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2 Kontakt

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Ich war immer alleine gewesen. Seit ich denken konnte, war ich alleine gewesen. Zwar hatte ich sowohl Mutter als auch Vater und es fehlte mir im Grunde an nichts – dennoch fühlte ich mich stets verlassen. Von Anfang an.

Schwer zu sagen, was jemandem fehlt, wenn man es an nichts festmachen kann und doch trotzdem tief in sich diesen beißenden Mangel spürt. Anfangs war es nicht greifbar, nur ein unterbewusst nagendes, defizitäres Gefühl. Ich litt weder Hunger noch Durst, erhielt (wie ich annahm) ausreichend Nestwärme von meiner Mutter Jezzie und (wie ich ebenfalls annahm) genügend Zuwendung seitens meines Vaters. Es gab sogar noch eine Tante namens Ylvie, die Zwillingsschwester des Vaters, und einige weitere Siedler in unserem winzigen Dorf, die für mich da waren.

Eigentlich alles in bester Ordnung.

Doch irgendetwas fehlte.

Irgendetwas war nicht normal, was auch immer dieses Wort bedeuten mochte.

Eines Tages fand ich es heraus.

Ich war das einzige Kind in der Welt, in der ich lebte.

Auf Evu existierten zwei Siedlungen, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Eine wurde von Menschen bewohnt, die andere von Toorags. Toorags, so hatte ich von klein auf gelernt, stammten von Rantao, einem weit entfernten Eisplaneten. Wenig Ahnung hatte ich davon, wo genau dieses Rantao lag und warum sich Vertreter jener sonderbar aussehenden Spezies auf unserer Insel befanden. Es interessierte anfangs auch nicht besonders. Mein frühes Weltbild durfte man getrost als anthropozentrisch bezeichnen. Erst nach und nach sah ich mich gezwungen, meinen Standpunkt zu überdenken. Die Anwesenheit einer anderen Spezies – einer außerirdischen noch dazu – ließ sich nicht ewig ignorieren. Zumal mir, wenn auch erst später, eine verwirrend unangenehme Tatsache zuteilwurde: auch der Mensch stammte nicht von Gondwana. Wir waren also ebenfalls Fremdlinge, Außerirdische. Dieser gemeinsame Nenner brachte mir die Toorags zum ersten Mal näher.

Zu nahe, wie ich noch erfahren sollte.

Niemand außer mir hatte einen Toorag zum Freund, insofern stellte ich eine Besonderheit dar. Mich überhaupt mit einem abzugeben, deklassierte meine Person in den Augen meiner Mitmenschen. Viele gab es ohnehin nicht, was im Großen und Ganzen das Dilemma umschreiben dürfte, in welchem ich damals steckte. Auf Evu, der kleinen Insel am südwestlichen Rand des verbotenen Großkontinents Gondwanaland, lebten nur wenige Menschen. Da es abgesehen von mir keine weiteren Kinder gab, spürte ich lediglich die Ablehnung der Erwachsenen. Keine Ahnung, wie vernichtend ihr Urteil ausgefallen wäre, hätte es noch andere Kinder gegeben. Gowindi wäre dann aller Wahrscheinlichkeit nie zu einem Freund geworden. Ich durfte in dieser Richtung allerdings nicht wählerisch sein, das Sortiment war relativ überschaubar. Es gab keine Gleichaltrigen, mit denen ich hätte spielen oder Abenteuer erleben können. So etwas wie Haustiere, an die man das Herz vielleicht hätte verlieren mögen, gab es ebenso wenig. In meiner Situation fragte man also nicht lange: man nahm, was sich bot. Zum besten Freund wählte ich daher etwas nicht unbedingt Alltägliches: einen Außerirdischen. So jedenfalls bezeichneten ihn die wenigen Menschen, die außer mir auf Gondwana ihr Dasein fristeten. Das heißt, wenn sie guter Laune waren.

Mein kleinwüchsiger Kamerad war nicht gerne gesehen. Bestenfalls begegnete

man ihm mit Gleichgültigkeit, was mir auf die Dauer am besten gefiel. So ließ man uns wenigstens in Ruhe. Zuweilen jedoch reagierte meine Umwelt mit Ablehnung, dann fielen schon mal Begriffe wie „Rattengeburt“, „Biochemischer Abfall“, „Amöbenfratze“ oder, was mir am ehesten noch zusagte, „Krötenfresse“. Vielleicht, weil letzteres am treffendsten war: mein Freund Gowindi erinnerte in der Tat an eine viel zu groß geratene Unke. Jedenfalls was sein Gesicht betraf. Irgendwann gewöhnt man sich an alles, auch an die Fratze eines Außerirdischen. Toorags sind, menschliche Maßstäbe angelegt, sicherlich keine liebreizenden Wesen. Doch wie gesagt, wenn erst genügend Zeit verstrichen ist, findet man sogar so etwas wie Attraktivität in den Zügen eines Aliens.

Toorags sah man im Allgemeinen nur selten, ihre abgeschirmte Siedlung lag am südwestlichen Ende Evus, so weit wie nur irgend möglich weg von unserer. Menschen siedelten ausschließlich im Norden der Insel, am subtropischen Golfstrom, dort, wo das tiefblaue, angenehm temperierte Wasser der Tethys jahrein jahraus für behagliches Klima sorgt. Klar, dass die Toorags tief im Süden Evus lebten, jenseits der gemäßigten Zone, in den bereits subpolaren Breiten. Ihre allseits bekannte Vorliebe für Kälte, eine für mich fremdartige Eigenschaft, trug nicht wesentlich dazu bei, sie kennenlernen oder gar verstehen zu wollen. Hin und wieder sah man sie dann doch, wenn sie in der Nähe unseres Dorfes „patrouillierten“, wie Vater es immer nannte. Dieses Verb brannte sich in mein Gedächtnis als Synonym für „heimlich dahinschleichen“ oder „im Geheimen agieren“ ein, auch wenn sie sich keinesfalls so benahmen.

Ihre zeitweilige Anwesenheit beschäftigte meine Mitmenschen relativ wenig. Mich dafür umso mehr. In meinen Augen waren sie so exotisch wie Moas, eine seltene, auf Evu vorkommende Laufvogelart, die ich noch weniger zu Gesicht bekam. Erst spät bekam ich mit, wozu die Toorags auf Evu stationiert worden waren: zum Schutz der Menschen. Von diesem Moment an interessierte ich mich brennend für sie. Der Wunsch, mit ihnen in Kontakt zu treten, so unangebracht er auch sein durfte, ließ mich fortan nicht mehr los.

So lernte ich eines Tages Gowindi kennen, dessen unverhohlene, in den Augen seiner Sippe wahrscheinlich ebenso abartige, Begeisterung für homo sapiens dazu führte, dass wir einander begegnen mussten.

Normalerweise gingen sich Menschen und Toorags aus dem Weg. Zufällige Begegnungen fanden ein schnelles Ende, man vermied einander so gut es ging.

Gowindi stellte eine Ausnahme dar. Zuweilen hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, schnurgerade auf einen Toorag zuzumarschieren, wenn ich denn einmal einen sah. Üblicherweise zogen sie sich eilends zurück, als jagte ich ihnen Angst ein.

Nicht so Gowindi. Er blieb wie angewurzelt stehen und wartete ab. Noch niemals zuvor war ich einem Toorag so nahe gekommen und bekam zum ersten Mal aus nächster Nähe mit, wie sie eigentlich aussahen.

Der erste genauere Eindruck sagte mir wenig zu. Ihre pechschwarzen, lidlosen Augen stießen mich ab, sie wirkten leblos, tot. Die knöchernen, grünlich schimmernden Wülste, welche sie wie ein Wall umgaben, trugen auch nicht sonderlich dazu bei, Vertrauen zu fassen. Zudem flatterte in unheimlicher Regelmäßigkeit ein grauer Schatten über die tief in den Höhlen sitzenden Augäpfel, eine Nickhaut, ähnlich wie bei Moas. Allein ihre menschenähnliche Gestalt half dabei, nicht wieder den Rückwärtsgang einzulegen. Auch die Tatsache, dass sie Kleidung trugen (wenn man die schlichte dunkle Kutte so bezeichnen mochte), hatte etwas zart Vertrauenserweckendes an sich.

Beherzt wagte ich den ersten Schritt. Einfach umkehren konnte und wollte ich nicht. „Hallo“, krächzte ich also, räusperte mich und legte sogleich mit festerer Stimme nach: „Wie heißt du?“

Keine Reaktion. Lediglich eine flache Hautpartie, welche von der nicht vorhandenen Nase bis hinunter zur Lippe reichte, bewegte sich sacht im – wie ich annahm – Takt der nicht hörbaren Atemzüge.

„Kannst du nicht sprechen?“ fragte ich kühner. Nein, konnte er nicht. Wusste ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Er schien mich jedoch zu verstehen, denn als er kaum merklich den Kopf schüttelte, war klar, was er mitteilen wollte.

Das Objekt meines Forschungstriebs, der halbwüchsige Toorag, reichte mir bis zum Hals, ich war also einen ganzen Kopf größer. So konnte ich die tiefen, kreisförmigen Einkerbungen, welche sich auf der Oberseite seines haarlosen Schädels wanden, besonders gut erkennen. Als wäre er irgendwann mit einer riesigen Stanze in Kontakt gekommen. Gruselig. Ich ließ mir allerdings nicht anmerken, wie ausgesprochen hässlich er mir vorkam.

„Du sprichst also nicht“, stellte ich daher einigermaßen frustriert fest. „Aber du kapierst, was ich sage, ja?“

Da hob er einen spindeldürren Zeigefinger und hielt ihn mir knapp unter die

Nase. Ich erschrak entsprechend, zuckte jedoch nur kurz zurück. Einen winzigen Moment legte sich der Finger auf meine Lippen, begleitet von erneutem Kopfschütteln. Die unerwartete Berührung ließ mich erschauern, doch mutete sie zu keiner Zeit unangenehm an.

„Du sprichst also nicht mit dem Mund?“ bemerkte ich folgerichtig. Jetzt nickte das Wesen. Okay, es verstand mich in der Tat. Mein Herz schlug schneller. Die Tatsache, mit einem waschechten Toorag in Kontakt getreten zu sein, der zudem auch noch mitbekam, was ich von ihm wollte, erfüllte mich mit heller Aufregung. „Womit dann?“

Flugs tippte sich der Toorag mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

„Du sprichst mit deinem Kopf?“ Es klang idiotisch.

Da ging er in die Knie und begann mit Hilfe seiner mageren Finger (nur vier pro Hand, wie ich aufmerksam registrierte) etwas in den Sand zu zeichnen. Buchstaben! Er konnte schreiben! Und das in meiner Sprache! Mein Respekt wuchs.

„Morgen…“, las ich.

Der Toorag nickte heftig. Zum ersten Mal sah ich ihn den Kopf ordentlich bewegen. Eindeutig kopierte er menschliche Gesten, um sich verständlich zu machen. Mein Gesicht verzog sich anerkennend zu einem breiten Grinsen, welches er interessiert beäugte. Versuchte er etwa erneut, mich zu imitieren? Es gelang jedenfalls nicht.

„Was ist morgen?“ fragte ich ihn. „Willst du mich morgen wieder hier treffen?“

Sein neuerliches Nicken fiel schon menschlicher aus, wenn auch weiterhin gekünstelt. Dann hob er die Rechte und hielt mir vier gespreizte, knochige Finger entgegen. Eine Geste des Abschieds? Im Gegenzug reichte ich ihm die Hand, welche er jedoch nicht ergriff, sondern alarmiert begutachtete.

„Nimm sie, bitte!“ forderte ich ihn auf. „Nur keine Hemmungen!“

Keine Reaktion. Bevor er seine Klaue zurückziehen konnte, griff ich entschlossen zu und drückte sie sachte wie einen äußerst zerbrechlichen Gegenstand. Wie knochentrocken und kalt sich seine Pfote anfühlte! Ein Ruck ging durch den grasgrünen Körper des Toorags. Wahrscheinlich war es auch für ihn der erste direkte Kontakt mit einem Außerirdischen. Zu meiner Erleichterung ergriff er nicht die Flucht – oder schlimmer – schlug mich auf der Stelle zusammen.

„So sagen wir auf Wiedersehen“, legte ich nach. „Verstehst du?“

Für einen Moment schien er sogar den leichten Druck erwidern zu wollen, zog aber dann doch die knorrige Kralle zurück und lief eilig davon. Von hinten wirkte der hagere Körper noch fragiler.

Ich verharrte eine ganze Weile, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Nicht ein Wort von dem, was ich erlebt hatte, kam über meine Lippen. Mir war klar, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, würde ich das Erlebnis teilen wollen. So sollte es vorerst ein Geheimnis bleiben.

Anderntags kehrte ich zum vereinbarten Treffpunkt zurück, überzeugt davon, den Toorag niemals wieder zu sehen. Schon die ganze Nacht hatte ich so gut wie kein Auge zugemacht, war von einem schlafraubenden Extrem ins nächste gestürzt. Vorfreude hatte sich schleichend in Misstrauen verwandelt. Hegte das fremde Wesen am Ende einen düsteren Plan? Wollte es mir vielleicht Böses? Die Skala meiner Befürchtungen wäre der ideale Nährboden für düstere Alpträume gewesen, doch da ich ohnehin wenig Schlaf fand, blieb keine Zeit zum Träumen. Bei Sonnenaufgang betrachtete ich das Vorhaben wieder deutlich zuversichtlicher und fand für die albernen nächtlichen Ängste nur noch müdes Kopfschütteln.

Entgegen aller Erwartungen sah ich den kleinen Toorag schon von weitem. Er war also doch gekommen – und erneut allein. Mein Herz klopfte mächtig vor Aufregung.

Als wir uns gegenüberstanden, überreichte mir der Toorag ohne jede wie auch immer geartete Begrüßung ein Geschenk. Überwältigt nahm ich es in Augenschein. Ein dünnes, mehrfach ineinander verschlungenes Lederband mit Magnetverschluss. Wenig Ahnung hatte ich, was damit zu tun war und untersuchte es von allen Seiten wie das kostbare Gehäuse einer angeschwemmten Seeschnecke.

„Vielen Dank!“ sagte ich endlich. Insgeheim ärgerte ich mich, nicht an Ähnliches gedacht zu haben, was die eindeutig besseren Manieren des Außerirdischen bewies. „Was ist das, mein Freund?“

Der Toorag nahm es mir vorsichtig wieder aus den Händen und wedelte damit vor meiner Nase herum. Endlich verstand ich, was er wollte: mir das Band um den Hals legen. Intuitiv schreckte ich davor zurück, ließ ihn aber machen. Mit einem leisen Klickgeräusch schnappte der Magnet zu. Das Band lag locker um

den Hals, der kühle, bläulich schimmernde Verschluss ruhte einen Fingerbreit über meinem Brustbein. Noch immer nicht ganz überzeugt, blickte ich nach unten. Die wilden Befürchtungen der Nacht kehrten zurück. Was hatte es damit auf sich? Wieso um alles in der Welt beschenkte mich der…

Und dann fuhr ich wie zu Tode erschrocken zusammen!

Der vermeintliche Verschluss flackerte in dem Moment kobaltblau auf, als eine Stimme aus ihm drang. Hell und blechern. „Das ist ein Kommunikator. Freund.“

Entsetzt starrte ich auf das Teufelsding, drauf und dran, es abzureißen, bis ich endlich begriff. Aus großen Augen starrte ich den Toorag an, der völlig ungerührt vor mir stand.

„Du kannst ja doch sprechen!“

„Wir verfügen über unterschiedliche Kommunikationswege. Freund“, kam die Antwort, nicht mehr ganz so scheppernd wie eben noch. „Meine Spezies interagiert ausschließlich visuell, deine dagegen akustisch-auditiv. Du kannst meine visuellen Signale nicht empfangen, ich deine akustischen jedoch sehr wohl. Freund.“

Verblüfft glotzte ich den Toorag – wahrscheinlich immer noch ziemlich dümmlich – an, bevor ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte und die soeben übertragenen Informationen auszuwerten in der Lage sah.

„Wieso kann ich deine visuellen Signale nicht verstehen?“

Die Antwort kam umgehend. „Du besitzt dafür keine Rezeptoren. Freund. Der Kommunikator verwandelt meine visuellen Reize in akustische Schwingungen, die deinen Hörsinn stimulieren.“

Okay. Wie auch immer.

„Wie ist dein Name?“ fragte ich.

„Ich verstehe, was du meinst. Freund. Aber wir haben keine Namen.“

„Keine Namen?“

„Nein. Freund.“

„Sag nicht immer Freund zu mir! Ich heiße Jack.“

„Bist du nicht mein Freund? Freund Jack?“

Ich musste lächeln. „Natürlich bin ich dein Freund.“

„Das macht mich stolz. Freund. Freund Jack.“

„Und mich auch. Wahnsinnig stolz.“ Und das meinte ich durchaus ernst. Für

jemanden, der noch nie von sich behaupten konnte, einen Freund gehabt zu haben, allemal. „Du hast also keinen Namen. Wie nennen dich denn deine Artgenossen, deine Leute?“

„Meine Leute… wir haben alle keine Namen, Freund Jack.“

„Nur Jack! Sag einfach nur Jack!“ Dann deutete ich auf ihn. „Wenn du keinen Namen hast, werde ich dir einen geben müssen. Du brauchst einen Namen, glaube mir!“

„Ich brauche einen Namen“, wiederholte der Toorag nachdenklich. Es klang nicht völlig überzeugt.

„Ja, brauchst du. Wie soll ich dich nur nennen? Warte, mir fällt schon was ein.“

Der Toorag legte den Kopf einen Tick zur Seite. Seine schwarzen Augen funkelten im Sonnenlicht. Womöglich versuchte er weiterhin unbewusst, auf visuelle Weise mit mir zu ‚interagieren‘.

„Du willst mich nennen, Freund Jack?“ kam es dann zögerlich aus dem Kommunikator.

Ich grinste. Grammatikalisch nicht korrekt, aber egal. „Ja, ich will dich ‚nennen‘. Hast du Eltern? Geschwister?“

Der Toorag nickte. Es wirkte bedeutend glaubhafter als noch am gestrigen Tag. Er hatte wohl heimlich geübt.

„Gut. Wie nennt dich deine Mutter? Du musst doch irgendeinen Kosenamen haben? Jeder Mensch hat einen Kosenamen!“ Nur dass ich keinen Menschen vor mir hatte, was mir in diesem Moment allerdings komplett entging.

„Kosenamen…“ Ziemlich verloren kam das Wort aus dem Kommunikator gekrochen. Ich verwirrte den Armen völlig.

„Okay, kürzen wir das ab. Du weißt jetzt meinen Namen. Ich heiße Jack.“

„Jack. Freund.“ Und er deutete auf mich.

„Ja, genau. Ich bin Jack, dein Freund. Und du bist auch mein Freund. Du bist Toorag, mein Freund. Nur möchte ich dich nicht einfach Toorag nennen, so heißt deine ganze Sippschaft in unserer Sprache. Ich möchte dich individuell benennen, verstehst du? So wie es nur einen einzigen Jack unter den Menschen hier gibt.“

„Nur einen einzigen Jack. Freund Jack.“

„Richtig. Nur einen.“ Erst jetzt ging mir richtig auf, welch unmögliche Sache ich von ihm verlangte. Es war so, als wollte ich einem Blinden Farben erklären

(dieser denkwürdige Vergleich sollte mich Jahre später auf ganz andere Weise wieder einholen). Wenn Toorags nur über die Augen kommunizierten, existierte so etwas wie Sprache für sie logischerweise nicht. Sein Geschenk, der Kommunikator, verwandelte demnach Bilder in akustische Signale, die ich aufzunehmen in der Lage war. Und es funktionierte ganz offensichtlich auch umgekehrt. Meine gesprochenen Worte transformierte er in Bilder, eben jene visuellen Signale, die ein Toorag verstehen konnte. Wie fantastisch war das denn?

„Mir wird schon noch ein passender Name für dich einfallen.“ Ich beschloss, es nicht überstürzen zu wollen. Wieso auch? Plötzlich kam ich mir albern vor, dieser Nebensächlichkeit so viel Bedeutung beigemessen zu haben. Da machte mir ein Außerirdischer das Geschenk der Kommunikation und ich fand nichts Wichtigeres darauf zu erwidern, als ihm einen Namen verpassen zu wollen. Idiotisch!

„Hier, probiere mal!“ Unvermittelt fischte mein neuer Freund ein kleines, smaragdgrün schimmerndes Gefäß aus seiner Kutte und nahm den Deckel ab. Neugierig beobachtete ich ihn. Behältnisse dieser Art (vor allem aus jenem merkwürdig glatten Material) waren mir unbekannt. Naturgemäß interessierte mich die runde Büchse voll und ganz. „Nimm ruhig!“

Vorsichtig nahm ich das Teil entgegen, als könnte ich es mit bloßer Berührung kaputtmachen und beäugte es von allen Seiten. Es fühlte sich kühl an und lag gut in der Hand.

„Was ist das?“ fragte ich.

„Wir nennen es Otomak“, erklärte der Toorag freundlich. „Ihr Menschen würdet so etwas Naschwerk nennen. Schmeckt köstlich.“

Es dauerte einen Moment bis ich begriff. Er meinte nicht das Gefäß, sondern dessen Inhalt.

„Aus welchem Material ist es gemacht?“

Nun war es an ihm, einen Augenblick zu stutzen. „Aus amorphem Metall.“ Er sah mich prüfend an, wollte wohl feststellen, ob ich verstand, was er soeben von sich gegeben hatte. Am Ende befürchtete er sogar, ich würde mir das komplette Ding in den Mund stopfen und nicht eines von den vielen daumennagelgroßen Würfelchen, die es enthielt.

„Aha.“ Metall sagte mir etwas, den anderen Begriff hatte ich allerdings noch nicht gehört.

„Probiere schon!“ ermunterte er mich erneut. „Sag mir, ob es dir schmeckt.“

Mit spitzen Fingern nahm ich einen von den schneeweißen Würfeln heraus und musterte ihn ausgiebig. Wollte mich der Toorag womöglich vergiften? Machte eigentlich keinen Sinn, jemandem erst einen Kommunikator auszuhändigen, um ihn dann umzubringen. Dennoch, wohl war mir bei der Sache nicht.

„Ich will auch eins!“ Er hatte mein Zögern offensichtlich bemerkt und wollte mir versichern, keine bösen Absichten zu hegen. Schon verschwand ein „Otomak“ in seinem grasgrünen Schlund. Gleich darauf folgte wohliges Grunzen.

Ich tat es ihm also gleich, wenn auch entsprechend zurückhaltender. Schon beim Kontakt mit der Zunge entfachte das Würfelchen ein Reaktionsfeuer auf meinen Geschmacksknospen. Und nicht nur dort. Die komplette Mundhöhle wurde mit einem Mal in einen zuckersüßen Traum getaucht, der bis tief ins Gehirn strömte. Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da und genoss dieses überragende Aroma in vollen Zügen. Nicht einmal eine überreife Tichina könnte auch nur annähernd eine derart intensive und doch delikate Süße liefern. Von diesem Moment an war ich hoffnungslos süchtig nach Otomak.

„Gut?“ fragte der Toorag.

„Ausgezeichnet. Was ist das?“

„Otomak“, kam die unschuldige Antwort.

„Ja, ist klar, aber aus was besteht es?“

„Ihr Menschen wollt immer alles genau wissen, nicht wahr? ‚Aus welchem Material ist dies gemacht‘, ‚aus was besteht jenes‘“, äffte mich der Toorag vergnügt nach. „Keine Bange, du darfst es behalten. Iss aber nicht zu viele davon, hörst du? Nicht dass dir schlecht wird und deine Mutter sich bei mir beklagen kommt.“

Ich grinste ihn an. Hätte der kleine Toorag gekonnt, würde er zurückgegrinst haben, darauf wettete ich. Verdammt schönes Gefühl, einen Freund gefunden zu haben.

In den folgenden Wochen trafen wir uns regelmäßig und lernten einander mehr und mehr kennen. Der Toorag hatte immer Zeit, egal welchen Tag oder welche Stunde ich vorschlug. Konnte ich einmal nicht, weil es Haushaltspflichten zu erledigen gab, Vater mich zur Jagd mitnahm oder meine

Mutter mich unterrichtete (was glücklicherweise selten vorkam), schien es für den Toorag kein Problem darzustellen. Er richtete sich komplett nach mir. Der Kommunikator stellte dabei ein wichtiges Bindeglied dar. Er funktionierte auch in Abwesenheit meines neuen Freundes. Wollte ich mit ihm sprechen, musste ich nur in den blauen Magneten quatschen und bekam meistens sofort Antwort. Anfangs überwältigte mich diese neue, aufregende Art der Kommunikation, doch empfand ich sie schon sehr bald als etwas völlig Normales. Leider schien es nur in eine Richtung zu funktionieren. Nicht ein einziges Mal trat der Toorag von sich aus mit mir in Kontakt. Vielleicht auch ganz gut so.

„Hast du keine Verpflichtungen bei dir zuhause?“ fragte ich ihn eines Tages. Der Gedanke, er durfte den ganzen lieben langen Tag tun, was ihm beliebte, stimmte mich neidisch.

„Nein“, tönte es aus dem Kommunikator. „Ich bin noch nicht alt genug.“

Interessant. Dieses Thema hatten wir bisher noch gar nicht angeschnitten. Da er kleiner als ich war, nahm ich bisher an, er wäre auch der Jüngere. Wie sehr ich danebengelegen hatte, sollte sich jetzt herausstellen.

„Ach so? Wie alt bist du denn?“ Und bevor er mir irgendeine fremdartige Zeiteinheit auftischen konnte, fügte ich noch schnell hinzu: „In Jahren, wenn ich bitten darf.“

„Siebenunddreißig Gondwanajahre, zwei Gondwanamonate und achtunddreißig Gondwanatage“, kam die präzise Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Ist nicht wahr!“

„Oh doch, Freund Jack.“ Hin und wieder vergaß er, mich nicht ständig ‚Freund‘ zu nennen, allerdings sah ich großzügig darüber hinweg. Mit jedem neuen Tag, den ich mit dem Toorag verbrachte, erweiterte sich mein Horizont. Was konnte besser dabei helfen, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, als der freundliche Kontakt zu Außerirdischen? Demnach lebten sie deutlich länger wie Menschen, was ihre überaus zeitraubende Kinderstube erklärte. Vor dem vierzigsten Lebensjahr galten sie zumindest nicht als „erwachsen“, was immer dieser Begriff auch genau aussagen mochte.

„In drei Jahren bist du dann also groß“, scherzte ich.

„Oh nein, ich werde nicht mehr größer. Ich bin bereits seit drei Jahren

gowindi.“

Zum ersten Mal bediente der Kommunikator ein Wort, welches keinen Sinn ergab.

„Wie bitte? Was bist du seit drei Jahren?“

„Gowindi“, wiederholte der Toorags standhaft.

„Was soll das bedeuten?“ Mein Gesicht formte das berühmte einzige Fragezeichen. „Ein solches Wort gibt es in meiner Sprache nicht.“

In der Tat existierte kein gleichbedeutendes Wort, das er mir hätte erklären können, wie sich schnell herausstellen sollte. Wir waren auf ein Novum gestoßen. Es gab also visuelle Signale, die sich zwar akustisch übersetzen ließen, aber dennoch null Sinn ergaben. Wie außergewöhnlich! So etwas hatte früher oder später passieren müssen. Die Erklärung erfolgte auch sogleich: auf dem Weg zum Erwachsenendasein durchschritten Toorags demnach drei Vorstufen: Kindheit, Adoleszenz und „Gowindi“, nichts anderes als ein zusätzlicher Zeitraum, in welchem der Heranwachsende den ultimativen geistigen Reifegrad erlangte. Der letzte Schliff sozusagen.

„Ich habe zwar wenig Ahnung, wovon du da sabbelst, aber immerhin hast du jetzt deinen Namen weg!“ rief ich triumphierend.

„Ich ‚sabbele‘ und habe meinen Namen ‚weg‘!?“ Bei derartigem Slang stieß augenscheinlich auch die ausgefeilte Tooragtechnik an ihre Grenzen. Unwillkürlich musste ich grinsen. Von nun an nannte ich den kleinen Toorag bei allen möglichen Gelegenheiten bei seinem neuen Namen: Gowindi. Mochte es für ihn noch so wenig Sinn ergeben.

Um diese Zeit veränderte sich mein noch junges Leben grundlegend. Mit dem plötzlichen Tod meiner Mutter fing es an. Maligne Neoplasie, wie Vater es nannte. Ihr Zustand verschlechterte sich rapide, und ehe ich realisierte, was eigentlich los war, war sie gestorben. Damals war ich gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Die Tragweite des Ereignisses überforderte mich komplett. Mein Vater tat sein Möglichstes, um den herben Verlust abzufangen, doch spürte ich, wie wenig er selbst mit der neuen Situation zurechtkam. Ich empfand damals nur Verachtung für ihn. Wie hatte er es zulassen können, dass Mutter einfach so von uns ging? Er hätte es verhindern müssen, egal wie, er hätte es niemals geschehen lassen dürfen.

Gleichwohl war es passiert.

Heute schäme ich mich dafür, doch in jenen Tagen hasste ich meinen Vater bis auf die Grundfesten seiner gebrochenen Existenz. Er litt unsäglich, womöglich mehr als ich. Zu keiner Zeit jedoch sah ich eine Möglichkeit, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Im Mittelpunkt meines Lebens stand ich, ausschließlich ich. Da gab es niemand anderen. Symptomatisch für einen traumatisierten Jungen meines Alters? Vielleicht. Mir blieb nur Gowindi, meine Krötenfresse. Und er zeigte mehr Mitgefühl, als es irgendein menschliches Wesen hätte tun können. Er avancierte zur einzigen Bezugsperson, als ich meinen Vater aus dem Herzen verbannte und ihm jeden weiteren Zugang verwehrte.

Es wunderte mich auch wenig, dass er eines Tages ebenfalls fort war. Oh ja, ich kannte die Geschichte bereits, die er mir in seinem Abschiedsbrief auftischte: es gab da jemanden, dem er etwas schuldig war, einen gewissen Kincaid Sprent. Ich weiß nicht mehr, wie oft er von ihm gesprochen hatte, oft genug jedenfalls. An diesen Namen erinnerte ich mich bestens.

Kincaid Sprent!

Nun war mein Vater also nach Sahul unterwegs, um diesen mysteriösen Kincaid Sprent zu suchen, den er seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Dabei spielte der Umstand, mich alleine zurückgelassen zu haben, zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr beschäftigte mich die Tatsache, wie er es geschafft hatte, von Gondwana wegzukommen. Ohne Unterstützung der Toorags hätte er den Planeten niemals verlassen können. Sie hatten ihm dabei geholfen, Gowindi bestätigte dies unverhohlen. Er sah keinen Grund, mir die Wahrheit zu verschweigen, was ich ihm, wie so vieles andere auch, hoch anrechnete.

„Wieso habt ihr ihn unterstützt?“ wollte ich wissen. Vater hatte nie davon gesprochen, jemals mit Toorags in Kontakt gestanden zu haben. Und jetzt erfuhr ich, sie waren soeben dabei, ihn auf einen anderen Planeten zu verfrachten. Das machte wenig Sinn.

„Wie du bereits weißt, sind wir auf Gondwana, um euch Menschen zu beschützen, Freund Jack.“

„Vor wem, Gowindi? Vor wem beschützt ihr uns? Hier drohen keine Gefahren, höchstens ein Ichthyon könnte mir gefährlich werden. Du kannst mir nicht erzählen, ihr seid hier, um uns vor Bedrohungen aus den Tiefen der Tethys zu

bewahren.“

„Nein, davor sicher nicht.“

„Wovor dann?“

Gowindi zögerte. Welche Worte er sich auch immer zurechtlegte, sie schienen schwer zu finden zu sein.

„Dein Vater ist ein spezieller Mensch, wie du vielleicht schon weißt“, fing er schließlich an. „Im landläufigen Sinn ist er gar kein richtiger Mensch.“

Im landläufigen Sinn! Das geschwollene Gefasel aus dem Kommunikator ärgerte mich plötzlich.

„Worauf willst du hinaus? Sprich klar und deutlich mit mir!“

„Wirst du böse, Freund Jack?“

„Nein, natürlich nicht!“ wiegelte ich ab. „Nur... ich verstehe nicht, was du sagst. Wieso ist mein Vater kein... richtiger Mensch? Hat das etwas mit eurer mysteriösen Rolle hier zu tun?“

„Ich weiß, er belastete dich damit nie. Und doch gibt es etwas, das du wissen solltest, um zu verstehen. Jetzt, wo er fort ist, allemal.“

Pause.

Mein erwartungsvoller Blick schaltete auf fordernd um. Bisher hatte der kleine Toorag noch nie um den heißen Brei geredet, was mich besonders ungeduldig werden ließ.

„Okay, ich höre!“

Noch einmal zögerte Gowindi. „Dein Vater... er ist ein Hybrid.“

Ich sah ihn verständnislos an.

„Du weißt, was ein Hybrid ist?“

„Im Groben, ja.“ Kein Wort verstand ich.

„Hybriden sind Mischwesen. Sie weisen keine stabile Generationenfolge auf, was bedeutet, dass du nicht zwangsläufig auch einer sein musst.“

Pause.

„Soviel wir wissen, bist du jedenfalls keiner“, schickte er endlich hinterher. Sollte mich das etwa beruhigen? „Vielleicht werden deine Nachkommen welche sein. Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Aber du bist auf jeden Fall…“

„Lass mich einfach einen Augenblick aus dem Spiel“, unterbrach ich ihn. „Wir sind jetzt bei meinem Vater. Er ist also ein Hybrid. Super! Könntest du etwas genauer werden?“

Konnte er. „Hast du das Tagebuch deines Großvaters gelesen?“

Endlich fiel der Groschen. Zugegeben, ich hatte das Journal (oder vielmehr seine kläglichen Reste) einst gelesen, aber auch nur, weil meine Mutter immer darauf bestanden hatte. Sie wollte mir unbedingt Lesen beibringen, nobel von ihr, keine Frage, dennoch so sinnlos. Mein fehlender Enthusiasmus in diese Richtung hatte sie stets betrübt, nur ihr zuliebe war ich irgendwann dazu übergegangen, diese Thematik ein wenig ernster zu nehmen. Zwar konnte ich nicht behaupten, ein Meister geworden zu sein, doch sah ich mich heute in der Lage, wenigstens einigermaßen respektabel lesen zu können. Das Tagebuch meines Großvaters hatte dabei eine zentrale Rolle gespielt. Seine Chronik von Gondwanaland war mir vor langer Zeit ein Quell der Inspiration gewesen. Jedenfalls wusste ich jetzt, worauf Gowindi abzielte. Woher er aber überhaupt davon wusste, entzog sich meiner Kenntnis. Ich ging nicht näher darauf ein. Womöglich ein Fehler.

„Du sprichst von den Ermeskul, richtig?“

„Ja, Freund Jack, von den Ermeskul. Dein Vater trug einen davon in sich, einen sogenannten Sentry. Ebenso dein Großvater. Ich glaube, dir ist bereits bekannt, was es damit auf sich hat.“

„Mehr oder weniger.“ Womöglich war ich bei der holprigen Lektüre noch zu jung gewesen, um sie in ihrer Konsequenz nachzuvollziehen. Wie sehr es auch meine eigene Person betraf, wurde mir erst jetzt nach und nach klar.

„Deswegen sind wir hier. Toorags und Ermeskul sind immer Verbündete gewesen, über Jahrtausende hinweg. Sie haben uns gebeten, auf euch zu achten. Vor allem auf deinen Vater und seine Nachkommen. Du bist einer dieser Nachkommen. Die Ermeskul sind auf euch Menschen angewiesen, um zu überleben. Nun ja, natürlich nicht auf alle. Nur auf diejenigen, die einen Sentry in sich tragen. Du gehörst ja nun leider nicht dazu.“

Leider? So sah ich das ganz und gar nicht. „Ich kann nicht sagen, traurig darüber zu sein.“

„Solltest du aber. Du wärst ein weiterer Garant für das Fortbestehen der Ermeskul und stündest damit nicht nur unter ihrem, sondern auch unserem Schutz. So bist du nur ein Mensch... und Menschen sind, verzeih mir, heutzutage nicht mehr viel wert.“

„Wie darf ich das verstehen?“ Eigentlich kapierte ich es auch so. Nach der Niederlage der Menschen im Tooragkrieg (einer Auseinandersetzung, die sie

ohne jeden Zwang selbst angezettelt hatten), standen ihre Aktien nicht mehr sonderlich hoch. Vertrieben aus all ihren Kolonien, zusammengepfercht auf Sahul, dem sogenannten Exilstern, fristeten sie nur noch ein Schattendasein. Später verloren die Toorags Sahul an die Opreju, was die Situation der Menschen dort weiter verschlechterte. Aber das war eine andere Geschichte.

„Es gibt nicht mehr viele von euch“, schloss Gowindi. „Dein Vater hat es sich in den Kopf gesetzt, seinen alten Freund Kincaid Sprent von Sahul retten zu wollen. Und nicht nur ihn. Die Unterstützung der Ermeskul hat er. Ihnen ist viel daran gelegen, hier auf Evu weitere Menschen anzusiedeln.“

„Was bringen ihnen denn Menschen? So wie ich es verstehe, sind nur Hybriden für sie von Nutzen.“

„Ganz genau, Freund Jack. Der Deal steht. Dein Vater bekommt seinen Willen. Im Gegenzug verpflichtet er sich, für weitere Hybriden zu sorgen. Eine Hand wäscht die andere.“

„Das bedeutet, er kommt eines Tages zurück?“

„Davon darfst du ausgehen.“

Ich nickte, doch wollte sich keine Freude darüber einstellen. Noch nie zuvor hatte ich mich derart verloren gefühlt. Zwar hatte ich mit Gowindi einen einzigartigen Kameraden gefunden, der mir in allen Lebenslagen vertrauensvoll zur Seite stand, doch gelang es ihm nicht, das tiefe Loch zu füllen, welches der Tod meiner Mutter aufgerissen hatte. Nun also war auch Vater gegangen. Wie wenig ich ihm bedeutet haben musste! Wie verdammt wenig! Dennoch ließ sich der trostlosen Situation etwas Positives abringen: ich hatte eine Entscheidung zu fällen. Ich sah mich gezwungen, erwachsen zu werden, das verletzte Kind in mir ohne Wenn und Aber loszulassen – oder zugrunde zu gehen.

Mit Gowindis Hilfe wählte ich ersteres.

Damit endete im Alter von fünfzehn Jahren meine Kindheit.

Kalaipa - Die Jack Schilt Saga

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