Читать книгу Kalaipa - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele - Страница 7
4 Neunundneunzig
ОглавлениеAls ich die Augen aufschlug und den ersten Atemzug nahm, war ich überzeugt, im Sterben zu liegen. Gierig sog ich Luft in die brennenden Lungen, konnte nicht genug davon bekommen. Mein Brustkorb hob und senkte sich, als liefe ich soeben den Endspurt eines Marathonlaufs. Überraschenderweise wusste ich sofort, wo ich mich befand. Mein Zeitgefühl suggerierte mir, nur wenige Stunden geschlafen zu haben. Aus irgendeinem Grund war der Gleiter zum Stillstand gekommen. Das Experiment, unsere Reise nach Sahul, musste schiefgegangen sein, weshalb sonst hatte ich nach so kurzer Zeit wieder das Bewusstsein erlangt? Noch ehe ich zu Ende gedacht hatte, wie zum Teufel ich es bewerkstelligen wollte, aus der verdammten Kapsel zu kommen, vernahm ich jenes wohlbekannte, saugende Geräusch und im nächsten Moment setzte sich die Glashülse sacht in Bewegung.
Die heiße und trockene Luft außerhalb der Kapsel überraschte meine Lungen komplett. Sofort fiel mir das Atmen deutlich schwerer als noch Sekunden zuvor. Die Atemwege verkrampften, und ich geriet in akute Luftnot. Erst als sich eine schwere Hand auf meinen Mund legte, ich gezwungenermaßen durch die Nase zu atmen begann, ging die Hustenattacke vorüber.
„Nur die Ruhe, alles ist gut“, hörte ich Gowindis wie immer abgebrüht klingende Stimme aus dem Kommunikator. Das Teil funktionierte also auch noch.
„Du hast Nerven!“ fiepte ich los, die eigene Stimme nicht mehr erkennend. „Wieso ist es hier drinnen so verflucht heiß?“
„Das kommt dir nur so vor. Lass dir Zeit, dich umzugewöhnen.“
„Was ist schiefgelaufen? Wieso sind wir schon wieder wach?“ erkundigte ich mich. Mein suchender Blick fand mühelos den vertrauten Planeten tief unter uns. Nicht einmal fortbewegt hatten wir uns!
„Lass mich erst die Instrumente überprüfen. In der Zwischenzeit bleibst du bitte ruhig liegen und bringst deinen Atem unter Kontrolle, verstanden?“ Er warf ein paar Kleidungsstücke herüber, die ich als die meinen identifizierte. „Danach darfst du dir etwas überziehen. Aber mach langsam, verstanden?“
„Was ist mit…“
„Alles weitere nachher, ich bin jetzt beschäftigt!“
„Aye aye“, gab ich klein bei und konzentrierte mich vorerst wie angewiesen darauf, einen halbwegs normalen Atemrhythmus zu finden, was einige Zeit in Anspruch nahm. Tatsächlich nahm die gefühlte Hitze im Innern des Gleiters spürbar ab und schlug alsbald ins Gegenteil um. Plötzlich fror ich und erinnerte mich meiner Klamotten. Schwerfällig und erstaunlich umständlich zog ich das Oberteil über, dankbar ob der wohltuenden Wärme, welches es spendete. Mit der Hose ließ ich mir noch etwas Zeit. Für diesen anstrengenden Akt musste erst genügend Energie gesammelt werden. Da fand ich die Zeit passend, eine Frage zu stellen. Eine, die mir unter den Nägeln brannte.
„Gowindi, sag schon, was ist schiefgelaufen? Wieso sind wir immer noch hier?“
Der Gefragte äußerte sich nicht, klapperte weiterhin auf der Tastatur vor sich hin, komplett absorbiert in seine Tätigkeit. Erst jetzt bemerkte ich, dass er bereits seinen schneeweißen Raumanzug trug, wenn auch der Helm fehlte. Ich sah mich nach meinem um, erblickte ihn aber nicht. Egal. Das konnte warten. Etwas anderes nicht.
„Hey, Alter, bist du taub oder was? Sprich mit mir!“
Endlich bekam ich einen, wenn auch mürrischen, Seitenblick ab. „Dir scheint es ja besser zu gehen, wenn du schon wieder rummotzen kannst.“
„Hast du Mist programmiert?“ schickte ich hinterher, bekam aber keine Antwort darauf. Also hatte er. Und schämte sich dafür. „Keine falsche Bescheidenheit, Gowindi, wir alle machen Fehler. Bestimmt klappt es beim zweiten Anlauf. Ich vertraue dir.“ Stimmte nicht völlig, klang aber zumindest deeskalierend. Vielleicht auch aufmunternd.
„Wenn ihr Menschen doch nur einmal die Schnauze halten könntet!“ Mit diesen Worten hatte ich schließlich seine Aufmerksamkeit zurück. „Wir brauchen keinen zweiten Anlauf, wie du dich auszudrücken beliebst. Im Grunde hat alles bestens funktioniert.“
Mein zweifelnder Blick sprach Bände. „Präzisiere ‚im Grunde‘!“
Er sah mich bewegungslos und viel zu lange an. „Was glaubst du, wie lange haben wir geschlafen?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wohl nicht sehr lange, wenn ich nach draußen blicke. Gondwana ist ja noch immer bestens in Sichtweite.“
Gowindi verzog keine Miene, was einem Toorag nicht unbedingt schwerfiel. „Das da unten ist nicht Gondwana. Sieh genauer hin!“
„Das… das ist nicht Gondwana?“ Plötzlich fand ich sogar die Kraft, mich aufzurichten. Auf den zweiten Blick musste ich Gowindi recht geben. Die vertraute türkisfarbene Tönung war schmutzigem Braun gewichen, dem Farbton aufgewühlten Flusswassers. Immerhin erinnerten die eigenwilligen Wolkenformationen an Gondwana. Aber da endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Zudem kam mir der Planet größer vor, jedoch schwören hätte ich darauf nicht mögen.
„Sind wir in der Tat schon angekommen? Wahnsinn! Haben wir wirklich zwei Jahre geschlafen? Ich kann es kaum glauben! Ist das da unten Sahul?“
Der Toorag glotzte mich weiterhin unverwandt an, ein Blick, der mir immer weniger gefiel. Unruhe kehrte zurück. „Welche Frage möchtest du zuerst beantwortet bekommen?“
Mich überkam das Verlangen, ihm eine saftige Ohrfeige zu verpassen. „Gowindi! Verdammt, was soll das? Sprich endlich Klartext!“
Noch einen Moment zögerte er. „Ich konnte das ganze zuerst auch nicht glauben.“ Es klang entschuldigend. „Aber ich habe es mehrfach überprüft. Du hast recht, irgendwas ist schiefgelaufen. Wenn ich nur wüsste, was. Vielleicht spinnen die Bordsysteme, vielleicht auch ich. Keine Ahnung. Jedenfalls ist das da unten nicht Sahul. Das kann ich mit Sicherheit ausschließen.“
Nach einem weiteren prüfenden Blick auf den fremden Planeten, der mir immer exotischer erschien, wandte ich mich wieder Gowindi zu. Ich kannte ihn viel zu gut. Das war nicht alles gewesen. Der dickste Brocken wartete noch.
„Dann haben wir auch keine zwei Jahre gepennt, oder?“ Wenigstens hier fühlte ich mich im Voraus bestätigt.
Er schüttelte tatsächlich den Kopf. „Keine zwei Jahre, das stimmt.“
„Sondern?“
„Etwas mehr als zwei Jahre.“
Zunächst verwunderte es mich nur, dann fuhr mir der Schreck in alle Glieder. „Länger als zwei Jahre?“
Gowindi nickte im Zeitlupentempo.
„Sag es!“
„Wie bereits erwähnt, ich habe die Instrumente umfänglich überprüft und…“
„Gowindi! Sag es einfach!“
Ein letzter, zögerlicher Blick. Dann bekam ich endlich die schonungslose Wahrheit verabreicht.
„Neunundneunzig Jahre, neun Monate und elf Tage.“
Ich hörte mein Blut in den Ohren rauschen.
Schwer zu sagen, wie lange es dauerte, bis ich realisiert hatte, was diese fatale Neuigkeit bedeutete. Mehr als ein Menschenleben war vergangen, seit wir Gondwana verlassen hatten! Inzwischen mussten alle tot sein. Ylvie. Vater. Der andere kümmerliche Rest der menschlichen Kolonie auf Gondwana. Je länger ich darüber nachdachte, desto schlechter wurde mir. Zwar ließ sich die Tragweite der bitteren Wahrheit anfangs erstaunlich sachlich überblicken, doch veränderte sich dieser Zustand mit jeder weiteren Minute, die verging. Die Konsequenzen drangen kraftvoll ins Bewusstsein vor. Es kam einer Katastrophe gleich.
Nicht den geringsten Vorwurf machte ich Gowindi, auch wenn ich ihm die Verantwortung zu hundert Prozent anlastete. Aus freien Stücken war ich mitgekommen, niemand hatte mich dazu gezwungen, die Sicherheit meines Heimatplaneten gegen eine Reise ins Ungewisse einzutauschen. Mir war klar gewesen, wie viel passieren konnte. Garantien hatte es nie gegeben. Nun waren wir zwar wieder wie ursprünglich geplant erwacht, doch zu welchem Zeitpunkt! Unvorstellbar! Es musste ein Traum sein... und war keiner. Nein, wir träumten nicht.
Erst als ich mich nicht mehr dagegen wehrte, die Tatsachen zu akzeptieren, kehrte so etwas wie rationales Denken zurück. Gowindi hatte mir da einiges voraus. Er wusste bereits Antworten auf Fragen, die sich mir erst jetzt stellten.
„Was machen wir nun?“ Welch Hilflosigkeit in der eigenen Stimme!
„Die große Wahl haben wir nicht. Ganz im Gegenteil. Unsere einzige Chance liegt darin, auf diesem Planeten da unten zu landen. Hier, trink das!“ Er warf mir eine kurios geformte, kobaltblau schimmernde Stahlflasche zu. Hundert Jahre altes Wasser… und es schmeckte köstlich!
„Du willst da runter?“ Es wollte mir nicht gefallen. „Ohne zu wissen, was uns da unten erwartet?“
„Trink nicht alles aus, teile es dir ein, recht viel mehr gibt es nicht, Freund Jack!“ Oh ja, ich wusste um den begrenzten Wasservorrat. Dennoch nahm ich wie zum Trotz einen weiteren tiefen Zug. Ich hatte hundert Jahre nichts getrunken, verdammt! „Und zu deiner Frage: wir müssen früher oder später hinunter, ob es uns recht ist oder nicht. Wenn wir noch länger hier im Orbit hängen, ersticken wir. Die Oxygenreserven sind nicht sehr erbaulich. Wir haben noch Atemluft für einhundertachtundfünfzig Stunden.“
„Dann werden wir nicht ersticken“, sagte ich tonlos, „sondern verdursten.“ Und nahm sogleich einen weiteren Schluck.
„Du vielleicht“, erwiderte Gowindi ebenso sarkastisch. Klar, der Wasserhaushalt von Toorags läuft auf deutlich niedrigerem Niveau ab. Sie können wochenlang ohne Flüssigkeitsaufnahme auskommen. Der Mensch ist da weniger ausdauernd. Vier Tage reichen völlig aus und er torkelt durchs Delirium.
„Was macht dich so sicher, auf dem Planeten da unten Wasser zu finden?“ Die Frage, ob wir überhaupt seine Luft atmen konnten, verkniff ich mir. Falls es dort welche gab.
„Die Instrumente spinnen zwar teilweise, aber der Bioscanner funktioniert einwandfrei. Sauerstoff gibt es in Hülle und Fülle, sogar in höherer Konzentration als auf Gondwana.“
„Ist das so?“ fragte ich misstrauisch.
„Ja, das ist so. Sieh selbst! 31,08 Prozent Luftsauerstoffkonzentration, das sind beinahe zehn Prozent mehr als bei dir zuhause. Allem Anschein wird da unten nach Herzenslust oxygene Photosynthese betrieben.“ Ich verzichtete darauf, Gowindis geliebten Instrumenten einen Blick zu schenken. Ich hätte sie ohnehin nicht verstanden. „Wenn auch nur saisonal, wie es aussieht. Das ist wirklich spannend! Die Scanner betreiben seit unserer Ankunft im Orbit penible Messungen. Noch vor ein paar Jahren lag die Sauerstoffkonzentration deutlich unter zwanzig Prozent. Schwankungen dieser Art sind äußerst ungewöhnlich. Was wohl der Grund dafür sein mag?“
Wahnsinnig interessant! Mein angedeutetes Gähnen fiel jämmerlich aus. „Apropos Ankunft“, nahm ich den Faden wieder auf. „Seit wann hängen wir hier oben eigentlich fest? Sagen deine Scanner auch etwas darüber aus?“
Gowindi reagierte nicht sofort, was ich darauf zurückführte, wie schwer es ihm fiel, seinen unfehlbaren Instrumenten Misstrauen schenken zu müssen. „So wie es aussieht, sind wir nach ziemlich genau zwei Jahren angekommen, lagen also bestens im Zeitplan“, erläuterte er schließlich. „Was bedeutet, wir können gar nicht allzu weit von Sahul entfernt sein.“
„Und du bist sicher, das da unten ist auf keinen Fall Sahul?“ Erneut warf ich einen Blick nach draußen, als läge dort die Antwort auf meine Fragen.
„Absolut.“
„Woher willst du das wissen?“
„Die Systeme sagen es aus.“
„Sagtest du nicht eben, die Systeme ‚spinnen‘?“
„Teilweise, ja. Ich müsste sie einfach nur rebooten und neu kalibrieren. Doch habe ich schlicht und ergreifend schwer Bammel davor. Erstens würde dieser Vorgang Stunden in Anspruch nehmen…“
Pause.
„Und zweitens?“
„Und zweitens… zweitens gibt es keine Garantien, dass sie nachher einwandfrei funktionieren. Schlimmer noch, ich befürchte, sie fahren danach nicht wieder ordentlich hoch. Dann kämen wir nie mehr von hier weg.“
Ich sah ihn bestürzt an. Diese Befürchtung war mir noch gar nicht gekommen. Im Großen und Ganzen hatte mein Vertrauen in Gowindis technische Begabungen und in die Leistungsfähigkeit des Raumgleiters bisher wenig Schaden genommen. Bis jetzt! Zum ersten Mal ging mir die lebensbedrohliche Lage so richtig auf, in der wir uns befanden. Als massive Eisblöcke hätten wir wahrscheinlich weitere neunundneunzig Jahre unbeschadet im Orbit Karussell fahren können, doch sah die Sache in aufgetautem Zustand komplett anders aus. Wir waren wieder vom Verfall bedroht wie jedwede Art verderblicher Ware.
„Dann nichts wie runter!“ schlug ich sogleich vor.
„Ganz so einfach, wie du dir das vorstellst, ist es nicht.“ Gowindi versank erneut in seinen Instrumenten, sprach aber dennoch wie geistesabwesend weiter. „Vor dem Wiedereintritt muss ich erst auf eine niedrigere Umlaufbahn abbremsen. Danach muss ich Eintrittswinkel und Geschwindigkeit aufeinander abstimmen, wir wollen ja nicht in der Atmosphäre verglühen, oder? Oh nein. Scheiße!“
„Was ist?“ Es war eine Seltenheit, einen Toorag fluchen zu hören. Deswegen schenkte ich ihm sofort volle Aufmerksamkeit.
„Das Hauptsystem hat soeben den Selfcheck abgeschlossen.“
„Und was ist daran Scheiße?“
„Im Grunde nicht viel. Überraschend wenige Fehlermeldungen, muss ich zugeben. Der Gleiter ist bis auf einige Schrammen in Topform. Allerdings bekam die Thermalabdeckung irgendwann einen Treffer ab. Eigentlich kein Wunder während einer hundertjährigen Reise. Gemessen daran ist unser Gefährt noch in hervorragendem Zustand.“
„Hat uns also doch mal ein Komet geküsst?“
„Könnte sein.“
„Kannst du das reparieren?“
Die Antwort kam verzögert und erst, nachdem Gowindi eine ganze Reihe von Piepstönen und reflektierenden Lichtblitzen aus den Konsolen gelockt hatte. „Scheint ein mechanisches Problem zu sein“, brummte er endlich. „Lässt sich nicht intern lösen. Mir bleibt keine andere Wahl, ich muss raus.“
„Raus?“ fragte ich alarmiert. „Du willst da raus?“
„Ja, auf einen kleinen Raumspaziergang. Keine Sorge, du darfst innen bleiben, obwohl dir etwas Bewegung auch nicht schaden könnte.“ Er wartete meine Reaktion nicht ab. „Ich kümmere mich schon darum. Dennoch brauche ich dich. Du musst die Luftschleuse hinter mir abriegeln und später wieder öffnen. Wirst du technische Null das können?“
Ich nickte zuversichtlich. „Wenn du mir zeigst, was ich machen soll, sehe ich da kein Problem.“
Er zeigte es mir. Sah ganz einfach aus. Sobald sich Gowindi in der Schleuse befand, bestand meine einzige Aufgabe darin, sie von der Kommandozentrale aus zu verriegeln. Ein Tastendruck genügte. Nach eigenen Angaben könnte er dies zwar auch von innen selbst veranlassen, aus „sicherheitsrelevanten“ und „seuchenhygienischen“ Gründen nähme dies jedoch deutlich mehr Zeit in Anspruch. Nach getaner – und hoffentlich erfolgreicher – Arbeit würde er in die Schleuse zurückkehren, welche ich nach einer vorgegebenen Zeitspanne wieder öffnen sollte.
„Werden wir für die Zeit deines Außeneinsatzes in Sprechkontakt bleiben?“ fragte ich.
„Wozu? Ich bin schneller zurück, wie dir lieb sein wird, Freund Jack.“
„Kein Kontakt?“
„Du wirst doch ein paar Minuten ohne mich auskommen, oder? Nimm ein Otomak, es wird dir die Zeit versüßen.“ Mit diesen Worten machte sich Gowindi ans Werk. Die kleine Luftschleuse, die gerade einmal Platz für zwei Toorags bot, schloss sich zischend hinter ihm. Mit dem Helm auf seinem proportional ohnehin riesengroßen Schädel wirkte er extrem topplastig, um nicht zu sagen plump und schwerfällig. Unerwartet früh gab er das vereinbarte Zeichen, und ich drückte artig die entsprechende Taste, ohne ihn aus den Augen zu lassen, als würde er sich sonst umgehend in Luft auflösen. Gebannt sah ich zu, wie sich der raumseitige Teil der Schleuse im Zeitlupentempo öffnete. Stück für Stück. Zentimeter um Zentimeter.
Und dann war der kleine Toorag draußen. Nichts mehr verband ihn mit dem schützenden Gleiter, er schwebte völlig losgelöst im All – und winkte mir zu. Mechanisch winkte ich zurück, verfolgte atemlos jede seiner Bewegungen. Als er einen Purzelbaum schlug, war es soweit. Ich erklärte ihn für vollkommen wahnsinnig.
Mithilfe kaltgasgetriebener Düsen an beiden Seiten seines Raumanzuges beschleunigte er unvermittelt und verschwand aus meinem Sichtfeld. So sehr ich mir auch den Hals verrenkte, ich sah ihn nicht. Mir fiel ein, wie sehr ich von diesem kleinen Scheißer abhing. Erst jetzt, wo ich ihn nicht mehr um mich hatte, wurde erschreckend klar, völlig und absolut hilflos zu sein. Da half auch das zuckersüße Otomak nicht, welches ich verzweifelt lutschte.
„Mach schnell!“ hörte ich mich flüstern. „Und komm ja wieder!“
Und Gowindi kehrte zurück. Mein ohnehin komplett zerrüttetes Zeitgefühl hielt mich bestens zum Narren. Meiner Meinung nach war eine Ewigkeit vergangen, bis ich ihn in die Schleuse eintreten sah. Heftig gestikulierend empfing ich den kleinen Kerl, der mir jedoch zunächst wenig Beachtung schenkte. Endlose Minuten verstrichen, in denen er aus mir unverständlichen Gründen an allerlei Hebeln herumschraubte und dann endlich das Signal gab, auf das ich so lange gewartet hatte. Wieder drückte ich die Taste, mit der ich ihn vor noch gar nicht allzu langer Zeit in den Raum entlassen hatte. Zögerlich, Zentimeter für Zentimeter, öffnete sich der Zugang zur Luftschleuse. Erst jetzt entledigte sich Gowindi seines Raumhelms. Dabei hatte ich das Gefühl, er kippte jeden Moment aus den Latschen.
„Alles okay?“ Wieso hielt ich den Rückkehrer aus dem All plötzlich für schwach und hilfsbedürftig? Nun ja, nach einem Aufenthalt im freien Raum musste er einfach angeschlagen sein, auf die eine oder andere Weise. Jedenfalls nahm ich das an.
„Das werden wir gleich sehen.“ Gowindi legte den Helm zur Seite und widmete sich sogleich den Bordinstrumenten. Er wirkte frisch und klar wie eh und je. Ich bewunderte den kleinen Helden zutiefst. Nach einigen Augenblicken eröffnete er mir dann: „Sieht gut aus. Mein Außeneinsatz scheint von Erfolg gekrönt zu sein.“
„Was hast du so lange da draußen getrieben? Du warst eine Ewigkeit weg!“ rief ich beinahe vorwurfsvoll.
„Hattest du etwa Angst um mich?“
„Natürlich hatte ich Scheißangst um dich!“
„Mehr um mich oder um dich, Freund Jack?“
Meine Augen verengten sich. „Was soll der Blödsinn, Gowindi? Fragst du das jetzt im Ernst?“
„Nur ein kleiner Spaß meinerseits. Aber zu deiner Beruhigung: der Hitzeschild, die Thermalabdeckung, ist wieder in Topform. War nur ein wenig eingedellt. Ließ sich problemlos richten. Wir können es wagen, in die Atmosphäre des Planeten einzutauchen.“
„Klingt phantastisch. Und wann?“
„Sobald ich das Hauptsystem rebootet habe. Das wird ein wenig dauern.“
„Sagtest du nicht vorhin, du hättest schwer Bammel davor?“
„Im Grunde ja, aber es muss sein. Vielleicht erfahren wir danach auch ein wenig mehr davon, wo wir eigentlich sind. Einige Systeme haben sich aufgehängt, kein Wunder nach knapp einem Jahrhundert ununterbrochenem Einsatz.“
„Was, wenn deine Systeme den Geist aufgeben?“
„Das wäre ungünstig“, räumte Gowindi ein. „Zwar traue ich mir die Landung von Hand auch zu, möchte es allerdings gerne vermeiden. So oder so, wir haben keine andere Wahl. Du legst jetzt bitte endlich deinen Raumanzug an! Wenn das Hauptsystem down ist, wird es hier drinnen sehr schnell sehr kalt werden. Und nicht nur das. Auch die Schutzschilde sind unwirksam. Die kosmische Strahlung wird dann ungehindert eindringen, und sie ist hier außen ganz schön intensiv. Des Weiteren ist die Oxygenversorgung in der Kommandozelle nicht mehr gewährleistet. Hast du verstanden?“
Ich nickte und schlüpfte wie mechanisch in meinen Raumanzug, der seit hundert Jahren unbenutzt neben mir gelegen hatte. Noch immer begriff ich das ganze Ausmaß der Ereignisse nicht, welches mir erst vor etwas mehr als einer Stunde bewusst geworden war. Vielmehr überkam mich erneut das verwirrend tröstende Gefühl, einen üblen Traum zu träumen.
„Gut, ich sehe, du bist soweit. Na dann! Gehen wir es an! Gleich wird es dunkel werden. Hat einen Vorteil. So kannst du die Aussicht noch besser genießen. Versuche einfach, ein wenig zu schlafen. Ach so, mein Fehler. Wirst kaum müde sein, die letzte Nacht war ja lang genug. Bist du bereit?“ Gowindi wartete meine Antwort gar nicht erst ab. Was auch immer er getan hatte, von einer Sekunde auf die andere erloschen sämtliche Lichter, Dioden, LEDs, was auch immer. Es wurde, wie angekündigt, zappenduster. Und ruhig. Verdammt ruhig. Sämtliche Hintergrundgeräusche verstummten. Die plötzliche Stille hatte etwas Majestätisches an sich.
Ich entspannte und ließ den fremden Planeten auf mich wirken. Seine wild anmutende Atmosphäre wäre eine Inspiration für jeden Maler gewesen. Bizarr geformte Wolkenwirbel regten die Phantasie an. Es musste da unten also so etwas wie ein Wetter geben. Nun ja, offenbar auch Sauerstoff in Hülle und Fülle. Alles in allem schien eine einladende Welt auf uns zu warten. Dagegen sprachen nur jene giftig-grün schimmernden Lichtblitze in der nördlichen Polregion, die zuckten und waberten wie gallertartige Masse. Sah weniger vielversprechend aus.
Irgendwann musste das Licht wieder angegangen sein. Ich war tatsächlich weggenickt gewesen und schreckte erst hoch, als sich Gowindi vom ordnungsgemäßen Sitz meines Raumanzugs überzeugte und penibel das Rückhaltesystem, welches mich in die Sitzschale schnürte, überprüfte. Selbiges hatte er bereits bei unserem Start getan, der, meinem irreparabel geschädigten Zeitgefühl folgend, erst wenige Tage zurücklag. Und doch war seitdem ein Jahrhundert vergangen!
„Was machen die Systeme? Alles wieder ordnungsgemäß hochgefahren?“ erkundigte ich mich sogleich. Musste wohl so sein. Den altbekannten Hintergrundgeräuschen konnte man getrost vertrauen.
„Alles bestens!“ erwiderte der Pilot, ohne mich anzusehen. Es sollte mich wohl beruhigen, allerdings war die Antwort etwas zu schnell gekommen. Ich kannte Gowindi. Irgendetwas verlief nicht zu seiner Zufriedenheit, ich spürte es in den Knochen. Doch wir mussten jetzt da runter, da ging kein Weg dran vorbei. Und ich konnte deutlich besser mit einer Vermutung leben, als reinen Wein eingeschenkt zu bekommen. Was blieb mir auch sonst übrig? Mein Leben hing zu hundert Prozent von den Fähigkeiten dieser Krötenfresse ab. Es gab nichts, was ich hätte tun können, um die Situation positiv oder negativ zu beeinflussen. Traurig, aber wahr.
„Beim Eintritt in die Atmosphäre wirken die gleichen Kräfte auf dich ein, wie beim Austritt“, mahnte Gowindi, während er sich selbst in seinem Sitz festzurrte. „Du weißt also, was auf dich zukommt. Keine Bange, du kriegst das hin! Es ist ohnehin um ein Vielfaches anspruchsloser, auf einem Planeten zu landen, als ihn zu verlassen.“
„Versprochen?“ Wenig Lust hatte ich, mich wieder zu bemühen, meinen Magen nicht hoch zu würgen. Die bloße Erinnerung – lag sie auch bereits hundert Jahre zurück – ließ mich erschauern.
„Großes Pfadfinderehrenwort!“ Woher kannte er nur diese Ausdrücke? Beinahe hätte ich gelächelt. „Wir gehen jetzt tiefer, es wird noch ein bisschen dauern, bis der Spaß beginnt. Leg dich ruhig zurück und versuche ein wenig zu schlafen. Du versäumst nichts.“
„Du bist gut! Ich habe annähernd tausend Monate verschlafen und bin gerade nicht im Mindesten müde, das kannst du glauben! Schon gar nicht, wenn du am Steuer sitzt! Dein Flugstil ist mir hinlänglich bekannt.“
Gowindi erwiderte nichts darauf, und so hielt auch ich den Schnabel. Mit steigender Nervosität beobachtete ich meinen hochkonzentrierten Freund, der völlig vertieft in seine Instrumente den Eintritt in die Atmosphäre eines unbekannten Planeten vorbereitete. Mein rechter Fuß zuckte unkontrolliert. Ich ließ es geschehen. Hatte etwas Beruhigendes.
Der Gleiter näherte sich mehr und mehr dem unbekannten Planeten. Ich guckte mir die Augen aus dem Kopf, um irgendetwas Neues da unten zu erkennen, doch gab es nichts weiter zu sehen als verwaschenes Einheitsbraun durchzogen von bereits bestens bekannten, verschnörkelten Wolkenschlieren. Aus dieser Höhe wirkte das Gestirn abweisend, unfruchtbar und lebensfeindlich. Zwar sprachen die Bordinstrumente eine andere Sprache, doch vertraute ich ihnen nicht rückhaltlos. Zu viel war schiefgelaufen, als dass ich mich weiterhin uneingeschränkt auf sie verlassen hätte wollen.
Dann ging ein mörderischer Ruck durch den Gleiter. Mein Körper wäre unzweifelhaft aus der Sitzschale geflogen, würden die Rückhaltgurte nicht ordnungsgemäß funktioniert haben. An allen Ecken und Enden klapperte und krachte es, als ginge unser kleines Raumschiff in tausend Stücke. Ich wollte schreien, doch der plötzlich einsetzende Druck auf der Brust verhinderte dies im Ansatz.
„Wir tauchen ein“, hörte ich Gowindi inmitten des Chaos rufen. Wie gelang es ihm, angesichts der unglaublichen Kräfte, denen wir uns ausgesetzt sahen, an so etwas wie Kommunikation auch nur zu denken? Der Gleiter wurde innerhalb weniger Sekunden dramatisch abgebremst, ein wahrlich schwer zu beschreibendes Gefühl. Ich hatte das Gefühl, sämtliche Organe waren drauf und dran, aus meinem Leib katapultiert zu werden. Worte können die Kräfte, die in diesem Moment auf den Körper einwirken, nur schwerlich beschreiben. Mehr als einmal war ich sicher, jeden Augenblick das Bewusstsein zu verlieren, was jedoch wundersamerweise nicht geschah.
Und dann war es auch schon vorbei. Der Druck verschwand. Meinen Lungen gelang es endlich wieder, die Arbeit aufzunehmen. Es dauerte allerdings ein wenig, bis ich begriff, es handelte sich um mein eigenes Stöhnen, welches so kläglich an die Ohren drang.
„Wir haben es geschafft!“ Ein überaus unbeeindruckter Gowindi saß bereits aufrecht da und hing an den Instrumenten. Als ich anfangen wollte, seinen Worten Glauben zu schenken, neues Vertrauen zu schöpfen, wurde ich unvermittelt mit brutaler Gewalt in die Sitzschale zurückgepresst. Ein sicheres Zeichen, dass der Gleiter wieder beschleunigte. So etwas hatte ich am allerwenigsten erwartet – und wie es aussah, erging es dem Piloten nicht anders. Erneut drang ein Fluch aus dem Kommunikator. Kein gutes Zeichen bei einem Toorag, wohlgemerkt!
„Was ist los? Was passiert da?“ Aus der Tiefe meines Sitzes gelang es mir, diese wenigen Worte hervorzupressen, nicht sicher, ob sie Gowindi jemals erreichten. Antwort bekam ich jedenfalls nicht. Vielleicht hörte ich sie auch nur einfach nicht mehr, da die Umgebungsgeräusche mit jeder Sekunde an Dramatik zulegten. Alles begann sich zu drehen, schneller, immer schneller. Lange konnte ich mich nicht mehr bei Bewusstsein halten, so viel stand fest.
Und dann gingen auch endlich die Lichter aus.