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ОглавлениеKAPITEL 7 – 1962 - ÄNNE
"Guten Tag! - Haben Sie eine Panne?" Änne hatte den Wagen in der Abendsonne natürlich schon von Weitem erkannt, aber sie konnte sich nicht erklären, warum der Freund ihres Vaters hier auf dem Feldweg, offensichtlich in ein Buch vertieft, hinter dem Lenkrad saß. Unsicher blieb sie neben der Fahrertür stehen und sah durch die heruntergekurbelte Scheibe in den Wagen.
"Tag Änne! - Nein, keine Panne. Ich lese nur ein bisschen." Der Mann hob das Buch etwas an, damit Änne den Titel erkennen konnte.
"In einem anderen Land", las Änne laut. "Das ist ja was von Hemingway!", stellte sie entzückt fest. "Wie ist es? - Wir haben in der Schule "Der alte Mann und das Meer gelesen. Kennen Sie das auch? Das ist ganz toll! Die Mädchen haben alle geschluchzt."
"Das hier geht so", meinte der Mann. "Ist ein Kriegsroman. - Gefällt mir nicht so gut." Der Mann war wirklich nicht sehr angetan von dem Buch. Von Soldatenehre hatte er selbst zwar nie viel gehalten, aber das hier war ja direkt wehrkraftzersetzend - als Köder schien das Buch aber ganz gut zu sein.
"Kriegsroman?" Änne zog eine Schnute. "Ich glaub', das ist nichts für mich."
"Bestimmt nicht", lachte der Mann und steckte das Buch in seine Aktentasche. "Steig doch mal ein. - Ich habe extra auf dich gewartet."
"Warum?" Eine steile Falte erschien auf Ännes Stirn und sie ging unbewusst einen halben Schritt zurück. "Hat mein Vater Sie geschickt? Sollen Sie mir ins Gewissen reden?"
"Nicht direkt", sagte der Mann. "Aber er macht sich deinetwegen große Sorgen, das weißt du ja, und da habe ich mir gedacht ..."
"Ich kann auf mich selbst aufpassen", fiel Änne ihm ins Wort. Es wirkte nicht unhöflich, weil sie leise sprach und den Mann dabei anlächelte, aber es klang sehr bestimmt.
Der Mann glaubte ihr fast. Änne war ein Mädchen, das wusste, was es wollte. Ihr ganzes Wesen strahlte etwas aus, das schwer zu definieren war, das aber etwas mit Sauberkeit, Anstand und Ehrlichkeit zu tun hatte. Der Mann staunte, unter welch perfekter Maske die Liederlichkeit sich verbarg, mit welcher Frechheit sie ihre zügellose Geilheit leugnete, die für ihn so offensichtlich war. Änne war selbstbewusst. - Zu verdammt selbstbewusst, fand der Mann. Warum stieg sie nicht ein, wenn er sie dazu aufforderte?
Der Mann schaute unauffällig in den Rückspiegel. Er hatte seine Ankunft hier auf den Busfahrplan abgestimmt und stand erst seit fünf Minuten auf dem Feldweg. Noch war niemand vorbeigekommen, der seinen Plan hätte gefährden können, aber so abgelegen die Gegend auch war, irgendwann würde doch ein Passant auftauchen, und dann war alles zunichte.
"Ich weiß, dass du vernünftig bist", sagte der Mann lächelnd. "Aber schau mal, da gibt es so ein paar Sachen ..."
"Ich weiß schon:" Ännes Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. "Geh nicht ins Kino - bleib von der Eisdiele weg - komm von der Arbeit direkt nach Hause! - Darfst ja auch Radio hören! - Stimmt's?"
Änne hatte das Gesicht abgewandt und schaute nun mit erhobenem Kopf über die Felder. Der Mann konnte sie aus seiner sitzenden Stellung heraus im Profil sehen. Aus dem knapp sitzenden, dünnen Pulli stachen die kleinen Brüste spitz hervor. Ihre kleine Tasche hatte Änne mit beiden Händen umfasst und hielt sie dicht an ihren flachen Bauch gedrückt. Der Mann sah, dass sie langsam eine Fuß vorsetzte. Sie wirkte im Moment auf ihn gar nicht wie eine Fünfzehnjährige, sondern er sah eine junge Frau in ihr. Eine sehr entschlossene junge Frau. - Entschlossen, jetzt weiterzugehen.
So klappte es also nicht! Der Mann entschied sich, schwerere Geschütze aufzufahren. "Schätze, ich habe dich vor ein paar Tagen mit einem Jungen zusammen gesehen", sagte er bedeutsam. Das war mehr oder weniger ein Schuss ins Blaue, aber Änne zuckte zusammen und warf den Kopf herum. "Wo denn wohl?", wollte sie wissen.
"In der Stadt natürlich", sagte der Mann. "Frag doch nicht so dumm! - Ihr scheint euch ja gut zu verstehen."
Änne schien einen Moment lang zu überlegen, ob sie es riskieren sollte, zu lügen, entschied sich dann aber dafür, es sich mit dem Freund ihres Vaters lieber nicht zu verderben. "Werden Sie das meinem Vater erzählen?", fragte sie unsicher.
"Ja, sage mal, wofür hältst du mich?" In der Stimme des Mannes schwang ein empörter Unterton mit. Jetzt hatte er fast schon gewonnen. - Die Angst vor ihrem Vater würde Änne direkt in seine Arme treiben. "Wenn dein Vater davon wissen sollte, dann würde dein Freund dich ja wohl heimbringen, oder?"
"Papa darf das nicht wissen!" Es war etwas Flehendes in Ännes Stimme, das dem Mann einen Schauer des Wohlbehagens durch den Körper laufen ließ. - So mochte eine Katze sich fühlen, die ein Mäuschen in einen Mauerwinkel getrieben hat. Jetzt wirkte Änne wieder wie ein kleines Mädchen. Die Füße leicht nach innen gestellt stand sie in ihren engen Jeans wie festgenagelt da, hielt die Tasche krampfhaft an sich gepresst und sah ihn mit großen Augen an. Der Mann wusste, dass er nun Macht über sie zu gewinnen begann, und er genoss den Augenblick.
"Änne?"
"Ja?"
"Sag mal, hast du eigentlich Angst vor deinem Vater?"
"Er wird manchmal so schrecklich wütend." Änne stand immer noch neben der Fahrertür. Sie sah zu Boden und fingerte vor Verlegenheit an ihrer Tasche herum. "Das gestern war noch überhaupt nichts."
"Fasst er dich hart an? - Hast du Angst vor Schlägen?" Die Stimme des Mannes floss über vor Verständnis.
"Nein, nein!" Änne schüttelte heftig den Kopf. "Aber er schimpft immer mit mir. Seit Mutti tot ist, ist er richtig gemein geworden. Er nennt mich sogar eine ..."
Es war nicht nötig, dass Änne das aussprach, was ihr nicht über die Lippen wollte. Der Mann konnte es sich durchaus vorstellen, wie Carstens seiner Tochter das Wort "Nutte" entgegenbrüllte. "Wie wäre es, wenn wir ein bisschen herumfahren, und du erzählst mir alles? Ich könnte deinen Vater dann vielleicht ein wenig beruhigen, damit er nicht mehr gar so streng mit dir ist."
"Das würden Sie für mich machen?", fragte Änne ungläubig und schaute auf.
"Natürlich!" Der Mann lächelte und nickte gleichzeitig ernsthaft. "Ich kenn' dich doch. Ich weiß doch, dass du ein anständiges Mädchen bist. - Komm steig ein!"
Änne ging um den Wagen herum und stolperte auf dem Grasstreifen entlang, der das Ackerland von der Straße trennte. Dann zog sie die Tür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. "Ich muss aber bald zu Hause sein." Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett, die zehn Minuten nach acht anzeigte.
"Natürlich!", sagte der Mann und drückte den Anlassknopf. Der Sechszylinder lief so leise, dass man ihn im Wagen kaum hörte."Wir fahren nur so ein bisschen rum und du erzählst mir alles - um neun bringe ich dich dann nach Hause und rede mit deinem Vater." Der Mann legte den Gang ein und der Wagen rollte sanft an.
"Können wir auch ein Stück Autobahn fahren?", fragte Änne und deponierte ihre Tasche im Fußraum. "So richtig schnell?"
"Sicher", sagte der Mann. "Machen wir. - Schau doch mal auf dem Rücksitz nach, ich glaube da liegt noch was Süßes rum. - Du magst doch Pralinen, oder?"
"Ah, da sind sie ja!" Änne hatte sich auf den Sitz gekniet und lag nun mit dem Bauch auf der Rücklehne. - Mädchen sollten keine Hosen tragen, fand der Mann, als er zur Seite schaute. Unter dem Jeansstoff zeichnete sich Ännes Figur deutlich ab; sogar die Nähte der Unterwäsche waren durch den straff gespannten Stoff zu erkennen. Der kurze Pulli war hochgerutscht und ein paar Fingerbreit heller, samtig schimmernder Haut schauten hervor.- Natürlich zog sie sich bloß so an, um die Kerle in der Eisdiele aufzugeilen. Es war zu verdammt reizvoll!
Änne drehte sich wieder um und setzte sich. Sie war ganz auf die geöffnete Pralinenschachtel konzentriert und hatte den verstohlenen Seitenblick nicht bemerkt. "Die hier mag ich!", erklärte sie nach einigen Sekunden und zeigte auf eine helle Praline, die mit dünnen, tiefschwarzen Schokoladenstreifen verziert war. "Das ist bestimmt Nougat. - Darf ich wirklich?"
"Sicher doch!", sagte der Mann und lächelte, als sie zugriff. - Nougat war immer der Renner. Die anderen Pralinen hätte er gar nicht zu präparieren brauchen. "Ich mag Marzipan am liebsten" erklärte er dann. "Das sind die mit der Mandel drauf."
Der Mann trieb den 220er zügig den Weg hinab, um möglichst schnell, und vor allen Dingen ungesehen, die Hauptstraße zu erreichen.
"Toll!", fand Änne. Sie fuhr gern Auto, vor allem, wenn es richtig schnell voranging.
Der Mann hatte im Moment ganz andere Sorgen. Nervös schaute er in den Rückspiegel und seitlich über die Felder hinweg, aber da war niemand zu entdecken, der den Wagen hätte sehen können. Wäre da jemand gewesen, dann hätte er Änne die Pralinen weggenommen, während der Fahrt ein ernstes Gespräch mit ihr geführt, und sie als guter Freund der Familie nach einer halben Stunde zu Hause abgeliefert. Aber da war niemand, und als sie auf die Hauptstraße einbogen, war Ännes Schicksal so gut wie besiegelt.
"Toll!", sagte Änne wieder, als der schwere Wagen wie von der Sehne geschnellt die Hauptstraße entlangschoss. Ihr Vater fuhr einen Weltkugel-Taunus mit Dreiganggetriebe, da war nicht viel zu holen. "Auf der Autobahn drehen Sie dann richtig auf, ja?"
Der Mann nickte, während er konzentriert nach vorne sah. Der Tacho pendelte jetzt schon um die 140 km/h-Marke herum. Weit voraus tauchte auf der rechten Straßenseite ein Motorroller auf, dessen Fahrer sich weit über den Lenker gebeugt hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Mercedes ihn eingeholt und war an ihm vorbei. "Das war Harry!", rief Änne aus und drehte sich auf dem Sitz um.
Der Mann sah in den Rückspiegel. Der Roller war weit zurück und kaum noch zu erkennen.
"Harry ist auch öfters in der Eisdiele", erzählte Änne. "Der ist lustig - erzählt lauter Blödsinn, damit die anderen lachen müssen."
"Hat er dich erkannt?", wollte der Mann wissen.
"Ich glaube nicht", meinte Änne. "Wir waren viel zu schnell. - Ich habe ihn ja kaum erkannt."
"Schade", meinte der Mann. "Was meinst du, wie der guckt, wenn du ihm erzählst, wie wir an ihm vorbeigebraust sind."
"Der wird vor Neid ganz grün", vermutete Änne und der Mann stimmte in ihr Lachen ein. "Nimm dir doch ruhig noch eine Praline."
"Und Sie?" Auffordernd hielt Änne ihm die Schachtel hin, die die ganze Zeit auf ihrem Schoß gelegen hatte.
"Eigentlich esse ich beim Fahren nichts." Der Mann zog den Wagen auf die Gegenspur, um einen Traktor zu überholen. Das knatternde Geräusch des kleinen Diesels wehte kurz durch das offene Fenster herein.
"Och!" Änne wollte die Schachtel enttäuscht zurückziehen.
"Aber bei Marzipan kann ich eben nicht widerstehen." Er griff in die Schachtel und hob eine der Pralinen an der halbierten Mandel aus der Packung. Er mochte Süßigkeiten eigentlich überhaupt nicht, aber er hatte viel gelernt, seit er vor vier Jahren sein erstes Opfer betäubt hatte. Es hatte sich gezeigt, dass es manchmal nötig war, die Mädchen ein wenig zu animieren - ihnen Appetit zu machen - ihren Futterneid zu erregen, wie der Mann es bei sich nannte. - Also hatte er die Marzipanpralinen nicht mit Schlafmittel gespritzt, und da die meisten Mädchen genug Anstand besaßen, sich nicht an seinen erklärten Lieblingsleckereien zu vergreifen, konnte er so eventuell aufkeimendes Misstrauen schnell entkräften.
"Gleich sind wir an der Autobahn." Der Mann sah aus dem Augenwinkel, dass Änne sich schnell noch eine dritte Praline nahm. Dann verschloss sie die Schachtel, legte sie wieder auf den Rücksitz und setzte sich für den zu erwartenden Geschwindigkeitsrausch in Positur.
"Wenn wir wieder von der Autobahn runterfahren, sollten wir aber wirklich mal über dich reden", meinte der Mann. - Aber er verließ die Autobahn nicht an der nächsten Abfahrt, denn da war Änne bereits auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Der Mann machte sich keine Gedanken deswegen. Der Rekord lag bei fünf Pralinen, und das Mädchen war noch in der selben Nacht wieder voll da gewesen. - Diese kleinen Schlampen vertrugen mehr, als man ahnen konnte.
Änne war nach links gekippt und lehnte nun an der Schulter des Mannes, aber noch konnte man sie von draußen sehen. Die anderen Fahrer mochten sie für ein Liebespaar halten, aber so langsam begann sich der Rücken des Mannes zu versteifen, weil er ständig einen Druck nach rechts ausüben musste. Als er sicher war, dass Änne nichts mehr spürte, zog er die Schulter nach hinten und ihr Kopf glitt auf seinen Schoß. Nach wenigen Sekunden spürte er die Wärme ihrer Wange an seinem Schenkel und die Reaktion blieb nicht aus. - Aber so lief das nicht. So lief das nie!
Der Mann sah auf die Uhr. - In etwa einer Stunde würde es dunkel sein, und gute vier Stunden brauchte er bis nach Hause. Das würde eine harte Zeit werden, aber der Lohn für seine Beherrschung würde umso größer sein.
Der Tacho pendelte um die 150 km/h-Marke. Schneller zu fahren hatte keinen Sinn, weil die Reifen das auf Dauer nicht mitmachen würden. Ein neuer Opel Rekord tauchte im Rückspiegel auf, schob sich langsam näher und überholte schließlich. Der Fahrer sah starr geradeaus, aber der Mann merkte, wie stolz er war, einen Mercedes überholt zu haben. "Davon kannst du deinen Enkeln noch erzählen", knurrte er. Es wurde langsam dunkel. - Knapp vier Stunden noch bis nach Hause. Der Mann konnte es kaum erwarten. Flüchtig dachte er an Carstens. Sein Freund tat ihm wirklich Leid. - Geradezu tragisch, dass seine Tochter so ein Flittchen war, aber nun war es nicht mehr zu ändern.