Читать книгу DAS OPFER - Michael Stuhr - Страница 14
10 AM POOL
ОглавлениеAls wir bei Lou ankommen, muss sie den Wagen gehört haben. Noch bevor wir richtig ausgestiegen sind, steht sie schon in der offenen Fliegengittertür und lächelt. Sie lässt die Tür los, kommt auf uns zu und nimmt mich stürmisch in die Arme.
Diego, der genau wie ich wohl gedacht hatte, dass sie zuerst ihn begrüßen würde, steht mit ausgebreiteten Armen und leicht geöffnetem Mund daneben und schaut uns verblüfft an.
„Lana, es tut mir so Leid, wie ich gestern reagiert habe. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich bin so blöd. Ich hab gar nicht bedacht, was du alles durchgemacht hast. Wie schwierig das alles für dich gewesen sein muss! Es tut mir so Leid!“
Mir schießen Tränen der Erleichterung in die Augen. „Mir tut es auch Leid, Lou. Ich hab blödes Zeug geredet. Ich war so fertig, weißt du. Ich konnte nicht mehr richtig denken!“
Leise schniefe ich und Lou schiebt mich ein wenig von sich weg. Ihre Augen leuchten bernsteinfarben im rötlichen Licht der Abendsonne, als sie mich anlächelt. Eine Strähne ihres dunklen Haares wippt vorwitzig im leichten Wind. Ich muss lächeln.
Ein Räuspern neben uns und eine ziemlich genervte Diegostimme wecken uns aus unserem Versöhnungsrausch. „Freut sich vielleicht auch mal jemand über mich und fragt mich, wie schwer ich es hatte?“
„Diego!“, ruft Lou lachend und schmeißt sich ihm so schwungvoll an die Brust, dass er einen Schritt weit zurück taumelt. Mit einem strahlenden Lächeln hakt sie sich bei ihm ein und zieht ihn mit zur Tür.
Ich schließe unwillkürlich kurz die Augen, als ich den würzigen Duft von Kiefern und Meer einziehe. Ach ist das Leben schön! Seufzend folge ich den beiden.
Wir sitzen auf Lous Terrasse. Diego macht ein ernstes Gesicht, als sie und ich unseren Bericht über die letzten Tage beendet haben. Inzwischen ist es dunkel geworden, und die Teller mit den Snacks sind abgegessen.
Mildes Mondlicht beleuchtet die Szenerie und lässt die Weite des Pazifiks durch die silberne Straße erahnen, die der Mond auf das Wasser wirft. Die Grillen zirpen und wir schweigen.
„Wohl ergeht es denen, über die der Stier wacht? So hat Larence das gesagt?“, will Diego wissen.
Ich nicke. „Wortwörtlich!“
„Und er hat den Darksidergruß beantwortet?“ Er schüttelt den Kopf. „Was läuft da ab, verdammt?“ Langsam greift er nach der letzten Weintraube auf einem der Teller und schiebt sie sich gedankenverloren in den Mund.
„Er muss Kontakt zu euren Leuten haben“, vermute ich. „Bei diesem Commissaire Reno in Grimaud war das auch so.“
Mit einem Mal wendet Diego sich mir zu. „Hattest du denn einen Verdacht, oder warum hast du den Darksidergruß verwendet?“
Ich kann nur ratlos mit den Schultern zucken. „Eigentlich wollte ich ihm nur auf ironische Art viel Erfolg bei der Suche nach dem Täter wünschen, und da ist mir das Leichte Jagd einfach so rausgerutscht. Ich war wütend. Ich war aufgeregt. Es kam einfach so über mich.“
„Mmh!“ Diego schaut mich eine kleine Weile an und lehnt sich dann auf seinem Stuhl zurück. Mit kurzen Worten berichtet er uns von seiner Gefangennahme und den Verhören. Ziemlich schnell kommt er aber darauf zurück, was ihn wirklich beschäftigt: „Wir wissen nicht, wo Alicia wirklich ist.“, stellt er fest. „Im Leichenkeller der Polizei liegt sie jedenfalls nicht!“
Lou nickt. „Die Leiche ist nicht die von Alicia, so viel ist klar.“
„Und man hat falsche Spuren gelegt. Unsere Leute haben da irgendwie die Finger drin. Aber warum?“ Er schüttelt nachdenklich den Kopf. „Wo führt das alles hin? Was steckt da für ein Plan dahinter? Und der Stier! Das kann doch nur Adriano sein. Was hat der mit dir zu tun, Lana? Was will er von dir?“ Nochmals schüttelt Diego den Kopf und starrt über die Weite des Ozeans zum Horizont.
Ich spüre selbst, dass mein Gesicht maskenhaft starr geworden ist. Ich beiße mir auf die Lippen, dass es weh tut, aber ich sage nichts.
„Das muss für dich alles ungeheuerlich sein.“ Diego legt mir seine Hand auf den Arm.
Ich nicke stumm. Ich muss an die verbrannte Frau denken. – Wenn das nicht Alicia ist, wer ist es dann?
Diego holt tief Luft. „Es scheint so, als seien im Hintergrund Kräfte am Werk, die ganz eigene Ziele verfolgen.“
„Adriano?“, vermutet Lou.
„Vielleicht Adriano, vielleicht ein ganze Gruppe.“ Diego hebt die Schultern. „Durch den Tod deines Vaters ist ein Machtvakuum entstanden, das noch nicht wieder gefüllt ist. Vielleicht zielt man deshalb auf uns.“
Ich muss mich räuspern und sehe Lou an. „Könntest du der Sache nicht ein Ende machen, indem du dich zur Königin ausrufen lässt?“
„Nein!“, sagt sie knapp und klar, und ich sehe, dass ihr Gesicht sich verhärtet. „Regenten erhalten ihre Weihen von den Alten, und die kommen nur alle vier Jahre aus dem Meer.“
„Zum Fest der Jahrwerdung“, erklärt Diego weiter. „Aber wir nehmen nicht daran teil.“
„Niemals!“, bestätigt Lou. Ihr Blick ist hart wie Diamant.
„Aber warum denn nicht, wenn dann doch alles gut werden könnte?“ Ich sehe Lou fragend an.
„Weil es ein barbarisches Ritual ist! Meinem Vater und Sochon ist es gelungen, es abzumildern, aber im Grunde genommen ist es immer noch der alte Ritus, und ich werde mich nicht daran beteiligen.“
Der Druck von Diegos Hand auf meinem Arm verstärkt sich. „Frag bitte nicht weiter, Lana“, sagt er mit so spröder Stimme, dass ich erschrecke. „Diesmal meine ich es ernst! Frag bitte nicht.“
Von Lou ist auch keine Hilfe zu erwarten. Mit versteinertem Gesicht sitzt sie da und sagt kein Wort. – Was ist das jetzt wieder für ein schreckliches Geheimnis, das die beiden teilen? Aber wenigstens haben sie sich davon distanziert, was immer es auch ist. Es muss irgendein Darksider-Ding sein, von dem ich nichts wissen soll. Nein, von dem niemand etwas wissen soll. Es fällt mir sehr schwer, aber ich werde den Mund halten und nicht mehr fragen. Nie wieder!
„Ich wäre so gerne eine ganz normale Frau“, sagt Lou leise in das Schweigen hinein, „ohne besondere Fähigkeiten, ohne Thronanspruch, ohne Angst vor den Jägern, aber ich bin in diesen verfluchten Körper hineingeboren, und ich komme hier nicht raus.“ Plötzlich schlägt sie sich mit der Faust so hart auf den Unterarm, dass ich einen Schreck bekomme. – Das muss doch wehtun.
„Lou, mach das nicht!“, rufe ich bestürzt aus.
„Entschuldige!“ Sie sackt ein wenig in sich zusammen. „Ist schon wieder besser.“ Sie versucht ein scheues Lächeln. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Ich kenne das“, sagt Diego in das Schweigen hinein. Seine Hand liegt immer noch auf meinem Arm. „Wir sind nun mal mit diesem Fluch geboren, anders zu sein. Egal wie wir sein wollen: wir sind und bleiben Darksider! Du weißt ja, dass ich als Kind dieses kleine Mädchen getötet habe, ohne es zu wollen.“
Ich nicke stumm. Wie könnte ich das je vergessen?
„Die Sache hat mich verfolgt, bis ich dich kennenlernte. Mein Leben war mir egal. Ich habe damit herumgespielt. Enge Bergstraßen waren eine Verlockung für mich. Weil ich nicht wusste, ob ich leben wollte, sollte das Schicksal für mich entscheiden. Ich nannte es das Wenn-Dann-Spiel. Das funktionierte mit Höchstgeschwindigkeit, und ich brauchte in den Kurven die ganze Straße für mich. Wenn mir einer entgegengekommen wäre, dann hätte ich den Wagen von der Straße gerissen, um ihn nicht zu töten.“
Ich schüttle nur stumm den Kopf. – Wie verzweifelt muss man sein, um so etwas zu tun?
„Das Schicksal hat nicht zugeschlagen.“ Der Druck seiner Hand verstärkt sich leicht. „Und das war alles, bevor ich dich kennengelernt habe.“ Er lächelt mich an. „Es ist vorbei. Für immer!“
„He Lana!“, lächelt Lou mich an. Sie scheint sich wieder gefangen zu haben. „Sieht so aus, als hättest du nicht nur mir das Leben gerettet!“
Ich nicke stumm, weil ich nichts sagen kann. – Jetzt haben schon zwei Menschen ihr Leben an mir festgemacht. Kann ich das tragen? Ich lache verzweifelt auf. Wer fragt denn danach? Wer wird denn überhaupt jemals gefragt, was er aushalten kann? Da kriegst du vom Schicksal irgendwelche Sachen reingereicht, und dann sieh zu, wie du damit klarkommst.
„Alles okay?“, fragt Diego besorgt und beugt sich ein wenig vor.
Ich muss mich räuspern, bevor ich antworte. „Alles okay!“, sage ich und denke zuerst, dass das eine Lüge ist, aber dann sehe ich Diego und Lou an, und ich spüre, wie sehr sie mich mögen. Es sind die besten Freunde die man sich wünschen kann, und wenn ihre Probleme durch mich kleiner geworden sind, dann ist das gut so. „Alles okay!“, wiederhole ich und nicke dazu. Zu meinem Erstaunen zieht sich sogar ein Lächeln über mein Gesicht.
Plötzlich ruckt Diegos Kopf herum. Er legt in einer stillen Geste den Zeigefinger auf die Lippen. Wir schweigen und lauschen.
Diego erhebt sich mit einer lässigen Bewegung und sagt laut: „Ich hole mir noch was zu trinken. Wollt ihr auch noch was?“
Erstaunt schütteln wir die Köpfe.
Diego geht mit schnellen Schritten zur Terrassentür, dreht sich aber kurz bevor er darin verschwindet zur Seite und gleitet mit unglaublicher Geschwindigkeit in den Schatten der Überdachung. Im Schutz der Hauswand schleicht er zum Zaun. Ein kurzer Schrei ertönt. Man hört das Geräusch von schnellen Schritten und etwas später das Aufheulen eines Motors.
„Der wird sich wohl nicht mehr hierher trauen. Aber es werden andere kommen. Seid euch sicher, wir sind nicht mehr allein“, murmelt Diego finster, als er sich wieder auf seinen Stuhl fallen lässt.
Lou verzieht das Gesicht zu einer seltsamen Grimasse. Sie sieht beinahe ein wenig schuldbewusst aus, aber gleichzeitig auch etwas belustigt. – Seltsam!