Читать книгу DÄMONEN DER STEPPE - Michael Stuhr - Страница 9
ОглавлениеBOGAN
Ysell war nun schon seit einiger Zeit den Aufspürern als Magd zugeteilt. Es fielen zwar immer noch die schmutzigen, unangenehmen und schweren Arbeiten an, die die Hundezucht so mit sich bringt, aber Ysell wurde von allen im Zwinger als fleißige und willige Arbeiterin anerkannt. Sie fühlte sich den Trossleuten fast gleichgestellt, darum machte ihr die Verrichtung ihrer Pflichten nicht mehr so viel aus.
Es gab aber auch angenehmere Arbeiten im Zwinger. Ysell durfte sogar mit den Aufspürern vor die Stadt gehen und dort in den Sandfeldern für die Trosshunde den Jumper spielen. Jumper waren in der Steppe die Hauptgefahr für die Clans. Die mannsgroßen, krebsartigen Tiere lauerten im Sand vergraben auf Beute und schnellten mit einem Riesensatz empor, wenn ein leichtsinniger Wanderer ihnen zu nahe kam. Also ging Ysell frühmorgens mit den Aufspürern und ein paar anderen Trossleuten in die Steppe, um sich dort eingraben zu lassen. Zunächst mussten alle zusammen aber das Sandfeld in verschiedenen Richtungen durchkreuzen, damit die Trosshunde sich nicht an den Spuren orientieren konnten. Nach diesem morgendlichen Dauerlauf, der gut eine Handmaß lang dauern konnte, wurden Ysell und die Trossleute von den Aufspürern flach auf dem Rücken liegend bis an die Nasenspitze im Sand vergraben. Dann endlich kam Bogan mit den Hunden und die Aufspürer trainierten mit den Tieren das Jumper-Finden. Zuerst hatte Ysell Angst gehabt, eines der großen Tiere könnte ihr im Eifer der Suche auf das Gesicht treten, aber diese Sorge war gänzlich unbegründet. Es war wirklich so, wie Bogan gesagt hatte, die Tiere spürten die Gedanken aller Lebewesen und fanden Ysell und ihre Gefährten jedes Mal, so gut sie sich auch versteckten - und da sie nicht wirklich Jumper waren, durften sie auch ihre Arme und Beine behalten.
Ysell liebte die Trosshunde und es gab immer eine freundschaftliche Balgerei, wenn sie aufgespürt worden war. - Trotzdem ärgerte es sie, dass sie fast immer als Erste gefunden wurde. - Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, die Hunde hereinzulegen. Aber es war hoffnungslos. Die Trosshunde waren ganz vernarrt in Ysell und spürten natürlich, wo sie sich versteckt hatte, so sehr sie sich auch bemühte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. So hörte Ysell in ihrer flachen Mulde immer sehr schnell den schweren Galopp der vierbeinigen Jäger und wenn die Tiere so nahe an ihr vorbei stürmten, dass die aufstiebenden Sandkörner ihre Nasenspitze trafen, dann war es wieder mal so weit: Aufbrüllend schoss sie aus ihrem Versteck hervor - denn schließlich war sie ein Jumper - und begann mit dem nächstbesten Trosshund einen „fürchterlichen“ Ringkampf.
Das Leben im Zwinger gefiel Ysell jetzt außerordentlich gut. Nahezu freudig beteiligte sie sich auch an den unangenehmen Drecksarbeiten, die nach wie vor anfielen und nie ein Ende nahmen. Ysell sah aber ein, dass die Tiere versorgt werden mussten und dass sie ihren Teil dazu beizutragen hatte. Außerdem winkte am Ende eines jeden Tages die Belohnung: Ysell durfte eine Handmaß lang mit Läufer spielen.
Etliche Tage lang ging das gut. Zweibein-Welpe Ysell freundete sich mit Läufers Mutter an, die außer ihm ja auch noch fünf andere Welpen säugte, und sie spielte mit den Tierchen solange, bis Bogan erschien, und sie heimschickte. Vor allem von Läufer konnte Ysell sich kaum trennen, und das begann nach ein paar Tagen auch an ihr zu fressen: Sie hatte den Eindruck, dass Bogan sie absichtlich von Läufer fern hielt. - Dabei war Läufer doch ihr Hund. Bogan hatte es schließlich selbst gesagt. - Doch jedes Mal wenn sie länger bei dem Welpen bleiben wollte, schickte er sie freundlich, aber keinen Widerspruch duldend, heim.
Eines Tages nahm Ysell ihren ganzen Mut zusammen und beschwerte sich bei dem Alten. Wider Erwarten reagierte der jedoch nicht ungehalten, sondern lud Ysell ein, sich mit ihm zusammen auf eine Bank im Schatten zu setzen. „Ich war wohl etwas ungeschickt, als ich dir sagte, Läufer sei dein Hund“, begann er. „Und ich will mich auch gar nicht damit herausreden, dass du mich falsch verstanden hast.“
Ysell staunte. Ein Erwachsener, der einen Fehler eingestand? Konnte es so etwas denn geben?
„Dennoch wird alles so bleiben, wie es ist“, fuhr Bogan fort, „denn den ersten Fehler durch einen Zweiten zu heilen, das versucht nur ein Narr! Ich werde dir jetzt etwas über die Art der Hunde erzählen, und ich hoffe, dass du dann einsiehst, dass ich so und nicht anders handeln muss - weil Läufer sonst Schaden erleiden würde.“
Bei Ysell hielten sich Enttäuschung und Neugier noch die Waage. Gespannt lauschte sie den Worten des Alten und wunderte sich selbst, wie ruhig sie dabei blieb.
„Läufer wächst schnell heran“, begann Bogan wieder. „Er wird bald schon die Bindung an seine Mutter verlieren, das ist bei allen Hunden so. Wenn das geschehen ist, und er sich dir anschließt, dann wirst du seine Mutter sein - seine Mutter seine Schwester - seine Freundin - alles, was er hat, und alles, was er liebt. Du darfst ihn dann nicht mehr verlassen, denn es würde sein Gemüt krank machen und sein Vertrauen zu den Menschen würde zerbrechen. - Ysell, ich erwähne es nur ungern, aber du bist mir vom Richter für ein Jahr zugeteilt. Nach diesem Jahr wirst du uns verlassen. Darum werde ich Läufer, sobald er entwöhnt ist, einem von meinen Aufspürern zuteilen. Es ist besser für ihn. Er darf sich nicht zu sehr an dich gewöhnen. - Das verstehst du doch?“
Und wie gut Ysell das verstand. Natürlich machte es das Gemüt krank, wenn die Menschen, die man liebte, einen von sich stießen - natürlich verlor man das Vertrauen, wenn man spürte, dass man ihnen egal war.
Plötzlich hatte Ysell eine Idee. Es kam ihr reichlich verwegen vor, um was sie Bogan da bitten wollte, aber wenn sie es jetzt nicht sofort versuchte, dann würde es für immer zu spät sein. „Und wenn ich ...“, begann sie.
„Was denn?“, ermunterte Bogan sie, weiterzusprechen.
„Wäre es nicht möglich, dass ich hier bliebe? - Ich meine länger als ein Jahr. - Für immer?“
Bogan schwieg eine Weile und Ysell begann sich schon ihrer Bitte zu schämen. Sicherlich überlegte der Alte schon, wie er ihr die Ablehnung möglichst schonend beibringen sollte. - Schließlich war sie ein Straßenkind, eine Außenseiterin, die für ihre Wutanfälle berüchtigt war und die hier Strafarbeit leisten musste, weil sie ein Kind schwer verletzt hatte. Sogar die Eltern der Kleinen hatten sie davongejagt, als sie sich nach dem Befinden des Mädchens hatte erkundigen wollen. - Und sie, gerade sie wollte Aufspürerin werden? Der Gedanke war ja wohl absolut lächerlich! Ysell stand auf und wollte gehen. Bogan brauchte gar nichts mehr zu sagen - sie wusste auch so, dass sie verloren hatte.
„Warte!“ Bogan hob die Hand und hielt sie zurück.
Mit einem Seufzer blieb Ysell stehen, wo sie war, und wartete auf eine langatmige Erklärung, warum das alles nicht gehe - aber es kam ganz anders.
„Du weißt, dass in drei bis vier Jahren wieder ein Clan gebildet wird?“, begann der Alte und schaute sie an.
„Ja.“ Ysell nickte
„Und du weißt auch, dass die meisten Aufspürer dann mit dem Clan zu gehen haben und nie zurückkehren werden?“
„Das weiß ich.“ Ysell schöpfte ein wenig Hoffnung.
„Was würden also deine Eltern dazu sagen, dass ihre Tochter in die Steppe geht, um neues Land zu machen?
Ysell war irritiert. Erwog Bogan ernsthaft, sie anzustellen? „Och, denen ist das egal“, sagte sie leichthin „Meine Eltern kümmert es nicht, was ich tue.“
Bogans Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. „Ja, so etwas gibt es wohl“, sagte er dann mehr zu sich selbst - und dann wieder zu Ysell gewandt „Trotzdem bräuchte ich ihre Zustimmung.“
Ysell glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Darf ich hier bleiben?“ fragte sie ungläubig „Bei Läufer? - Und natürlich bei dir!“, setzte sie hastig hinzu.
Bogan tat einen Augenblick lang so, als müsse er überlegen. Es war wie eine Folter für Ysell. Was, wenn er doch noch ablehnte? Dann aber sah er sie lächelnd an, stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du bist willkommen!“, sagte er schlicht - und Ysell konnte es noch gar nicht begreifen, dass sie gerade in die Trossmannschaft aufgenommen worden war. Dass Bogan gerade sie als Aufspürerin auswählen würde, das hätte sie noch eben nicht zu hoffen gewagt. - Es war ihr nämlich vollständig entgangen, dass sie, trotz all der ekligen, schweren Arbeit, schon mehr als einen Mond lang keinen Wutanfall mehr gehabt hatte.
Bogan hielt viel von Ysell. Das Mädchen hatte seiner Meinung nach eine nahezu unerschöpfliche Energie und einen scharfen Geist. Er hatte es sich nicht anmerken lassen, aber er hatte sich sehr gefreut, als Nekoi ihm anbot, Ysell als Schülerin aufzunehmen. Nekoi war die Frau eines reichen Händlers gewesen, den man bei Unehrlichkeiten erwischt hatte. Sein ganzes Vermögen war vom Gericht eingezogen worden und er war noch vor der Verhandlung an den Folgen der Aufregung gestorben. Nekoi war völlig mittellos zurückgeblieben und Bogan hatte sie in seine Gruppe aufgenommen, obwohl sie mit über vierzig Jahren schon sehr alt für den Trossdienst war. Wenn Nekoi auch über keinerlei Vermögen verfügte, so brachte sie doch etwas mit, was Bogan mehr als alles andere schätzte. - Ihren Verstand, ihre Gelassenheit und ihr fundiertes Wissen.
Nekoi war eine kluge Frau, und Bogan unterhielt sich gerne mit ihr. Sie brachte etwas in den Alltag der Trossmannschaft, das vorher in dieser Form nicht da gewesen war, und das auch Bogan nicht mit einem Wort zu benennen gewusst hätte. Respekt war es wohl, was die Trossleute Nekoi entgegenbrachten, aber es kam noch mehr dazu. - Wenn Bogan von den jungen Leuten als väterlicher Vorgesetzter gesehen wurde, den man wegen seiner Strenge ein wenig fürchtete, so galt Nekoi bald als die mütterliche Freundin, die, ob ihrer Güte, so manches bei Bogan durchsetzen konnte. All das, was man ihm selbst nicht vorzutragen wagte, bekam er früher oder später über sie zu hören und konnte so auf die Wünsche seiner Leute reagieren, ohne selbst als zu nachgiebig angesehen zu werden.
Bald schon hatte Nekoi aus eigenem Antrieb begonnen, ausgesuchten jungen Trossleuten Unterricht zu geben, und Bogan war es recht. Es konnte nicht schaden, wenn der Tross dem Clan in geistiger Hinsicht zumindest ebenbürtig war. Trossleute waren eigentlich nur wichtig, solange sich der Clan auf der Wanderschaft befand, danach würden sie keine große Rolle mehr spielen. Sobald das Ziel erreicht und gutes Land gefunden war, hatten sie ihre Aufgabe erfüllt und wahrscheinlich waren die meisten Trossleute der früheren Clans als ungebildete Hilfsarbeiter in der Bedeutungslosigkeit versunken. Vielleicht konnte das diesmal mit Nekois Hilfe ja anders werden. Warum sollten Trossleute nicht im Rat der Siedler mitsprechen und an den Entscheidungen teilhaben? Das nötige Rüstzeug dazu würden sie jedenfalls haben.
Bogan schätzte Nekoi sehr, und soweit sein eher schroffes Wesen das zuließ, gestand er sich sogar ein, dass er sie liebte. Oft kam es vor, dass sie am Abend zusammensaßen und die Ereignisse des Tages besprachen, und wenn ihnen gerade danach war, beschränkten sie die Besuche nicht nur auf das Reden, denn nach und nach hatten sie immer mehr Gefallen aneinander gefunden. Nekoi und Bogan pflegten eine liebevolle Beziehung voller gegenseitigen Respekts, denn sie waren beide sehr stark - und wäre ihnen die sichere Freiheit nicht noch lieber als die Sicherheit einer festen Bindung gewesen, so hätten sie als Paar zusammengelebt.
So kam es, dass Ysell nach wenigen Monden schon besser ausgebildet war als die meisten Bewohner der Stadt. Sie war sehr stolz auf ihre neuen Künste, und wenn es irgendwo etwas vorzulesen, zu schreiben oder zu rechnen gab, bot sie sich gerne an und erntete auch so manche kleine Belohnung für ihre Freundlichkeit. Bedauerlich fand sie nur, dass ihre eigenen Eltern so gar kein Gespür dafür zu haben schienen, wie stolz sie auf sich selbst war.