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04 MORGUE

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Knapp zwei Stunden später neigt sich der Alptraum, in den ich da hineingeschlittert bin, scheinbar dem Ende zu. Vor Lous Haus hatten zwei uniformierte Polizisten in einem Streifenwagen gewartet, in den ich einsteigen musste, während Lou mit den Detectives in deren Wagen gefahren war. Damit hatte man wohl verhindern wollen, dass wir unsere Aussagen miteinander abstimmen.

Mordverdacht! - Man hatte uns behandelt wie Schwerverbrecher. Wir konnten fast schon dankbar dafür sein, dass man uns keine Handschellen angelegt hatte.

Verhört hat man uns auch in verschiedenen Räumen. Während ich mit Larence in einem tristen Vernehmungsraum gehockt habe, hat diese Auburn sich wohl Lou vorgenommen. Bei dem Gedanken, dass meine Freundin dieser arroganten Zicke ausgeliefert ist, ist mir regelrecht schlecht geworden.

Larence hat den Raum immer wieder mal verlassen, wohl um sich mit seiner Kollegin über den Fortgang des Verhörs auszutauschen. Vielleicht aber auch nur, um mich ein wenig schmoren zu lassen. – Wenn das der Plan war, dann hat er ganz gut funktioniert: Allein in diesem fensterlosen Raum mit seinen kieselgrau gestrichenen Wänden zu sein, ist mir so auf das Gemüt geschlagen, dass ich schon nach wenigen Minuten laut schreiend an die Tür hätte hämmern können.

Man macht sich keine Vorstellung davon, wie deprimierend es ist, in so einem totenstillen, schlecht beleuchteten Raum zu hocken, in dem alles grau ist. Der unvermeidliche Spionspiegel starrt auf einen herab wie ein Feind, und man weiß, wenn die Tür sich öffnet, wird es nicht besser, sondern es prasseln immer neue Fragen auf einen ein. Sie wollen einen reinlegen, und man muss immer neuen Fallen ausweichen, die einem gestellt werden.

Nein, es macht keinen Spaß in einem Raum zu hocken, der eine solche Trostlosigkeit und Feindseligkeit ausstrahlt. Erstaunlich schnell bekommt man Lust, irgendwas zu gestehen, nur um hier rauszukommen, aber das ist natürlich Blödsinn. Schließlich habe ich nichts Böses getan, und das habe ich dem Detective auch immer wieder erklärt, bis er davon müde wurde und endlich aufgab.

Tja, das Verhör ist für Larence wohl ziemlich unbefriedigend ausgefallen, jedenfalls hatte er immer schlechtere Laune gekriegt, als ich auf seine Fragen antwortete. Klar: Meine Darstellung der Dinge hatte Lücken, dass ein Lastwagen hätte durchfahren können, aber es steht schließlich nirgends geschrieben, dass man Polizisten alles erzählen muss. Es würde ihm nicht gelingen, mir den Mord an Alicia anzuhängen, das hatte er zum Schluss wohl einsehen müssen.

Eigentlich hatte ich leichtes Spiel gehabt: Wir hatten Alicia nichts getan, fertig! Blieb nur zu hoffen, dass Lou dieser widerlichen Auburn-Barbiepuppe gegenüber genauso cool bleiben konnte, dann würde man uns bald laufen lassen müssen.

Vorher hatte Larence aber noch einen richtig miesen Job für mich: Ich sollte die Tote identifizieren. - Entweder als Alicia oder als den Schatten, den ich hinter dem Brückengeländer gesehen hatte. Das Problem dabei ist, dass ich keine Wasserleichen ansehen mag. Ich kriege schlechte Träume davon.

Ich bin als Zwölf- oder Dreizehnjährige am Pont des Invalides mal in eine Situation hineingestolpert, die ich nie vergessen werde: Am Ufer der Seine waren Rettungskräfte mit irgendwas beschäftigt gewesen, und neugierig wie ich bin, hatte ich mich durch die Umstehenden nach vorne gedrängt. Da hatte ich ihn ein paar Sekunden lang gesehen, den Mann, der in der Seine ertrunken war. Sein Fleisch war so aufgedunsen gewesen, dass sein Hemd und seine Hose ihn umschlossen hatten, wie eine zweite Haut. Gesicht und Hände waren von einer grau - weißen Farbe gewesen, und die Flussfische hatten ihn schon angefressen. Am nächsten Tag hatte in der Zeitung gestanden, dass man ihn vor einer Woche in Melun als vermisst gemeldet hatte. So einen Anblick braucht man nicht wirklich. Ich hatte noch monatelang davon geträumt, und nun besteht der Detective darauf, dass ich mit in den Keller komme, um mir Alicia anzuschauen. Ich versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie ja gestern Abend noch gelebt hat. Sie kann also unmöglich so schrecklich aussehen, wie der Mann aus der Seine, aber das mulmige Gefühl bleibt.

Wir steigen eine Treppe hinunter in den Keller des Police-Departments. Detective Larence unterhält sich angeregt mit einem Cop, der uns begleitet. Ich schnappe etwas auf von einem Besäufnis bei einer Grillparty. Mir wird schlecht. Ich merke, dass ich seit gestern Morgen nichts mehr gegessen habe. Mit Bedauern denke ich an die leckeren Pancakes, die Lou heute Morgen gebacken hat. Hätte ich mir doch nur einen davon mitgenommen.

„Da wären wir!“ Die Stimme des Cops reißt mich aus meinen Gedanken. Er steht vor einer Metalltür mit der Aufschrift: Morgue. Mein Magen verkrampft sich.

Der Cop grinst mich an. „Nun los“, sagt er, „Tote beißen nicht!“

„Sehr witzig“, murmele ich und gehe an ihm vorbei durch die Tür, die er mir aufhält.

Ich trete in einen Raum mit einer Glasscheibe. Der ganze Bereich ist weiß gekachelt. In der Ecke steht ein Metalltisch mit zwei Stühlen. Mich fröstelt.

Detective Larence tritt neben mich. Sein Gesicht ist nun auch ernst. Leicht fasst er mich am Ellenbogen und führt mich zu der Glasscheibe, die von der anderen Seite durch eine Jalousie verdeckt ist. Die Berührung seiner Hand und die Kälte, die dieser Raum ausstrahlt, lassen mich erneut schaudern. Wir stehen vor der Glasscheibe.

„Bereit?“ fragt er mich.

Ich nicke stumm.

Larence drückt den Knopf einer Gegensprechanlage und sagt: „Shepard! Es kann losgehen.“

„Okay“, ertönt es schnarrend aus dem Lautsprecher und langsam öffnet sich die Jalousie.

Ich atme tief ein. Mir ist schwindelig. Ich habe Angst. Ich spüre, wie sich meine Nackenhaare hochstellen.

Als die Lamellen sich geöffnet haben, sehe ich auf eine Bahre aus Metall. Darauf liegt eine Gestalt, die mit einem weißen Tuch bedeckt ist.

„Mach schon, lass die junge Lady nicht so lange warten. Sie steht auf Frauen, weißt du“ sagt Larence laut.

Ich sehe ihn an. „Könnten Sie das bitte lassen?“ Ich würde ihm mit tausend Freuden mal so richtig in den Hintern treten. Was für ein Schwein!

Shepard auf der anderen Seite der Glasscheibe nickt. Ein Goldzahn blitzt in seinem Mund auf, als er die dünnen Lippen zu einem fiesen Grinsen verzerrt. „Ich verstehe“, sagt er, „dann wollen wir mal.“

Schwungvoll reißt er das Tuch von der Gestalt und ich taumele zurück. Ich stütze mich an der Wand neben mir ab, presse die Hand vor meinen Mund und starre durch die Glasscheibe - fassungslos. Was zum Teufel liegt da? Das kann unmöglich Alicia sein. Ein bleich aufgedunsenes Etwas, die Lippen mit gebleckten Zähnen geöffnet, das behaarte Geschlechtsteil auf bizarre Art aufgebläht. Schweiß tritt mir auf die Stirn. Ich hätte nicht geglaubt, dass das möglich ist, aber die Frau hier sieht noch viel schlimmer aus als der Mann aus der Seine.

„Shepard!“, meckert Detective Larence, während er mich grinsend beobachtet. „Ich hab dir doch gesagt, die von letzter Nacht! Das da ist die Falsche!“

„Oh, sorry Sir, das wusste ich nicht“, kichert Shepard. Nachlässig wirft er das Laken wieder über den toten Körper und schiebt die Bahre vom Fenster weg.

Hinter mir prustet der Cop, der uns begleitet hat, los und presst sich die Hand auf den Mund, als ich wütend herumfahre.

„Was soll das?“ fahre ich den Detective an. „Wollen sie von mir nun eine Identifizierung oder wollen sie mich nur verarschen?“ Ich bin so wütend, dass ich am liebsten gehen würde. Schon wende ich mich um.

„Halt Miss! Hiergeblieben!“ Schnell greift der Detective nach meinem Arm. „Sie gehen erst, wenn ich es Ihnen sage!“ Böse schaut er mich an.

Das kann ich auch. Genauso böse funkele ich zurück und zerre mit einer schnellen Bewegung meinen Arm aus dem Griff seiner verschwitzten Hand. „Dann machen Sie gefälligst ernsthaft ihre Arbeit und hören Sie auf, mich zu schikanieren!“

Larence zieht seine Hand zurück und schaut mich einen Moment lang an. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht, aber sein Ton ändert sich. „Okay, Shepard, los jetzt!“

„Alles klar!“ höre ich aus dem Lautsprecher und drehe mich um. Wieder steht da eine abgedeckte Bahre.

Ich schaue durch die Glasscheibe. Mein Herz schlägt hart gegen meine Rippen. Ich atme noch einmal tief durch und versuche mich zu wappnen. Der Anblick von eben war einfach zu grausig. Was wird mich jetzt erwarten?

Shepard schlägt das Tuch vom Kopf der Leiche zurück und ich muss mich schon wieder festhalten. Wie zum Teufel soll man dieses Etwas identifizieren? Die Haare sind weg gebrannt und die Haut ist komplett verkohlt. Von den Gesichtszügen ist so gut wie nichts mehr zu erkennen.

Jetzt reicht es! „War es das jetzt?“, will ich von Larence wissen und wende mich ab. „Haben Sie Ihren Spaß gehabt? Kann ich jetzt gehen?“

„Und? Haben Sie sie erkannt?“ Meine Wut scheint ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken.

„Sie machen sich gerade lächerlich“, lasse ich ihn wissen. „Was soll man denn da noch erkennen?“

„Tja, schwierig“, gibt er zu. „Sie sieht am ganzen Körper so aus. Na, dann warten wir eben das genetische Gutachten ab. Die Blutgruppe stimmt schon mal, das haben wir bereits herausgefunden.“

„Na, dann viel Erfolg!“, wünsche ich ihm und wende mich um. Plötzlich blitzt eine ganz bestimmte Floskel in meinem Geist auf. „Leichte Jagd!“ Es ist schon heraus, bevor ich es verhindern kann.

Larence schaut mich lächelnd an. „Langes Leben!“, wünscht er mir.

Ich erstarre mitten im Schritt und sehe mich langsam um. Wir haben hier im Leichenkeller des Police-Departments von Berkeley gerade die uralte Grußformel der Darksider ausgetauscht. Das kann kein Zufall sein!

„Was zum Teufel ...“, beginne ich, aber er schüttelt nur ganz leicht den Kopf. Ich verstehe: Ich weiß Bescheid, er weiß Bescheid, und das muss reichen – genau wie bei Commissaire Reno, damals in Port Grimaud.

„Natürlich können Sie jetzt gehen, und Ihre Freundin werden wir auch in den nächsten Minuten freilassen.“ Larence lächelt mir zu, und zum ersten Mal sieht es echt aus. „Wohl ergeht es denen, über die der Stier wacht.“

„Danke!“, bringe ich heraus und mache, dass ich zur Tür komme.

„Was war das denn jetzt?“, will der Cop von Larence wissen. „Irgendeine Geheimsprache?“

„Ach, das sind nur so französische Redensarten“ lacht Larence. „Die Kleine kommt aus Paris. Die versteht mich schon.“

Und ob ich ihn verstehe! Der Stier wacht über mich. - Adriano del Toro, der Mann, dessen Schwester ich in das Gefängnis der Darksider gebracht habe, hat seine Finger auch hier im Spiel.

Hinter mir kracht die schwere Stahltür ins Schloss und ich mache, dass ich nach oben komme. Ich will endlich wieder Licht und Luft spüren und den Hauch des Todes abstreifen, der mich eben berührt hat.

Suchend irrt mein Blick durch die Eingangshalle, aber ich kann Lou nirgends entdecken. Hier drin halte ich es nicht aus, ich werde draußen auf sie warten.

Zielstrebig gehe ich auf den Ausgang zu und versuche den forschenden Blick des Cops am Empfang zu ignorieren. Was für ein mieser Job, in dem man überall nur noch Verdächtige sieht und keine Menschen, aber er spricht mich nicht an.

Sekunden später schließt sich die Glastür hinter mir, und ich spüre den frischen Wind, der von der Bay herüberweht. Etwas löst sich in meiner Brust, das sich während meiner Gefangenschaft wie ein hartes Knäuel zusammengeballt hatte. – Was muss das nur für ein Gefühl sein, wenn man für Jahre eingesperrt ist? Ich könnte so nicht leben, da bin ich mir ganz sicher. Ich würde eingehen wie eine Blume ohne Wasser und ohne Licht.

Auf der Straße rollt der Verkehr ruhig vorbei. Das Gebäude hinter mir ist mir zuwider, aber direkt gegenüber ist ein kleiner Park. Die Zebrastreifen absichtlich missachtend überquere ich die Straße und suche mir eine Bank, von der aus ich sehen kann, wenn Lou aus dem Gebäude kommt.

Es dauert nicht allzu lange. Schon nach etwa zwanzig Minuten sehe ich ihre kleine schlanke Gestalt aus dem Eingang kommen. Sie bleibt oben auf der Treppe stehen und schaut sich suchend um.

Ich stehe auf, um mich bemerkbar zu machen, aber sie hat mich schon entdeckt und kommt quer über die Straße auf mich zu. Ihre Antennen, oder wie immer man das nennen soll, haben ihr sofort gezeigt, wo ich bin.

„Alles gut gelaufen?“, empfange ich sie.

„Ging so.“

Wir umarmen uns kurz und setzen uns auf die Bank.

„Warst du auch in der Morgue?“, will ich von ihr wissen.

„Ja.“

„Haben sie dir auch zuerst diese Wasserleiche gezeigt?“

Lou nickt stumm.

„Und dann dieses verbrannte Etwas, bei dem man auch nichts mehr erkennen konnte?“

„Ja!“, bringt sie leise hervor. „Widerlich!“

„Das war doch Absicht. Die wollten uns damit zermürben. Man sollte sie anzeigen, diese Schweine!“

„Du, Lana ...“ Irgendwas scheint Lou zu bedrücken.

„Ja? Was ist denn?“

„Ich habe eben Diego gesehen.“

„Was? Ist er unseretwegen hergekommen? War er es, der uns da rausgehauen hat?“ Ich weiß selbst nicht, wie das möglich sein sollte, aber die Tatsache, dass er da drüben im Polizeigebäude ist, lässt für mich keinen anderen Schluss zu. Ganz sicher ist er gekommen, um uns zu helfen!

„Ich will zu ihm!“ Schon bin ich aufgestanden, aber Lou greift nach meiner Hand und hält mich fest.

„Lana“, sagt sie, „er ist nicht freiwillig hier.“

„Was?“ Ich verstehe nicht.

„Ich habe ihn auf dem Flur vor den Verhörzimmern gesehen. Er ging zwischen zwei Cops, und sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gefesselt.“

„Was? In Handschellen? Sie haben ihn verhaftet? Aber er hat doch gar nichts gemacht! Wir müssen ihn da rausholen!“ - Ich weiß, dass ich dummes Zeug rede, aber das ist mir egal. Er ist da drüben in diesem schrecklichen Haus, und ich will sofort zu ihm.

„Lana, komm, beruhige dich!“ Lou lässt meine Hand nicht los. „Du kannst im Moment nichts für ihn tun. Er kommt schon zurecht. Komm, setz dich wieder.“

Gehorsam lasse ich mich wieder auf die Bank sinken und spüre, wie sich schon wieder dieses harte Knäuel in meiner Brust zusammenballt. – Diego ist verhaftet worden. Will dieser Alptraum denn niemals enden?

DAS OPFER

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