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TROSSHUNDE UND TRAGTIERE

Bogan war nicht ärgerlich, als Ysell pünktlich zwei Handmaß vor Frühsonne vor dem Tor des Zwingers stand. Im Gegenteil, er freute sich sogar, soweit Ysell das bei dem alten Miesepeter feststellen konnte. - Jedenfalls ließ er sie ein.

Wenn Ysell jetzt aber erwartet hatte, sofort zu Läufer geführt zu werden und den ganzen Tag lang mit ihm spielen zu dürfen, dann hatte sie sich gründlich geirrt.

Bogan führte sie vom Tor aus direkt zu einem Schuppen, aus dem ihr ein so schrecklicher Gestank entgegenschlug, dass es ihr fast den Atem verschlug. In dem Schuppen waren gerade vier junge Leute, die Bogan als Aufspürer vorstellte, dabei, Fleischabfälle aus offenen Fässern auf große Fressnäpfe zu verteilen. Die Fässer waren auf einem flachen Karren befestigt. Ein junger Mann balancierte auf dem Rand der Plattform und holte mit einer großen, plumpen Schöpfkelle Dinge aus den Fässern hervor, die Ysell noch nie im Leben gesehen hatte. „Innereien“, erklärte Bogan „Gut für Hunde. Innereien fressen sie am liebsten. - Geh auch mal da rauf.“

Augenblicke später fand sich Ysell, krampfhaft bemüht, nicht gänzlich vornüber zu kippen, bis zu den Hüften in ein Fass gebeugt wieder. Als Neuling stand ihr natürlich die „beste“ aller Arbeiten zu und sie musste mit ihren bloßen Händen die kleinen Fleischstücke vom Boden der Fässer angeln, die ihr Kollege mit der klobigen Schöpfkelle nicht aufnehmen konnte.

Die Aufspürer brachten einen Napf nach dem anderen zum Zwingergebäude und kamen so wenigstens für kurze Zeit in den Genuss atembarer Luft. Nur Ysell schuftete in der stinkenden Baracke ununterbrochen stumm und verbissen vor sich hin.

Danach hieß es Wasser schleppen. Fässer, Karren, Fußboden und Arbeitstisch mussten peinlich sauber geschrubbt werden. Nicht ein Fleischfetzchen durfte Bogan noch vorfinden, wenn er kontrollieren kam, denn sonst gab es furchtbaren Ärger, wie Ysell erfuhr.

Viel später, es war schon zwei Handmaß vor Hochsonne, ging Ysell langsam über den Hof - abwechselnd tief gebückt oder im Entengang. Zwei dünne Brettchen in den Händen, kümmerte sie sich um die Hinterlassenschaften der Trosshunde. Der Kot wurde täglich entfernt und war deshalb auch nicht ausgetrocknet. Ysell begann, Trosshunde zu hassen.

Endlich, zur Zeit der Hochsonne, nachdem sie noch etliche leere Zwinger geschrubbt hatte, durfte sie sich selbst waschen und ein wenig ausruhen.

In dem Futterschuppen und während der Drecksarbeit auf dem Hof hatte Ysell gedacht, dass ihr nie wieder ein Essen richtig schmecken würde, aber der köstliche Duft, der ihr aus der Gemeinschaftsbaracke entgegenschlug, überzeugte sie schnell vom Gegenteil. An warmes Essen war Ysell nicht gewöhnt. Ihre Mutter kochte nur selten und der Vater war’s zufrieden. „Für das bisschen, was ich esse, trinke ich lieber ein wenig mehr“, pflegte er zu sagen und Ysell konnte nur bestätigen, dass das aufs Wort stimmte.

Die beiden Trossleute, die heute Küchendienst taten, hatten sich angestrengt, und das Essen war ihnen hervorragend gelungen. Klein geschnittenes, gebratenes Fleisch war mit vielen verschiedenen Gemüsesorten zu einem würzigen Gericht verkocht worden und Ysell stellte sich brav am Ende der Schlange an, um ihren Anteil zu erhalten. Kurz darauf balancierte sie einen Holzteller und einen ebensolchen Löffel zum nächsten Tisch, an dem noch ein Platz frei war. Ysell hatte nicht gewusst, dass bei den Trosshunden und Tragtieren so viele Menschen arbeiteten, es mussten an die dreißig Frauen und Männer sein, die hier in der Pause zusammensaßen.

Ysell löffelte genüsslich ihr Essen. Es schmeckte noch besser, als es gerochen hatte, und auch als Pekan, ein junger Trossmann von der Tragtierzucht, ihr erklärte, das Essen sei nur deswegen so gut, weil Bogan persönlich jeden Tag die besten Stücke aus den Futterfässern angle, ließ sie sich nicht stören. Sie nickte nur verstehend und besonders genüsslich schmatzend mit vollem Mund, worauf sich Pekan kopfschüttelnd zurückzog.

Bogan selbst aß auch in der Gemeinschaftsbaracke. Nach dem Mahl saß man noch eine Weile zusammen und Bogan unterhielt sich mit einigen Leuten. Er hörte sich an, was für Probleme sie bei der Arbeit hatten, erkundigte sich nach bestimmten Tieren und gab einige Anweisungen und Ratschläge. Ysell spürte, dass alle Anwesenden hier Bogan hoch achteten und seine Meinung respektierten. Ysell war allerdings nicht so ganz zufrieden mit dem Alten - er sollte sie jetzt endlich zu Läufer bringen!

Als habe Bogan ihre Gedanken erraten, stand er nun auf und kam an Ysells Tisch. „Na, wollen wir jetzt mal sehen, was Läufer so macht?“, fragte er Ysell „Dann wasch mal schnell deinen Teller ab und komm.“

Blitzschnell war Ysell auf den Füßen und flitzte zu den Wassereimern, die neben einem Tisch standen. Augenblicke später war sie bereit.

„Wie hat dir denn das Essen geschmeckt?“ wollte Bogan wissen, als die beiden zusammen über den Hof gingen.

„Dafür, dass das Fleisch aus den Fässern kommt, nicht schlecht.“ Ysell meinte, sich eine kleine Frechheit schon erlauben zu können.

„Ja, ja“, sagte Bogan, der den alten Witz sehr wohl kannte „Ich gebe mir auch immer sehr viel Mühe bei der Auswahl.“

Ysell blieb stehen und starrte Bogan mit offenem Mund an. Dann musste sie krampfhaft schlucken und etwas in ihrem Magen machte einen kleinen Hopser. Konnte es sein, dass er wirklich ... Bogan drehte sich zu ihr um und sein Gesicht war todernst - aber nicht lange. Da begriff Ysell, Bogan konnte nicht nur streng sein, er war auch ein altes Schlitzohr und konnte mit gleicher Münze zurückzahlen. So kamen die beiden mit einem Lächeln auf dem Gesicht bei Läufer an.

Vor die Bekanntschaft mit Läufer hatten die Götter erst einmal Ysells Prüfung durch Läufers Mutter gesetzt. Den kantigen Kopf misstrauisch gesenkt, stand sie vor ihren Welpen, als Bogan die Tür des abgelegenen Schuppens geöffnet hatte. Ysell getraute sich keinen Schritt weiterzugehen. Die Hündin hatte, genau wie der kleine Läufer, tiefschwarzes, kurzes Fell; aber sie war so erschreckend groß - sie hätte Ysell das Gesicht lecken können, ohne die Vorderpfoten vom Boden zu nehmen. Noch nie hatte Ysell einen so gewaltigen Hund gesehen. Die Hündin hechelte. Ihre Reißzähne waren so lang wie Ysells Daumen - und auch genauso dick. Diese Hunde sollten sprechen können, hatte Bogan gesagt? Oh ihr Götter! - Hoffentlich hatte Läufer sich nicht über sie beschwert.

Bogan hatte kein Wort gesagt und dem Tier auch kein Zeichen gegeben, als die Hündin plötzlich den Blick von Ysell nahm und zu ihm aufschaute, als habe sie ein Kommando vernommen. Dann ging sie langsam auf Ysell zu, beschnüffelte ihre Hand - und gab den Weg in den Schuppen frei.

„Geh nur“, wurde Ysell von Bogan ermuntert. Ich habe ihr gesagt, dass du freundlich bist, du brauchst keine Angst mehr zu haben.“

„Ich habe keine Angst“, presste Ysell hervor, denn die Furcht schnürte ihr die Kehle zu.

„Dann muss Féira sich wohl irren“, stellte Bogan fest „Das ist seltsam, denn sie irrt sich fast nie.“

„Féira heißt sie? Kann sie spüren, was ich denke?“ Ysell stand wie angewurzelt da. Der große Hund machte ihr immer noch Angst.

„Sie spürt, was ich denke“, erklärte Bogan „Bei dir spürt sie nur, was du fühlst. Sie hat dich übrigens Zweibein-Welpe genannt. Sie sieht keine Bedrohung in dir.“

Zweibein-Welpe! - Das gab Ysell den nötigen Schub. Sie sah sich eher als junge Frau und wollte auch entsprechend behandelt werden. Tapfer ging sie in den Schuppen hinein und schaute sich nach Läufer um.

Obwohl im Schuppen nur Dämmerlicht herrschte, erkannte Ysell Läufer sofort. Die Welpen lagen alle auf einem Lager aus Stroh. Läufer thronte in der Mitte und nuckelte am Ohr eines Geschwisterchens. Plötzlich aber, als habe sie ihn gerufen, ließ Läufer Ohr Ohr sein und sah Ysell an. Hastig strampelte er sich aus dem Nest heraus.

Ysell sah den Welpen an und beugte sich zu ihm nieder. Läufer schien ihr nichts nachzutragen; neugierig kam er auf seinen dicken Pfoten angetapst und sah sie treuherzig an. Ysell spürte, wie etwas in ihrem Inneren nachgab und ganz weich wurde. Liebevoll hielt sie dem Tierchen zur Begrüßung den Zeigefinger entgegen und konnte sich vor Lachen kaum halten, als es unverzüglich anfing, daran zu saugen.

„Nun, Ysell - wie hat dir der erste Tag deines Dienstes gefallen?“, wollte Bogan später wissen und schaute sie ernst an.

„Hm - ja - ganz gut.“ antwortete Ysell, denn es war ja wirklich nicht alles nach Wunsch verlaufen.

Bogan ließ sich durch das Zögern nicht beeindrucken. „Dann kann ich also morgen wieder mit dir rechnen.“ Das war keine Frage, das war eine Feststellung.

„Ja“, bestätigte Ysell „Natürlich!“

„Dann bis zwei Handmaß vor Frühsonne.“ Ysell war für heute entlassen. Sie ging auf direktem Weg nach Hause, verschmähte ihr „Abendessen“ und fiel sofort todmüde ins Bett. Eigentlich hätte sie ja Sabé suchen und ein wenig mit ihm plaudern können - aber das ließ sich ja immer noch nachholen.

Mit jedem Tag, den Ysell länger im Zwinger arbeitete, trat ihr vorheriges Leben mehr und mehr in den Hintergrund. Bald schon konnte sie sich kaum noch vorstellen, dass sie früher den ganzen Tag lang in der Stadt herumgelaufen war. Die Langeweile, die sie früher zu den wildesten Streichen getrieben hatte, war vollständig verflogen. - Im Gegenteil: Ysell hatte manchmal den Eindruck, die Tage seien kürzer geworden - zu kurz, um all das zu erledigen, was zu tun war.

Früh am Morgen schon stand sie jeden Tag vor dem Tor des Zwingergeländes und begehrte Einlass. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, kurz bei Féira und ihren Welpen vorbeizuschauen, bevor der reguläre Dienst begann. Bald schon forderten die Trossleute Ysell dann für alle möglichen Arbeiten auf dem Gelände an. So half sie ihnen, Futter und Wasser zu den Gattern der Tragtiere zu schleppen, fasste mit an, wenn es galt, die Gehege zu reinigen und machte sich nützlich, wo immer sie konnte - alles, um zur Hochsonne und am Abend schnell noch ein paar Fingermaß lang mit Läufer spielen zu dürfen. Nach Einbruch der Dunkelheit wankte sie dann todmüde nach Hause und schlief so lange, bis es Zeit war, wieder zum Zwinger zu gehen. Es war kein böser Wille, der Ysell davon abhielt, Sabé zu suchen, und ihm von ihrem neuen Leben zu erzählen - sie hatte einfach keine Zeit.

Ysell war dabei, die Zaunpfosten eines Gatters dick mit einer übel riechenden, braunen Paste anzustreichen, um sie vor dem ewig schmirgelnden Sand, den der Steppenwind zwischen sie wirbelte, zu schützen. Sie schaute den Zaun entlang, aber die nächsten Trossleute waren über hundert Schrittmaß weit entfernt im nächsten Gehege - keine Chance, sich ein wenig mit ihnen zu unterhalten. Die Gatter waren schon alt und nur der guten Pflege durch Bogan und seine Vorgänger war es zu verdanken, dass überhaupt noch etwas davon vorhanden war. Ein schutzlos dem Wind ausgesetztes Stück Holz hätte dem stetigen Ansturm der dünnen Staubfahnen nicht standhalten können und wäre innerhalb weniger Jahre zu Pulver zerrieben worden. Ysells Arbeit war also wichtig, das wusste sie, aber sie war auch eintönig und lästig. So sehr sie sich auch einzureden versuchte, dass es eine große Ehre sei, den Zaun der Tragtiere vor dem Zerfallen zu bewahren, der Spaß an der Arbeit wollte sich heute einfach nicht einstellen. So verlängerte Ysell ihre Qualen auch noch unnötig, indem sie trödelte. Lustlos tauchte sie den Pinsel in die zähe Pampe und schmierte das Zeug widerwillig und missmutig auf die Pfosten. Obwohl es erst ein Handmaß vor Frühsonne war, taten ihr schon jetzt die Finger und Handgelenke weh.

Wenn doch bloß irgend etwas passieren würde, das sie von dieser Fron erlöste. - Ein Sandsturm vielleicht, oder ein Wolkenbruch, der das Land überschwemmte - vielleicht sogar ein Steppenbrand, der das Gehege bedrohte. - Das wäre richtige Arbeit! Da könnte man sich bewähren! Sie, Ysell, würde als Einzige dem Sturm trotzen und die Tragtiere ungeachtet der sie umtosenden Sandmassen in Sicherheit bringen. - Oder wenn bei der Überschwemmung alle anderen nur darauf bedacht waren, nicht zu ertrinken, würde sie sich heldenhaft in die Fluten stürzen und die Tiere auf den nächsten Hügel treiben. - Und bei einem Steppenbrand erst! Da würde sie ...

Ysell war ganz in ihrem Heldentraum gefangen und hörte das Herannahen der zwei kämpfenden Hengste zu spät. Die weichen Fußballen der Tragtiere verursachten kaum ein Geräusch auf dem sandigen Boden der Koppel.

Plötzlich stürmten zwei große Schatten auf der anderen Seite des Zauns heran und krachten in vollem Lauf gegen die Planken. Das oberste der drei langen Hölzer zerbrach mit einem splitternden Laut und Ysell sprang schnell zurück, um nicht von den herabfallenden Teilen getroffen zu werden. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand und der Eimer mit dem Schutzanstrich kippte um, als der schwere Balken auf ihn fiel.

Die zwei Tragtiere, die in den Zaun hineingerannt waren, wirbelten herum und durchquerten die Koppel abermals in rasendem Galopp. Ysell erkannte Jomo und Arkas, zwei von Nekois Hengsten. Arkas war Jomo dicht auf den Fersen und trieb ihn mit Bissen in die Kruppe und den Höcker vor sich her. Arkas war viel schneller als Jomo und jedes Mal, wenn dieser die Richtung ändern wollte, war er schon neben ihm und trieb ihn weiter auf den gegenüberliegenden Zaun zu. Wieder krachte Jomo gegen die Balken und Arkas drängte mit seinem Körper unbarmherzig nach. Dabei schnappte er nach der Schulter seines Rivalen und riss ihm das Fell auf einer handtellergroßen Fläche aus.

Blass, die Hände zu Fäusten geballt, stand Ysell dort, wohin der Schreck sie gebannt hatte, und wusste nicht, was sie tun sollte. Es war Paarungszeit, und in allen Gehegen kämpften die Hengste um die Stuten, das wusste sie; aber das hier war kein normaler Kampf mehr. Jomo hatte verloren, er war auf der Flucht, das musste Arkas doch erkennen, aber er ließ Jomo nicht in Ruhe. Immer wieder bedrängte er ihn mit Bissen und presste ihn mit groben Stößen gegen das Gatter. Jomo war vor Angst halb wahnsinnig; offenbar wusste er nicht, was er tun sollte, denn Arkas verstieß gegen alle Regeln. Schließlich machte er sich mit einer verzweifelten Anstrengung wieder von dem Angreifer frei und floh mit schäumendem Maul quer über das Gelände. Ysell erkannte, dass er genau auf die Lücke im Zaun zuhielt, hinter der sie stand. Sie wollte fortlaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Verzweifelt riss sie die Arme hoch, damit die Tiere sie nicht überrannten. Entsetzt sah sie, wie Jomo zum Sprung über die beiden unteren Querbalken ansetzte, und erst im letzten Moment schaffte sie es, sich zur Seite zu werfen, aber da flogen auch schon zwei riesige Schatten über sie hinweg und der Boden erzitterte unter dem Aufprall zweier schwerer Körper. Jomo war schlecht aufgekommen und gestürzt, und Arkas war voll in ihn hineingerannt. Nun wälzten sich beide Tiere in einem wirbelnden Knäuel aus Zähnen, Beinen und zotteligem, sandfarbenen Fell auf dem Boden.

Plötzlich war Nekoi da. Ungeachtet der Gefahr rannte die ältere Trossfrau auf die Tiere zu, die sich gerade wieder aufrappelten; in der Hand hielt sie den dünnen Strick mit der Schlinge, das Hauptwerkzeug der Trossleute.

Ysell richtete sich auf und sah, wie Nekoi versuchte, die Schlinge um beide Vorderbeine von Arkas zu bringen, sie erwischte jedoch nur eines davon und der Hengst riss ihr mit einer unwilligen Bewegung den Strick aus den Händen. Es schien Ysell, als werfe Arkas dem fliehenden Jomo noch einen letzten abfälligen Blick zu, dann setzte er sich wieder in Trab und sprang mit einer hochmütig-eleganten Bewegung in das Gehege zurück. Die Schlinge um sein linkes Vorderbein saß fest und das Seil schrammte mit einem sirrenden Geräusch über das Holz.

Plötzlich stutzte Arkas. Drei andere Trossleute waren auf der Koppel aufgetaucht und stellten sich ihm im Halbkreis entgegen.

Ysell konnte erkennen, dass das Geschlecht des Hengstes angeschwollen war. Wütend starrte er die Männer an und scharrte unruhig im Staub.

„Er will zu den Stuten!“, rief Nekoi aufgeregt den anderen zu. „Bringt ihn zu Fall! Er darf sich nicht paaren!“

„Aber er hat doch gewonnen“, wandte Ysell halblaut ein. Niemand achtete auf sie. Langsam ging sie zum Zaun, um den Fortgang des Kampfes zu beobachten.

Arkas hatte keinesfalls die Absicht, sein Recht auf Paarung aufzugeben. Zögernd machte er ein paar Schritte auf die Trossleute zu. Das Seil ringelte sich im Staub wie eine Schlange, die sich in sein Bein verbissen hatte. Nekoi schwang sich eilig durch die Lücke im Gatter - und dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Arkas wandte den Kopf Nekoi zu, die sich ihm von hinten näherte, und wich tänzelnd zur Seite aus. Darauf hatten die anderen Trossleute nur gewartet, zwei Schlingen flogen heran und legten sich um seinen Hals. Arkas schnaubte zornig auf und stieg steil nach oben. Seine Beine wirbelten in wilder Abwehr durch die Luft, da legte sich eine weitere Schlinge um das andere Vorderbein. Nun konnte auch Nekoi ihr Seil wieder aufnehmen und das Schicksal des Hengstes war besiegelt; es dauerte nur noch Augenblicke, bis er mit einem dumpfen Laut zu Boden stürzte.

„Hol Bogan!“, rief Nekoi Ysell zu „Beeil dich!“

Wenig später stand Ysell keuchend vor Bogan und berichtete ihm in kurzen Worten, was geschehen war.

„So, Arkas also.“ Bogan nickte grimmig - „Nun, das haben wir schon lange geahnt.“ Ein böses, kurzes Schnaufen ausstoßend ging er zu einem Wandschrank, dem er eine längliche Metallkassette entnahm. Mit schnellen Bewegungen stellte er den Kasten auf den Tisch, öffnete ihn und überprüfte den Inhalt. Ysell sah ein Messer mit kurzer, nach innen gebogener Klinge und einige Flaschen, die Bogan jetzt anhob, in der Hand wog und kurz schüttelte. Offenbar war er mit dem Ergebnis zufrieden, denn er verschloss den Kasten wieder und klemmte ihn sich unter den Arm. „Weißt du, was ich gleich tun werde?“, fragte er Ysell.

„Ich - ich glaube ja.“

„Du musst es nicht mit ansehen“, sagte Bogan im Hinausgehen. „Du kannst auch hier bleiben.“

Ysell war es übel vor Aufregung. Nichts hätte sie im Moment lieber getan, als möglichst weit von dem Gehege fortzubleiben. „Kann ich dir dabei helfen?“, fragte sie unsicher.

„Vielleicht“, antwortete Bogan „Aber ich will zusehen, dass ich allein zurechtkomme.“

„Ich komme mit!“, sagte Ysell mit entschlossener Stimme, die nur ein ganz klein wenig belegt war, und setzte sich in Bewegung „Ich will mich nicht drücken.“

„Wie du willst.“ Bogan sah sie seltsam an und hielt ihr die Tür auf. Dann ging er mit schnellen Schritten hinaus zu den Gehegen. Ysell musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten.

Bogan bestand nicht darauf, dass Ysell ihm half, denn es waren mittlerweile genug andere Trossleute dazugekommen. Arkas´ Vorderbeine waren inzwischen zusammengebunden worden und er lag mit rollenden Augen und schäumendem Maul auf der Seite. Zwischen seinen Hinterbeinen hatte man ein etwa drei Ellen langes Stück Holz angebracht, das auf beiden Seiten gabelförmig auslief. In jedem Gabelende steckte eines der Hinterbeine, die mit Stricken unverrückbar fest an das Holz gebunden waren.

Es schnürte Ysell die Luft ab, als sie das stolze Tier so hilflos daliegen sah. Ihr Schritt verlangsamte sich, und als Bogan das Gehege betrat, blieb sie am Zaun stehen.

Bogan kniete bei dem Tier nieder und öffnete die Kassette. Ysell musste sich fest halten. Er nahm eine der Flaschen und benetzte die Stelle, an der er den Schnitt setzen würde. Arkas tobte in seinen Fesseln wie wahnsinnig und Ysell hielt sich an dem Zaun fest, als hinge ihr Leben davon ab.

Jetzt griff Bogan wieder in die Kassette und brachte das Messer zum Vorschein. Arkas wand sich, versuchte, auf die Füße zu kommen und Ysell stöhnte leise auf. Sie krallte die Fingernägel in das Holz des Gatters, dass es schmerzte, aber sie konnte nicht loslassen. Es schien ihr, als würde die Welt um sie herum verschwimmen und nur ein einziger Fleck trete in gnadenloser Schärfe und Helligkeit hervor. - Bogans Messer zwischen den Schenkeln des Hengstes, der sich verzweifelt gegen die Stricke wehrte, so als ahne er, was ihm bevorstehe. Als Bogan das Messer ansetzte, und Arkas´ panisches Keuchen unvermittelt zu einem dumpfen, stoßweisen Brüllen anschwoll, knickten Ysell die Knie ein und es wurde dunkel vor ihren Augen.

„Es war nötig!“ Nachdem alles vorüber war, saßen Nekoi und Ysell auf dem Rand des Wassertrogs am Gatter. Die Trossfrau hatte eine Hand auf Ysells Schulter gelegt und beide beobachteten Arkas, der mit hängendem Kopf in der am weitesten entfernten Ecke des Geheges stand.

„Er hatte doch gewonnen!“, protestierte Ysell schwach und sah zu Boden. Sie schämte sich entsetzlich, dass sie schlappgemacht hatte. „Er hatte Jomo besiegt, und es waren seine Stuten!“

„Mir wäre es auch lieber gewesen, er hätte sich mit seinem Sieg zufrieden gegeben.“ Nekoi seufzte. „Aber er wollte Jomo für immer vertreiben, und sie hätten nie wieder zusammen im Tross gehen können.“

„Es wären bestimmt schöne Fohlen geworden“, beharrte Ysell auf ihrem Standpunkt. Arkas war der stärkste und stolzeste Hengst deiner Gruppe - der schönste im ganzen Gehege!“

„Wir züchten Tragtiere, Ysell, keine Kampfhähne“, erklärte Nekoi geduldig. Stell dir vor, Arkas´ Hengstfohlen hätten sein Temperament geerbt und seine Stutenfohlen hätten nach ein paar Jahren ebenso unverträgliche Hengstfohlen hervorgebracht.

„Hm.“ Ysells Widerstand wurde schwächer. Sie sah ja ein, dass ein Hengst wie Arkas über seine Nachkommen die ganze Zucht verderben konnte.

„Wir brauchen ruhige und zuverlässige Tiere“, fuhr Nekoi fort. Nicht die stärksten und nicht die schönsten wählen wir zur Zucht aus. Friedliebende Tiere müssen es sein! Ruhige Tiere, die sich anzupassen vermögen.“ Nekoi sah kurz zu Jomo hinüber, der nun auch wieder friedlich im Gehege stand und scheue Blicke auf Arkas warf. Der Druck an Ysells Schulter verstärkte sich kurz, dann stand Nekoi auf.

So funktionierte Zucht? Eine endlose Folge von Verstümmlungen zum Nutzen der Menschen? Ysell schüttelte hilflos den Kopf. Unauffällig schielte sie nach Nekois Händen, denn sie war es gewesen, die Bogan bei seiner blutigen Verrichtung geholfen hatte; aber natürlich hatte sie sich sofort gewaschen und nicht die kleinste Spur von Arkas´ Blut war mehr zu entdecken.

„Du warst übrigens sehr tapfer heute.“ Nekoi sah Ysell ernst an. „Aber mach so etwas besser nie wieder!“

Sie und tapfer? Ysell sah Nekoi verständnislos an. Sie wusste nur davon, dass sie ohnmächtig geworden war, und das war peinlich genug. Wollte die Trossfrau sie etwa verspotten?

„Tu bloß nicht so unwissend!“, lachte Nekoi. „Wir haben alle genau gesehen, wie du die Tiere davon abhalten wolltest, durch die Lücke zu springen. - Du hast ja den Weg erst freigegeben, als sie schon in der Luft waren.“

Jetzt begriff Ysell. - Das meinte Nekoi also! Dass sie nur in wilder Angst mit den Armen gewedelt hatte, weil ihre Beine vor lauter Schreck wie gelähmt gewesen waren, konnten die Trossleute ja nicht wissen - und Ysell dachte im Traum nicht daran, die Sache richtig zu stellen. „Och ...“, meinte sie nur und machte eine unbestimmte Handbewegung, die Bescheidenheit vortäuschen sollte, dann stand auch sie auf und ging mit Nekoi zum Essen.

Natürlich sprach es sich in Windeseile herum, dass die kleine Ysell sich ganz allein zwei rasenden Tragtieren im Paarungskampf entgegengestellt hatte, und für die Zeit des Essens war sie der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie zur Heldin des Tages geworden war, weil sie vor lauter Angst nicht hatte weglaufen können - aber feiern ließ sie sich gerne, und nach der Pause schmerzte ihr die Schulter von den freundschaftlichen Klapsen, die die Trossleute ihr gegeben hatten.

„Kannst du eigentlich lesen?“, fragte Nekoi unvermittelt, als sie nach dem Essen wieder zu den Gehegen hinausgingen.

„Was? - Äh, wie bitte?“ Ysell war noch ganz in ihren Gedanken gefangen.

„Ob du lesen kannst.“

„Och, ein wenig.“ Das war nicht gelogen. Vor einiger Zeit hatte Ysell sich zeigen lassen, wie ihr Namenszeichen aussah, und sie würde es jederzeit wiedererkennen.

„Willst du es richtig lernen?“, fragte Nekoi freundlich „Ich könnte dir jeden Tag ein wenig beibringen und mit dir üben.“

„Du kannst lesen?“ staunte Ysell.

„Ja“, bestätigte Nekoi „Und ich bin zahlenkundig!“ So etwas wie Wehmut schwang in ihrer Stimme mit, so als denke sie gerade an längst vergangene, bessere Zeiten.

„Ich könnte es ja mal versuchen“, meinte Ysell nachdenklich.

„Fein!“, freute sich Nekoi. „Dann komm doch morgen früh gleich zu mir. Ich werde mir für eine Handmaß frei nehmen und auch dafür sorgen, dass du Zeit dafür bekommst.“

So kam es, dass Ysell jeden Morgen nach ihrem Besuch bei Läufer zuerst zu den Gehegen hinausging und mit Nekoi ein paar Lektionen durchnahm. Das Lesenlernen war nicht gerade eine Offenbarung für sie, weil Nekoi keine Bücher hatte, und die Schriftzeichen mit einem spitzen Stock in den Boden ritzte, aber Ysell begriff schnell und beide hatten eine Menge Spaß bei dem Unterricht. Es kam allerdings auch schon mal vor, dass Ysell nicht die rechte Lust hatte, aber auch an solchen Tagen ging sie zu Nekoi, um ihre neue Freundin nicht zu enttäuschen.

Arkas Wunde heilte gut, und inzwischen war er ganz zahm und zutraulich geworden. Die anderen Tiere interessierten ihn nicht mehr und so konnte er sein Leben doch noch friedlich im Tross verbringen und der Gang zum Schlachthof blieb ihm erspart.

„Ha! Jetzt nehmen sie dich aber richtig ran!“, stellte Ysells Vater belustigt fest, als sie ihm nach ein paar Tagen von den Leseübungen erzählte. Er schien das für einen Teil ihrer Strafe zu halten. Die Mutter schaute nur verständnislos und wunderte sich, was die Leute im Zwinger alles mit ihrer Tochter anstellten. - Das Kind war ja kaum noch wiederzuerkennen.

Ysell war inzwischen über das einfache Buchstabenlernen hinausgekommen und konnte, wenn auch mit Mühe, schon ganze Wörter und Sätze entziffern. Das war sehr aufregend für sie und sie gab sich viel Mühe, denn Nekoi hatte ihr versprochen, sie auch noch in die Geheimnisse der Zahlenkunde einzuweihen, wenn sie erst richtig lesen könne.

Ysells auferlegte und selbst gewählte Pflichten wurden also nicht weniger, und das Einzige, was sie an ihr altes Leben erinnerte, war, dass sie noch jede Nacht zu Hause schlief. - Aber auch das sollte sich bald ändern.

DÄMONEN DER STEPPE

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