Читать книгу DÄMONEN DER STEPPE - Michael Stuhr - Страница 12
ОглавлениеSABÉ
Ysell hatte ihr altes Leben abgestreift wie verschmutzte Kleidung. Die Familie, die Straßen der Stadt, die Streiche, das alles lag weit hinter ihr und war in der Erinnerung farblos und flach geworden. Selbst die kurzen Gespräche mit Sabé, direkt nach ihrer Verurteilung, waren nichts sagend und allgemein geblieben. Beide hatten gewusst, dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden und zumindest Ysell war es recht gewesen. Sabé hatte nicht einsehen können, dass sie bereit war, ihre Strafe zu akzeptieren, aber spätestens, seit sie dem Mädchen das Bein gebrochen hatte, war ihr selbst klar geworden, dass es mit ihr so nicht weitergehen konnte. Alles, was mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, war gefährlich. Es hätte sie wieder aus der Bahn werfen können, und so hatte sie sich für eine Zeit lang ganz auf das Zwingergelände zurückgezogen. Die abrupte Trennung von allem was ihr bekannt gewesen war und vor allem der Umgang mit Bogan und Läufer hatten ihr Leben vollständig verändert, so daß man mit Recht sagen konnte, der Zwinger habe einen neuen Menschen aus ihr gemacht.
Zuerst hatte Läufer sie gebraucht, und Nekoi hatte ihr Lesen und Rechnen beigebracht. Dann hatte Ysell nach und nach erkannt, dass Bogan sich auf sie verließ, sie hatte die Anerkennung der gesamten Trossmannschaft gewonnen und schließlich waren Reißer und Dax dazu gekommen, so daß sie jetzt ein Rudel Junghunde zu betreuen hatte. Alle mussten versorgt und ausreichend beachtet werden und zu allem, was sie tat, musste Ysell sich Gedanken machen. Am Abend war sie dann immer so müde, dass sie keinen unnötigen Schritt mehr tun wollte. Selbst in der Nacht hatte sie keine Ruhe vor ihren Junghunden, denn der geistige Kontakt bewirkte, dass sie all ihre wirren Hundeträume miterleben musste.
So verging mehr als ein Jahr und Ysell war in dieser Zeit nicht öfter als fünfmal in der Stadt gewesen, meistens, um in Bogans Auftrag etwas für den Zwinger zu besorgen. Der Zwinger war ihr Zuhause geworden - ihre Familie, ihre Welt. Ysell hatte Sabé vor über einem Jahr zum letzten Mal gesehen - und sie hatte ihn fast vollständig vergessen.
„Ysell?“ Auch Ysell hatte Sabé kaum wiedererkannt. Nachdenklich hatte sie gerade vor einer Marktbude mit Schüsseln gestanden, denn im Zwinger wurden ein paar neue Näpfe gebraucht, da hatte ein Schatten sich neben sie geschoben und sie hatte eine Berührung an ihrer Weste gespürt. Gereizt hatte sie sich umgeschaut, denn sie fühlte sich gestört, da hatte sie im Gesicht des Jungen neben ihr etwas Bekanntes entdeckt. „Sabé?“ Ysell konnte es kaum glauben, dass der hochaufgeschossene Junge neben ihr ihr ehemaliger Spießgeselle sein sollte. Sein Körper hatte sich gestreckt und er wirkte fast schon wie ein junger Mann. Gerade noch konnte sie sich ein „Du bist aber gewachsen!“ verkneifen.
„Du bist aber gewachsen!“, sagte Sabé und schaute seine alte Freundin erstaunt an. Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen, aber jetzt ...
„So? Hatte ich gar nicht gemerkt.“ Fast war Ysell froh, sich ein bisschen über Sabé ärgern zu können, denn sofort als sie ihn erkannte, hatte sich ihr schlechtes Gewissen geregt. Jedes Mal, wenn sie in die Stadt gegangen war, hatte sie sich gedacht, dass es jetzt eigentlich mal an der Zeit sei, Sabé zu suchen und ihm von ihrem neuen Leben zu erzählen - und jedes Mal hatte sie es nicht getan. Sie konnte sich noch nicht einmal einreden, es einfach vergessen zu haben; sie hatte sogar ganz bewusst die Plätze gemieden, an denen sie ihn hätte treffen können. Zuerst hatte sie es für ratsam gehalten, nicht mit Sabé gesehen zu werden, weil sie ja als verurteilte Missetäterin bekannt war. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass jemand in ihm doch noch ihren Komplizen erkannte, denn wenn all das aufgeschwommen wäre, was sie zusammen angestellt hatten, dann wäre es auch Sabé schlecht ergangen. Später hatte sie ab und an den Gedanken gehabt, ihn mal wieder zu treffen, doch sie hatte ihr Vorhaben nie verwirklicht. Sabé war für Ysell ein Stück ihrer Kindheit, und sie war so froh, der lieblosen Familie, dem muffigen Haus, dem heruntergekommenen Stadtviertel entkommen zu sein, dass sie ihr neues Leben nicht mit dem Makel alter Erinnerungen hatte beflecken wollen. - Und Sabé gehörte nun mal leider zu ihrer trüben Vergangenheit, so nett er damals auch gewesen war. Trotzdem fand Ysell es nicht richtig von sich, ihn zu meiden und jedes Mal, wenn sie an ihn denken musste, gab ihr Gewissen ihr einen Stich - und jetzt stand er plötzlich vor ihr.
„Na, haben sie dich endlich laufen lassen?“, wollte Sabé wissen „War es schlimm?“
Es ärgerte Ysell ein wenig, als sie Sabé so reden hörte, aber er konnte ja von all den aufregenden Erlebnissen, die sie gehabt hatte, nichts wissen. „Ich bin jetzt freiwillig dort“, antwortete sie „Ich bin jetzt Aufspürerin und habe drei eigene Hunde!“ Der Stolz in Ysells Stimme war bei ihrem letzten Satz unüberhörbar.
„Trosshunde etwa? - Du hast drei Trosshunde?“ Sabé vergaß, den Mund wieder zu schließen.
„Klar!“ Sabé brauchte ja nicht unbedingt zu wissen, dass es Junghunde, und einer davon fast noch ein Welpe, waren.
„Richtig ausgewachsene Trosshunde?“ Sabé konnte sich kaum beruhigen „Drei Stück? - Bei allen Göttern!“
„Komm, lass uns da rüber gehen.“ Ysell tat, als habe sie Sabés erstaunten Ausruf nicht gehört. Sie ging ein Stück die Straße entlang und setzte sich neben dem Badehaus auf ein Mäuerchen, das einen Brunnen umgab. Sabé folgte ihr.
„Und du? - Was machst du so?“, wollte Ysell nun wissen.
„Och, nichts Besonderes.“ Sabé hob kurz die Schultern „Mal dies, mal das. - Ich lauf halt so herum.“
Ysell konnte sich kaum noch vorstellen, wie es war, einfach so herumzulaufen. Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. Es passte ihr nicht, dass sich bei Sabé so rein gar nichts geändert hatte. - Dass er immer noch einfach so durch die Stadt lief, wie ein Kind. Sabé war aber kein Kind mehr. Er war fast genauso alt wie sie. „Es geht dir nicht so gut, stimmt’s?“, vermutete Ysell. Ihr war aufgefallen, wie mager Sabé war. „Wovon lebst du?“
„Och, das findet sich.“ - Wieder dieses „Och“ - Beginn aller Ausflüchte und Lügen der Kindheit. Sabé konnte Ysell bei der Antwort nicht in die Augen sehen, er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen. Ysell begann, Schlimmes zu ahnen.
„He, Sabé!“ Ein dünner Junge in zerlumpten, schmutzigen Kleidern kam in vollem Lauf über den Marktplatz und stoppte kurz vor der Brunnenmauer. „Eisor sucht nach dir!“, keuchte er „Du solltest doch zwei Handmaß nach Hochsonne bei dem Verschlag am Maisfeld sein!“
„Oh, verdammt!“ Sabé streckte den Arm aus, winkelte die Hand an und maß schnell die Zeit am Himmel ab. „Zweieinhalb nach Hochsonne schon? - Bei allen Göttern, ich muss los!“ Hastig sprang er von den Mauer und wollte sich von Ysell verabschieden „Also dann ...“
„Was hast du denn mit Eisor zu tun?“ In Ysells Stimme lag eine Schärfe, die Sabé aufhorchen ließ.
„Geschäfte!“, antwortete er knapp und wichtigtuerisch „Was hast du denn gegen Eisor?“
„Geschäfte?“ Ysell lachte bitter auf „Seit wann macht einer wie Eisor Geschäfte? Von dem würde doch keiner etwas annehmen, und wenn er reines Gold zu verschenken hätte.“
„Da irrst du dich aber!“, verteidigte Sabé seinen neuen Freund. Eisor hat immer Dinge, die er verkaufen kann, und an Abnehmern fehlt es ihm auch nicht.“
„Leute wie Farkas, ja?“ Ysell sah, wie Sabé zusammenzuckte und stand schnell von der Mauer auf. Sie hatte den Namen des alten Hehlers, der ihr von früher bekannt war, nur erwähnt um Eisors „Geschäfte“ zu verspotten, aber nun sah sie, dass sie vollständig richtig lag. - Sabé war Mitglied einer Diebesbande, deren Kopf Eisor - ausgerechnet der dumme Eisor - war.
Ysells Zorn stieg so heftig und so plötzlich in ihr auf, wie es seit über einem Jahr nicht mehr geschehen war. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, ihr Gesicht rötete sich und ihr Mund verzog sich zu einer Grimasse der Wut. „Verschwinde, Laufbursche!“, zischte sie dem Jungen zu, der Eisors Botschaft überbracht hatte.
„He, was ist denn mit dir ...“
„Verschwinde!“, wiederholte Ysell mit Nachdruck „Sag dem dummen Eisor, dass seine Mannschaft sich gerade verkleinert hat, denn Sabé wird bestimmt nicht mehr für ihn arbeiten.“
„Moment mal!“, wollte Sabé sich einmischen, aber da wurde Ysell erst richtig wütend.
„Bist du eigentlich wahnsinnig?“, fuhr sie ihren Freund an, so daß der einen halben Schritt zurückwich „Du gehst für Eisor klauen? Bist du jetzt vollständig übergeschnappt?“
„Wieso ...“
„Eisor ist dumm!“ Ysell dachte nicht daran, sich unterbrechen zu lassen „Er kann den Mund nicht halten! Er macht irgendwelchen Blödsinn und prahlt auch noch damit! Wie kannst du dir solche Freunde - oh Verzeihung - Geschäftspartner suchen?“
„Das kam, weil ...“
„Das ist doch wohl das Letzte!“ Ysell war nicht zu stoppen „Wie lange, denkst du, dauert es, bis ihr geschnappt werdet? Wie viele seid ihr überhaupt?“
„Vier“, gestand Sabé schnell, froh auch mal ein Wort dazwischen zu bekommen. Der Laufbursche hatte sich schon ein Stück weit zurückgezogen und schaute nun aus sicherer Entfernung zu.
„Vier!“, wiederholte Ysell „Oh ihr Götter! Vier Tölpel auf Raubzug, und fangen sie einen, dann fangen sie alle!“
„Blödsinn!“, versuchte Sabé sich zu wehren „Die halten schon dicht. - Du hast mich doch damals auch nicht verraten.“
Ysell wurde blass. Das was Sabé da sagte, war eine so ungeheure Beleidigung, dass ihre Wut schlagartig in sich zusammenfiel und sie nur noch eine maßlose Enttäuschung fühlte. „Du vergleichst mich mit Eisor?“, fragte sie leise. „Ja, glaubst du denn, dass er aus Freundschaft zu dir den Mund halten würde, wenn der Richter ihm Vorteile verspricht? Wenn er gefangen wird, Sabé, dann sind keine zwei Handmaß danach die Stadtsoldaten auf der Suche nach dir, darauf wette ich meine beiden Daumen! - Oh - schau mal, da kommen sie schon!“
„Wo?“ Sabé wirbelte herum und versuchte die Wachen zu entdecken. Sein Gesicht sah gehetzt aus und sein Körper war angespannt. Fluchtbereit sah er sich um, und seine Augen irrlichterten über die Straße. Dann erkannte er, dass Ysell ihn hereingelegt hatte.
„Siehst du“, sagte Ysell in ruhigem Ton „Du weißt es selber. Du brauchst nur daran zu denken, dass man Eisor erwischt, und du wirst verrückt vor Angst.“
„Blödsinn!“, widersprach Sabé ärgerlich „Ich bin nur ein bisschen nervös, weil ich ...“
„Weil du ein Dieb bist“, fiel Ysell ihm ins Wort. „Mach Schluss mit diesem Blödsinn, sonst erschrickst du bald vor deinem eigenen Schatten.“
„Warum sollte ich? Ich bin geschickt, das weißt du, und wenn ich erwischt werde, dann kann ich mich doch immer noch vom Richter zu euch, zum Zwinger, schicken lassen.“
„Keine Ahnung, ob der Richter einen Dieb zu uns schicken würde“, meinte Ysell „Vielleicht schickt er dich auch dorthin, wo es nichts zu klauen gibt. - Dann kannst du die Jauchegruben auf den Bauernhöfen leeren oder die Fleischabfälle auf dem Schlachthof zusammenklauben. - Immer unter Aufsicht natürlich!“
„Solche Strafen gibt es?“ Der Gedanke schien Sabé nicht sonderlich zu behagen.
„Natürlich!“, erklärte Ysell im Brustton der Überzeugung. Sie hatte keine Ahnung, ob solche Strafen wirklich verhängt wurden, aber sie wollte Sabé Angst machen. Sie wollte, dass er dieses Leben aufgab - und zwar rechtzeitig, bevor er noch schlimmere Dinge tat. „Ich wünschte fast, ich hätte dich damals verraten. Dann wärst du wenigstens nicht als Dieb vor den Richter gekommen.“
„Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen?“ Sabés Stimme klang patzig, aber er schien doch schon halb überzeugt.
„Wie tief steckst du drin?“, wollte Ysell wissen. „Was weiß Eisor von dir?“
„Eigentlich noch gar nichts.“ Sabé sah Ysell unsicher in die Augen „Ehrlich! Wir haben da erst was geplant.“
Ysell fiel ein Stein vom Herzen, sie hatte gerade eben nämlich auch etwas geplant, aber sie wollte Sabé noch nichts davon sagen. „Halte dich fern von der Bande“, trug sie ihm nur auf „und sei morgen um dieselbe Zeit wieder hier. - Möglich, dass sich bis dahin etwas ergeben hat.“
„Du willst mich bei euch im Zwinger unterbringen, stimmt’s?“
Ysell seufzte. Sie hatte keine zweifelhaften Hoffnungen erwecken wollen, aber Sabé war noch ganz der alte, er hatte sie sofort durchschaut. „Stimmt“, gab sie zögernd zu. „Aber ich weiß noch nicht ob es auch möglich ist. - Hättest du denn Lust?“
„Ich denk mal drüber nach.“ Sabés Stimme klang betont mürrisch, aber Ysell spürte, dass er interessiert war.
„Kommst du jetzt endlich?“, rief Eisors Laufbursche aus einiger Entfernung.
„Nein!“, schrie Sabé zurück „Verroll dich!“
Der Laufbursche machte eine obszöne Geste und ging mit unentschlossenen Schritten davon. Ysell war erleichtert. - Nachdenklich ging sie zum nächsten Marktstand und kaufte ein kleines Brot. Sie gab Sabé die Hälfte davon und verabschiedete sich. Vielleicht war sie ja gerade noch im rechten Moment gekommen.
Auf dem Rückweg zum Zwinger war es Ysell schlecht vor Aufregung. Nach dem Gespräch mit Sabé hatte sie auf dem Markt schnell noch die Schüsseln gekauft. Sie war nicht ganz bei der Sache gewesen und hatte wahrscheinlich zu viel dafür bezahlt. Keine gute Voraussetzung für ein Gespräch mit Bogan.
Bogan musste helfen! Bogan hatte Macht! Bogan war freundlich und gerecht. Vielleicht fand er ja eine Möglichkeit, auch Sabé in seine Mannschaft aufzunehmen.
Ysell war sich keineswegs sicher, was ihren Einfluss bei Bogan anging. Sie war sich zwar bewusst, dass sie in der Zeit im Zwinger sehr viel geleistet hatte - aber ebenso klar war ihr, dass das nur möglich gewesen war, weil Bogan sich für sie eingesetzt und an sie geglaubt hatte. Würde er das Risiko nochmals eingehen wollen, ein ungezähmtes Straßenkind bei sich aufzunehmen? - Denn dass er mit ihr ein Risiko eingegangen war, das war Ysell schon klar. Sie stellte sich vor, Sabé sei ein Fremder für sie, und er schnitt schlecht ab dabei. Wie er so dagestanden hatte, von Hunger und Misstrauen gezeichnet, mit unstetem Blick und immer auf Ausflüchte bedacht, da hätte sie ihm selbst nicht vertraut. Man musste Sabé schon sehr gut kennen, um zu wissen, dass er ein wirklich feiner Kerl war und der beste Freund, den man sich denken konnte. Würde Bogan so tief sehen können? Ysell traute es ihm zu, aber sie war sich absolut nicht sicher.
Gleichviel - Ysell hatte ein Versprechen gegeben. Nicht nur Sabé, sondern vor allem sich selbst hatte sie versprochen, es wenigstens zu versuchen - und was Ysell versprach, das hielt sie auch - und was sie sich vorgenommen hatte, das führte sie auch aus! Ysells Körper straffte sich, und mit schnellen Schritten strebte sie dem Zwinger zu, so daß die Schüsseln, die sie trug, leise zu klappern anfingen.