wasser spritzte vom Ball, als er auf mich zurollte, wie bei einer Zeitlupen-Wiederholung in der Champions League. Wassertropfen, die in der Luft hängen blieben. Meine Sinne saugten alles auf, ich konnte jeden einzelnen Spieler auf dem Platz sehen, hörte jeden einzelnen Ruf.
Und ich sah, wie fertig Erik war, sein Abstand zu mir war größer als bei den ersten Spielen. Ich konnte in seinem Gesicht erkennen, an seinen Schritten, wie schwer es ihm fiel, seinen Körper zu bewegen. Die Kilos voranzutreiben, die einst seine Stärke gewesen waren, die nun langsam, aber sicher zu seiner Schwäche wurden.
Ich wusste es bereits, ich konnte es im ganzen Körper spüren, dass Erik mich niemals aufhalten würde. Es war, als tanzten wir einen Tanz, dessen Schritte nur ich kannte, während Erik seine Füße stets an die falsche Stelle setzte. Immer wieder ein ungeschickter Schritt. Und bei jedem Fehltritt sank sein Fuß tiefer in den Kunstrasen, als wäre er Treibsand, und Erik musste noch mehr Energie aufwenden, um sich zu bewegen und mir zu folgen, der ich leicht wie eine Feder über den Rasen flog. Erik verstand, bereits seit dem ersten Trainingsspiel, dass er verloren hatte.
In den Pausen setzte er sich abseits von den anderen auf einen Ball und ich konnte ihm ansehen, dass er eher an die warme Dusche in der Kabine dachte als daran, wie er mich stoppen könnte. Als wir wieder auf dem Platz standen, schien er den Gedanken, sich an meine Fersen zu heften, kaum Bedeutung beizumessen – sie schienen lange Umwege von seinem Gehirn in seine Schenkel und Füße zu machen, bevor sich sein Körper wieder in meine Richtung bewegte, doch da war ich bereits auf und davon, sodass Erik genauso gut in der Kabine hätte hocken können.
Wenn ein Gegner dir unterlegen ist, ändert sich etwas an seinem Atem. Ich konnte hören, wie sich sein Fluchen veränderte. Es war schneller, lauter und näher, wenn er immer noch glaubte, eine Chance zu haben. Doch jedes Mal, wenn ich an Erik vorbeiglitt, außen oder innen, jedes Mal, wenn ich den Ball in die lange Ecke drosch oder ihn flach am Torwart vorbei einem Mitspieler zupasste, der ihn einfach reinschob, hörte ich ihn hinter mir schimpfen, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Seine Wörter passten sich dem Tempo seines Körpers an, je länger sein Fuß auf dem Boden festklebte, desto langsamer sagte er »Scheiße«.
Es war beinahe so, als würde er es sich selbst zuflüstern, um die Demütigung herunterzuspielen. Denn demütigend musste es wohl sein, mir dabei zuzusehen, wie ich sowohl innen als auch außen an ihm vorbeikam, mit und auch ohne Ball.
Recht, links, vorne, hinten. Jede einzelne Sekunde in diesen vier Minuten, die wir auf dem Platz waren. Vier ewig lange Minuten.
Ich stand an der Seitenlinie, als der Ball auf mich zurollte und Erik auf mich zukam. Doch diesmal war die Art, wie er lief, anders – er sprintete nicht so schnell er konnte, er joggte quasi auf mich zu, mit schweren Schritten, wie ein Elefant, der sich vorwärtsschleppt. Das gab mir den Bruchteil einer Sekunde Zeit, darüber nachzudenken, ob ich einen Pass schlagen sollte. Ob ich Erik verschonen sollte. Dass es jetzt reichte. Dass ich getan hatte, was ich sollte, und dass es für die Mannschaft, für Erik besser wäre, wenn er nicht wieder umspielt würde. Diesen Gedanken hatte ich schon öfter gehabt.
Dass jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeikam, er sich seinem Ende ein Stückchen näherte und dass ich nicht derjenige sein wollte, der ihm den letzten Schubser Richtung Abgrund gab. Er war schließlich mein bester Freund.
Doch dann verdrängte mein Gehirn diesen Gedanken und mein Instinkt übernahm. Ich stoppte den Ball und führte ihn, während Erik an mich heranrückte. Er packte mich an der Schulter, doch ich schüttelte ihn ab. Er gab keinen Laut von sich, als ich an ihm vorbeidribbelte, und ich hatte freie Bahn zum Tor. Ich entschied mich, mit links das Lattenkreuz anzuvisieren, also legte ich mir den Ball zurecht, um ihn mit dem Innenrist aufs Tor zu schießen. Ich wollte gerade abziehen, als ich das Geräusch vom Stoff einer Trainingsjacke hinter mir auf dem Kunstrasen hörte, bevor mich etwas am rechten Bein traf. Ich flog nach vorn und schlitterte mit dem Bauch über den Boden. Die kleinen Gummikügelchen sprangen mir ins Gesicht. Ich hörte Eriks Stimme hinter mir. »Spiel! Spiel, verdammte Scheiße. Das ist doch nichts!«, während der Schmerz sich vom Bein aus in meinem ganzen Körper ausbreitete.
Ich stand auf, spuckte die Gummikügelchen aus und ging auf Erik zu, drückte ihm meine Handflächen auf die Brust und schubste ihn. Er stolperte ein paar Schritte zurück, fing sich und kam dann auf mich zu. Er war mindestens einen Kopf größer als ich. Er drückte seine Stirn an meine, starrte mich an und lief weiter, sodass ich gezwungen war, nachzugeben. Ich ließ ihn machen, aus Angst, dass er mir sonst den Schädel einrammen würde. Das war sein Tanz, der einzige, den er zurzeit beherrschte.
Doch bevor er mich dominieren konnte, zog ich den Kopf zurück, nur um ihn wieder in seine Richtung zu stoßen. Meine Stirn knallte auf seine Nase. Es krachte so laut und hart, dass ich förmlich spürte, wie sein Nasenbein an meiner Stirn zerbrach. Erik fiel wie in Zeitlupe nach hinten, während er die Hände vors Gesicht schlug, um das Blut zu stoppen. Dann blieb er regungslos auf dem Boden liegen.
Oder: So passierte es allein in meiner Vorstellung, während ich auf dem Kunstrasen lag, den Mund immer noch voller Gummikügelchen, und Ståles Pfiff hörte.
»Das war’s dann für heute«, rief er.
»Das ist doch wirklich lächerlich, Ståle. Das war doch nix!«, brüllte Erik.
Mein Gesicht lag auf dem Kunstrasen und ich spürte, wie der Schmerz und das Blut in meinem Bein pulsierten. Ich hob meinen Kopf und sah, wie Erik sich das Leibchen herunterriss und es auf den Rasen warf. Dann trat er aus dem Flutlicht und verschwand in der Dunkelheit.