Читать книгу Der Herzog und der Wahrsager von London - Michael Stolle - Страница 4
ОглавлениеProlog
Die Pforten der Hölle hatten sich geöffnet.
Licht, gelb und giftig wie Schwefel, sickerte aus den schwarzen Wolken, die sich über dem Reiter zusammenballten. Sie wirkten so drohend, dass sie vermutlich die unmittelbare Ankunft des Fürsten der Finsternis und das Ende der Welt ankündigten.
Jeden Moment würden die Reiter der Apokalypse auftauchen und ihn vor sich herjagen, ihre grinsenden Schädel von mottenzerfressenen Kutten bedeckt. Hatte sein Beichtvater nicht darauf bestanden, dass er immer und ständig auf das Jüngste Gericht vorbereitet sein sollte?
Aber seine Heimat Frankreich und sein Beichtvater waren weit entfernt. Verzweiflung überkam ihn – warum hatte er sich überhaupt jemals entschlossen, nach England zu kommen?
Am Ende war es keine Armada von sensenschwingenden Gespenstern, die vom Himmel herabstieg, sondern dichter Regen, gefolgt von Hagel, der auf ihn niederprasselte und Armand begann sich zu fragen, ob das nicht noch schlimmer war. Vergeblich versuchte er, sich und sein kostbares Pferd vor dem plötzlichen Ansturm der Hagelkörner zu schützen, die so groß wie Taubeneier und so schwer wie Kieselsteine waren. Kein Wunder, dass sein Pferd scheute, vor Schreck die Augen rollte und vor Schmerz und Angst wieherte.
Jetzt hatte auch der Donner eingesetzt, der seine Ohren betäubte und alle anderen Geräusche übertönte, während sein Echo durch den Wald rollte und allen die Apokalypse ankündigte, die nun sicherlich unmittelbar bevorstand. Es war dunkel wie in der tiefsten Nacht. Nur vage konnte Armand die Silhouetten der hohen Bäume noch in der Dunkelheit erspähen. Die Äste waren noch kahl, denn der Frühling ließ auf sich warten – falls dieses gottverlassene Land überhaupt jemals wieder einen Frühling oder Sommer erleben würde.
Wie sollte er sich jemals in dieser höllischen Dunkelheit zurechtfinden?
Als ob jemand seine Gedanken gelesen hätte, zuckten plötzlich Blitze herab und warfen ihr blendend helles Licht auf die Bäume um ihn herum. In dem gleißenden Licht sah er die kahlen Bäume mit ihren abgestorbenen Ästen, die sich in den dunklen Himmel reckten. Es waren klägliche Skelette, die um den letzten Segen des Himmels flehten. Immer mehr Blitze folgten, ohne Pause, und ließen nun auch das Unterholz lebendig werden, wie kauernde Phantome der Unterwelt, die nur darauf gewartet hatten, sich auf ihn zu stürzen.
»Heilige Jungfrau, hilf mir, ich muss einen Unterschlupf finden! In diesem gottverlassenen Wald muss es doch irgendeinen Unterschlupf geben«, fluchte er laut und kämpfte gegen das lähmende Gefühl der Verzweiflung an.
Armand saß seit den frühen Morgenstunden im Sattel, war durch endlose Weiden und Wälder geritten, immer in der Hoffnung, Winchester zu erreichen, bevor das Gewitter losbrach.
Bis zum Mittag hatte ihm der Umriss einer blassen Sonne geholfen, sich zu orientieren, aber bald, viel zu bald, war die bleiche Scheibe der Sonne hinter dem dichten Wolkenvorhang verschwunden – wie so oft in diesem elenden Land. Ohne jegliche Orientierung hatte Armand den Weg verloren und wusste nicht mehr, wo er sich befand oder wohin er sein Pferd in diesem Wald, der zu einem Labyrinth ohne Ausgang geworden war, lenken sollte. Ritt er im Kreis? Er konnte es nicht mehr einschätzen.
Erschöpft folgte er einfach einem schmalen Pfad, der mit Schlaglöchern und tückischen Wurzeln übersät war und hoffte und betete, dass er ihn in die richtige Richtung führen würde.
Armand kämpfte nicht nur gegen das wachsende Gefühl der Verzweiflung an, er konnte auch kaum noch die Augen offen halten. Er war hungrig und völlig erschöpft. Doch ihm war bewusst, dass er sich nicht den Luxus leisten konnte, sich auszuruhen. Er musste wachsam sein, nicht nur, weil sein Ende besiegelt sein konnte, wenn er in diesem Gewitter unter einem Baum einschlief. Armand wusste, dass er gejagt wurde.
Diese Jagd hatte nur ein Ziel: alle Unterstützer, Offiziere und Soldaten des Königs von England, auch Kavaliere genannt, zu finden und zu eliminieren. Und er, Armand de Saint de Paul, gehörte dazu.
Blitz und Donner zogen weiter und Armands Pferd wurde ruhiger, als der Hagel endlich aufhörte; sie ritten nun langsam weiter. Das Pferd war genauso müde wie sein Reiter und so wankten sie voran, Schritt für Schritt. Armand lachte auf, aber selbst für seine eigenen Ohren klang es nicht besonders fröhlich.
»Was für ein tolles Team wir doch sind: ein lahmes Pferd und ein geschlagener Ritter, die in dieser dunklen Hölle gegen alle Widrigkeiten kämpfen!«, rief er laut in Dunkelheit.
Wie eine Antwort löste sich ein schwarzer Schatten von einem der Bäume und automatisch griff Armands Hand zu seinem Schwert, bereit zur Verteidigung. Doch es war nur eine schwarze Krähe, die ihr Versteck verließ und sich durch den herannahenden Reiter gestört fühlte.
Unheimliche Geschichten über diesen Wald kamen ihm in den Sinn, Geschichten, die man sich nachts unter Kameraden an den Lagerfeuern zugeflüstert hatte. Es waren unterhaltsame Geschichten gewesen – zumindest während er am knisternden Feuer saß, einen Krug mit Ale leerte und mit seinen Kameraden frotzelte.
»Dort unten im Südwald leben noch immer Hexen und Zauberer, die seit uralten Zeiten ihre dunklen Künste praktizieren. Aber diejenigen, die zu neugierig waren und die Elfen beobachtet haben, wie sie unter den verzauberten Bäumen tanzten«, hatte der Geschichtenerzähler geflüstert und dabei bedrohlich mit den Augen gerollt, »diese armen Seelen haben es nie mehr nach Hause geschafft.«
Die Krähe krächzte noch einmal verächtlich und verhöhnte den einsamen Eindringling, der es gewagt hatte, den Frieden des verwunschenen Waldes zu stören, bevor sie sich in langsamen Kreisen nach oben schraubte.
Der letzte Donner verklang, aber die darauf folgende Stille war fast genauso beunruhigend wie der Lärm zuvor. Der heftige Regen verwandelte sich in ein leichtes Nieseln; hoffentlich würde er bald ganz aufhören. Wenn Armand nur mehr Licht hätte. Und ein Feuer. Pferd und Reiter waren durchnässt und ihm war eiskalt.
Armands Gedanken schweiften ab. Cheriton! Werde ich eine solche Schlacht jemals vergessen können?
Es war eine Schlacht, die mit allen Vorzeichen eines leichten Sieges für die Kavaliere des Königs begonnen hatte, aber in einem totalen Fiasko geendete hatte. Armand schloss die Augen. Er hörte noch immer die verzweifelten Schreie der Verwundeten und Sterbenden, die fast menschlichen Schreie der Pferde, die sich die Beine brachen und dabei zu Boden stürzten, und die Geräusche der Kanonensalven, die aus allen Rohren schossen. Armand konnte immer noch das Blut riechen und schmecken – Blut, das überall gewesen war, Pferdeblut, menschliches Blut, ein glitschiges Durcheinander auf dem Boden mit einem durchdringenden süßen Geruch, vermischt mit dem Geruch von Schwarzpulver, eine Erinnerung, die ihm den Magen umdrehte.
Wütend über seine eigene Schwäche, wischte sich Armand eine Träne aus dem Auge. Er war bereit gewesen, auf dem Schlachtfeld zu sterben, ein Mitglied der Familie Saint Paul würde niemals aufgeben. Aber General Forth hatte ihn angeschrien: »Wir werden die Schlacht verlieren, Armand, zieh dich zurück!«
»Ein Saint Paul lässt seine Männer niemals im Stich und gibt niemals auf!«, rief Armand zurück und funkelte den General wütend an.
»Was denkst du, was wir hier tun? Wir sind bereits auf dem Rückzug. Jetzt ist es meine Aufgabe, so viele unserer Männer wie möglich zu retten. Wir haben eine Schlacht verloren, aber jetzt müssen wir sicherstellen, dass wir nicht den Krieg verlieren. Wenn die Roundheads dich gefangen nehmen, werden sie dich bei lebendigem Leibe häuten, denn sie hassen alle Franzosen – und Katholiken. Mach dich auf den Weg zur Küste, geh zurück nach Frankreich und wirf dich deinem seltsamen Premierminister dort zu Füßen, wir brauchen sein Geld und französische Soldaten, sonst ist unsere Sache verloren! Aber reite zuerst nach Wintershill Castle, der Earl of Wiltshire ist ein loyaler Mann, er wird dich verstecken und dir helfen, ein Schiff zu finden. Aber pass auf, meide die Straßen, sie werden uns verfolgen.«
»Ein Saint Paul wird niemals auf die Knie fallen, für niemanden und schon gar nicht für einen Parvenu von italienischem Kardinal, der sich Premierminister von Frankeich nennt!«
»Schluck deinen Stolz herunter, Saint Paul, geh und hol Hilfe für uns. König Karl braucht Geld, wir brauchen frische Truppen, sonst ist auch unsere nächste Schlacht verloren. Die Roundheads sind nicht länger eine Bande von Banditen, du hast sie heute mit eigenen Augen gesehen, sie haben sich in eine gefährliche Armee verwandelt. Brich jetzt auf, sofort, reite zur Burg Wintershill und dann nach Frankreich!«
Armand hatte geschluckt. General Forth hatte noch nie so offen gesprochen. In der Zwischenzeit war der Feind so schnell vorgerückt wie die herannahende Flut, und es blieb keine Zeit mehr für Diskussionen. Armand schluckte seinen Stolz herunter, wendete sein Pferd und ritt gen Süden in Richtung Winchester. Sein Auftrag war klar: Er musste zurück nach Frankreich segeln und dort Kardinal Mazarin bitten, schnellstens Unterstützung zu schicken. Die Lage von König Karl wurde immer verzweifelter.
Müde und erschöpft ritt Armand weiter durch den Wald, aber plötzlich musste sein Schutzengel Erbarmen zeigen: Wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung durchdrang ein Strahl Sonne die Wolken.
Armand schloss vor Erleichterung für eine Sekunde die Augen – aber einen Sekundenbruchteil zu lang – denn er übersah den tief hängenden Ast, der den Weg vor ihm versperrte. Der Ast erwischte ihn unvorbereitet und warf ihn direkt vom Pferd. Es ging alles so schnell: ein stechender Schmerz, ein Gefühl der Panik, als er fiel und auf etwas Hartes aufschlug, noch mehr Schmerz und dann – nichts.
Vielleicht war das auch ein Segen, denn es bedeutete, dass Armand seine Verfolger nicht kommen hörte.