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3 Flügge

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Ylvie, die Zwillingsschwester meines Vaters, war mit meiner Betreuung von Anfang an überfordert. Sie, die einzige lebende Verwandte, hätte mir eigentlich nahestehen müssen, doch empfand ich mehr Verbundenheit zu Gowindi als zu ihr. Wir hatten es gründlich versäumt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen als ich noch kleiner war. Womöglich lag es aber auch an der offenen Abneigung zwischen ihr und Jezzie, meiner Mutter. Beide Frauen hatten einander misstraut, sehr zum Missfallen meines Vaters, dem es nie gelungen war, die beiden einander näherzubringen. Mir war nie ganz klar gewesen, wem ich die Schuld dafür geben durfte. Mit Mutters Tod waren die Würfel endgültig gefallen. Natürlich machte ich nun die ungeliebte Tante verantwortlich und ließ es sie spüren. Sie bemühte sich redlich, tat alles in ihrer Macht stehende, um mich, den traumatisierten Balg, aufzufangen. Doch hatte sie nicht den Hauch einer Chance. Wie sollte man jemanden auffangen, der nicht aufgefangen werden wollte?

Niemand außer Gowindi fand noch Zugang zu mir. Er, der Außerirdische, mutierte zum Elternersatz. Wer immer es wagte, sich meiner annehmen zu wollen – und es gab einige wenn auch halbherzige Versuche besorgter

Mitmenschen – wurde gnadenlos weggebissen. Unnahbarer konnte ein Halbwüchsiger nicht sein.

Ylvie warf schließlich ein gutes Jahr nach dem Weggang meines Vaters das Handtuch. Kein Wunder. Ich hatte sie, die alles gab, mit Verachtung gestraft. Eines Tages teilte sie mir mit, meine Boshaftigkeiten nicht mehr auszuhalten. Sie fühle sich nicht länger verantwortlich. Ich dürfe tun, was ich wollte, sei nun alt genug. Lächerlich! Ich war gerade siebzehn Jahre und es gewohnt, die Hand, die mich fütterte, erbarmungslos zu beißen. Warnungen hatte sie genügend ausgesprochen, doch nahm ich sie zu keiner Zeit ernst. Im Gegenteil. Keine Sekunde ließ ich aus, sie zu verspotten, zu verhöhnen und zu verletzen. Jetzt, wo sie sich endlich zurückzog und ich vor den Konsequenzen meiner monatelangen Attacken stand, spürte ich merkwürdigerweise so etwas wie Reue. Doch niemals wäre es möglich gewesen, sie in Worte zu fassen oder mir sogar so etwas Undenkbares wie eine Entschuldigung abzuringen. Mein eiskaltes Lächeln im Moment der Wahrheit musste Beweis genug für sie gewesen sein, die richtige Entscheidung gefällt zu haben. Sie hätte mir die Sterne vom Himmel holen können, ich würde sie dafür verachtet haben. Mein Selbsthass überwog alles. Nichts und niemand, schon gar nicht eine liebende Hand, hätte mir helfen können. Mir war nur auf eine Weise zu helfen. Ylvie hatte es folgerichtig erkannt: ich musste ganz alleine zu mir finden, ohne jede Hilfe von außen.

Sie tat genau das Richtige und stieß mich endlich ins kalte Wasser. Ich sollte schwimmen oder untergehen. Schon mein verletzter Stolz zwang dazu, letzteres nicht zuzulassen. Ich schwamm. Wenn auch nicht auf die Art und Weise, wie sie es vielleicht erwartet hätte.

Der trotzige Entschluss, den Menschen den Rücken zu kehren, stand zwar auf tönernen Füßen, aber er stand. Ich packte die wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, zusammen und verließ kurz entschlossen mein Heimatdorf. Wohin? Nach Süden. Wenn die Menschen mich nicht wollten, vielleicht legte man woanders mehr Wert auf mich.

Gowindi hatte diesen Tag kommen sehen. Immerhin war er ja schon seit längerem „gowindi“, befand sich also im Stadium fortgeschrittener emotionaler und sozialer Reife. Nach eigener Aussage erfährt ein Toorag in dieser sensiblen Phase der Entwicklung eine komplette Reorganisation des Gehirns. Manchmal

konnte ich mich des Verdachts nicht erwehren, er betrachtete mich als Studienobjekt, um seine geistige Überlegenheit an mir zu messen oder zumindest zu erproben. Oder er war wirklich ein Freund, der sich einfach nur sorgte. Letzteres sagte mir naturgemäß mehr zu.

„Du kannst nicht aus deiner Gemeinschaft ausscheren“, gab er zu bedenken. „So wird das nicht funktionieren. Du bist ein Gemeinwesen, in dieser Hinsicht unterscheiden sich Menschen und Toorags wenig. Wir können nicht ohne Unseresgleichen existieren. Jedenfalls nicht, ohne dauerhafte Schäden zu nehmen.“

„Wenn ich länger bleibe, werde ich schon morgen dauerhaften Schaden genommen haben“, hielt ich dagegen. Natürlich hatte Gowindi recht, mein Mütchen hatte sich schon abgekühlt, als die paar Meilen zu unserem regelmäßigen Treffpunkt hinter mir lagen. „Kann ich nicht mit zu dir kommen, bei euch Toorags leben? Und sei es nur für gewisse Zeit?“

Die Antwort kam umgehend. „Es würde dir dort nicht gefallen. Allein das Klima ist für euch Menschen ungeeignet.“ Die Ablehnung traf. Er wollte mich dort nicht bei sich haben. Doch bewies er mir seine geistige und soziale Überlegenheit auf angenehme Weise. „Aber gut, mach‘ dir ein eigenes Bild und entscheide dich dann.“

Ich starrte ihn aus großen Augen an. Sprach er in der Tat eine Einladung aus? Meines Wissens war noch keinem Menschen Ähnliches offeriert worden. Durfte er dies überhaupt? Handelte es sich am Ende nur um eine Idiotie, eine letzte widersinnige Kapriole vor der Reifung zum Vollmitglied in seinem Verein?

„Im Ernst?“

„Oh ja, natürlich. Dort hinter den Dünen steht der Gleiter.“

Meine Augen mutierten zu Glasmurmeln. „Ist nicht wahr! Du machst hier einen Jux mit mir, oder?“

„Nicht im Mindesten. Komm, sieh ihn dir an!“

„Du besitzt einen eigenen Gleiter und sagst nichts davon?“ Gewiss hatte ich mir zuweilen Gedanken darüber gemacht, wie Gowindi es anstellte, die Entfernung zwischen unseren Siedlungen zu meistern, ohne aus der Puste zu kommen. Selbstredend war ich auf den Gedanken gekommen, es musste irgendein Fluggerät geben, welches ihm dabei half, die annähernd hundertfünfzig Meilen zurückzulegen. Ich wusste von der Existenz dieser Gerätschaften, auch wenn ich wissentlich noch nie welche gesehen hatte.

Manchmal, in schlaflosen Nächten, waren mir vorbeiziehende Lichter am Firmament aufgefallen, die nicht in die Kategorie „Meteorit“ passten. Vater hatte mir dann anvertraut, um welche Art Sternschnuppen es sich handelte und dass die Toorags dahintersteckten. Doch noch nie war es mir vergönnt gewesen, einen dieser Flugapparate aus der Nähe zu sehen.

Bis heute.

Tatsächlich. Da stand er. In einer Senke, durch meterhohe Sanddünen vor neugierigen Blicken bestens versteckt. Eine gläserne Drachenfliege. Erstaunlich klein, ich hatte mir die Dinger wesentlich größer vorgestellt. Er maß drei Körperlängen, mehr nicht. Aus beiden Seiten des Rumpfes ragten flügelähnliche, nach unten geklappte Tragflächen hervor, auf denen das Gefährt augenblicklich ruhte. In dieser Position reichte es mir soeben bis zum Hals. Den Kopf der Drachenfliege bildete eine rundum transparente Kuppel, ganz offensichtlich die Flugkanzel. Viel Platz bot sie nicht. Einer von uns beiden würde sich verflucht kleinmachen müssen, und ich wusste auch schon, wem diese Aufgabe anheimfallen sollte.

„Und damit könnt ihr fliegen?“ Das filigrane Teil erweckte nicht gerade den Eindruck. Jetzt, aus der Nähe, wirkte es noch mickriger. Meine Linke glitt gleichwohl anerkennend wie skeptisch an der kühlen Außenhaut entlang, die silbrig schimmerte wie ein kieloben treibender Fisch. Kommentarlos betätigte Gowindi einen mir verborgenen Mechanismus und die Kommandokanzel flirrte, begleitet von einem surrenden Geräusch, ein Stück zur Seite und machte den Weg ins Innere frei.

„Bitte nach dir. Nimm hinten Platz!“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mittels sprossenähnlicher, in die Außenhülle eingelassener Tritthilfen schwang ich mich nach oben und zwängte meinen Körper in die Kanzel. Einen Moment lang beobachtete der kleine Toorag den ganzen Vorgang, als zweifelte er die Richtigkeit seines Vorhabens an, bevor er schließlich ebenfalls erstaunlich behände einstieg. Ganz klar, er tat das nicht zum ersten Mal. Wie vorhergesehen wurde es nun mächtig eng hier drinnen. Doch wenn es den Piloten nicht störte, sollte es mir nur recht sein. Hinter den Sitz geklemmt wie ein unhandlicher Fremdkörper, konnte ich es kaum abwarten, bis wir abhoben.

„Fliegt jeder von euch so ein Ding, so einen Gleiter?“ fragte ich.

„Ja, jeder von uns.“

„Und du darfst auch schon? Immerhin bist du ja noch nicht groß, wenn du

verstehst, was ich meine.“

„Hast du Bammel, Freund Jack?“

„Niemals, Freund Gowindi!“ Glatt gelogen! Aber er musste ja nicht alles wissen.

Zum ersten Mal im Leben flog ich. Und wie! Der Gleiter schoss kerzengerade in den Himmel, als hätte man ihn aus den Dünen katapultiert. Meine anfängliche Furcht schlug ins krasse Gegenteil um. Wie wild begann ich mit weit aufgerissenen Augen zu johlen. Dann erst zeigte Gowindi, was in dem Gerät steckte. Mit affenartiger Geschwindigkeit raste es gen Süden. Das Meer, die Insel, meine Heimat, alles schoss derart überstürzt an uns vorbei, man konnte nur entweder entsetzt schreien oder irr lachen. Ich wählte letzteres.

Überraschend schnell endete die atemberaubende Reise. Gowindi bremste den Gleiter herunter, was für meinen Geschmack etwas zu abrupt geschah, weswegen ich mich auch unangenehm gegen den Sitz gequetscht fühlte. Noch bevor ich protestieren konnte, drang eine merkwürdig verzerrte Stimme aus dem Kommunikator: „Wir sind angekommen!“

Sofort warf ich einen Blick nach unten, auf die der See abgewandten Seite. Nichts zu sehen außer schroffer Felslandschaft. Was hatte ich erwartet?

„Wo sind wir angekommen? Ich sehe nichts!“

„Falsche Seite, Freund Jack“, schepperte es aus dem Kommunikator. Hatte das Teil durch den hektischen Flug Schaden genommen oder weshalb klang es plötzlich so verzerrt? Meine Position verändernd, lugte ich nun neugierig aufs Meer hinunter – und stutzte entsprechend.

Entlang der Küstenlinie ragten riesige Glaskuppeln, in allen Farben schillernd wie Seifenblasen, aus der See. Zwanzig, dreißig, vielleicht mehr! Ich rang um Fassung, als ich endlich die Fähigkeit mich zu artikulieren wiederfand.

„Gowindi! Was ist das?“

„Willkommen bei mir zuhause!“ Die Stimme klang wieder etwas natürlicher, wenn auch weiterhin mit metallenem Unterton.

„Wohnt ihr da drin? Wohnt ihr im Meer? In den Kuppeln?“

Taten sie.

An diesem Tag erweiterte sich mein Horizont um Welten.

Schon beim Aussteigen bemerkte ich deutlich, warum Gowindi mich eingeladen hatte, mir selbst ein Bild zu machen. Die Temperaturen bewegten

sich in empfindlich niedrigem Bereich. Natürlich, der Südzipfel Evus ragte bereits in die subpolare Zone hinein. Bei uns im Norden wurde es jetzt langsam Herbst, die Blätter verfärbten sich allmählich. Die wenigen Bäume, die ich hier unten ausmachte, hatten ihr Laub schon abgeworfen. Zudem wehte rauer, eisiger Wind.

„Ziemlich kühl bei euch.“ Mein erster Kommentar. Ich war nur leicht bekleidet und fröstelte entsprechend.

„Noch viel zu warm“, erwiderte Gowindi trocken. „Wenn der erste Schnee fällt, so in drei bis vier Wochen, beginnt endlich die angenehme Jahreszeit.“ Er blickte mich von der Seite an. „Ich sagte dir bereits, du wirst dich hier nicht sonderlich wohlfühlen.“

Ich bekam eine genauere Ahnung von dem, was er meinte. „Lebt ihr in den Glaskuppeln?“ Die einzelnen Dome verfügten über Durchmesser von gut und gern zehn Metern und bestanden aus unzähligen achteckigen Waben, ähnlich wie Kammern eines Bienenstocks. Tausendfach reflektierten sie das Licht der Xyn in allen denkbaren Farben. Und es waren nicht mehr als dreißig, wie ich mich überzeugen konnte. Achtundzwanzig. Jede eine Kopie der anderen. Sie glichen einander aufs Haar.

„Ganz genau“, bestätigte Gowindi. „Diesen Teil der Küste haben wir zu unserem Lebensbereich erklärt. Hier fließt der kalte Golfstrom entlang und sorgt für erträgliche Temperaturen, auch im Sommer. Deswegen leben wir in den Glaskuppeln, wie du es nennst. Sie sind unterhalb der Wasseroberfläche miteinander verbunden. Das kalte Meerwasser sorgt im Innern für annehmbare Temperaturen. Du würdest das wahrscheinlich anders empfinden.“

„Weswegen seid ihr immer noch hier? Ich meine, wenn euch das Klima auf Gondwana nicht zusagt, aus welchem Grund bleibt ihr? Wirklich nur, um uns zu beschützen?“ Diese heikle Thematik hatte ich lange bewusst vermieden, schon allein aus Angst, Gowindi würde sich zurückziehen, wenn ich ihn damit konfrontierte.

„Du kennst die Zusammenhänge“, kam die knappe Antwort.

„Nur ansatzweise.“ Gab es einen Grund, damit hinter dem Berg zu halten? „Ihr seid hier, um uns zu beschützen. Nur... vor wem genau?“

Die Antwort kam ohne zu zögern und warf sogleich neue Fragen auf, schon weil Gowindi sie wie eine formulierte.

„Vielleicht vor euch selbst?“

Plötzlich fühlte ich mich längst mehr so selbstsicher wie noch vor dem Aufbruch hierher. Jetzt, auf fremdem Territorium, spürte ich die Barriere zwischen Gowindi und mir deutlich. Hatte ich unsere fragile Freundschaft, so ungewöhnlich sie ohnehin war, am Ende überanstrengt? Ich beschloss, so weit wie nur irgend möglich zu gehen, ihn herauszufordern.

„Darf ich mit hineinkommen?“

„Nein, du würdest erfrieren. Unsere Biosphäre entspricht nicht der deinen. Wir leben in grundverschiedenen Klimazonen. Wir Toorags sind in der Lage, die Hitze, in der ihr Menschen lebt, für einen gewissen Zeitraum zu tolerieren. Ganz gut sogar. Unsere Körper leiden dennoch. Schon nach kurzer Zeit beginnen sie zu sterben. Langsam. Sehr langsam. Doch sie sterben. Wir müssen jeden Tag in unser artifizielles Milieu zurückkehren, um uns wieder zu regenerieren.“

Ich verstand. Uns trennten Welten. Wie sehr, fiel mir erst heute richtig auf. Natürlich konnte ich nicht bei den Toorags leben, so sehr ich es vielleicht vor kurzem noch gewollt hatte. Von Mutlosigkeit gepackt, rief ich: „Aber wir bleiben Freunde, oder?“

Er sah mich mit seinem stets unergründlich ausdruckslosen Froschgesicht an. „Oh ja, das bleiben wir, Freund Jack. Ich werde dich besuchen kommen, so oft es geht. So wie immer. Nichts hat sich verändert.“

Erleichtert nickte ich ihm zu. „Danke fürs Herbringen. Eure Siedlung mit eigenen Augen zu sehen, bedeutet mir sehr viel. Jetzt weiß ich auch, nicht bei euch leben zu können.“

„Siehst du? Darum solltest du für dich selbst entscheiden.“

„Mach so weiter und du bist bald nicht mehr gowindi, dann lassen sie dich endlich als Vollmitglied in deine Truppe.“

„Ich kann es abwarten“, kam die Antwort. Und ich glaubte ihm. Keine Ahnung, welche Pflichten auf ihn warteten, würde er das Erwachsenenalter erreicht haben.

Ich ließ es mir nicht nehmen, wenigstens für ein paar Minuten die Felsenküste auf und ab zu spazieren, um den Glaskuppeln so nahe wie möglich zu kommen. Vom Ufer aus jedoch erwiesen sie sich als unerreichbar. Auch sah ich keinen anderen Toorag. Das hatte ich mir wohl am meisten erhofft, irgendwie einen Blick von ihnen zu erhaschen, irgendwo in ihren Glaskäfigen. Doch taten sie mir

den Gefallen nicht.

Schon allein die kriechende Kälte zwang zur Rückkehr. Frierend kletterte ich zurück in den Gleiter und quetschte mich wieder hinter den Steuersitz. Bevor Gowindi abhob, richtete er noch einmal das Wort an mich.

„Schön, dass du mitgekommen bist. Ich bin erfreut, wie sehr dir meine Heimat gefällt.“

„Nein, ich habe zu danken. Du bist toll, Gowindi. Ich bin stolz darauf, dein Freund zu sein.“ Und das meinte ich völlig ehrlich. „Freund Gowindi“, fügte ich noch leise hinzu.

„Freund Jack“, kam umgehend die Antwort. Es klang sogar gerührt. Und dann ging es im gleichen Tempo nach Hause. Langsam und gemächlich gehörte wohl nicht ins Repertoire eines Toorags.

Viel Zeit ging ins Land. Natürlich war ich zurückgekehrt, hatte mich bei Ylvie entschuldigt und war probeweise wieder aufgenommen worden. Der Besuch bei den Toorags, so kurz er auch gewesen sein mochte, hatte mich verändert. Meine Rebellion ging zu Ende. Zumindest diese. Eine andere wartete bereits – und jene stellte erneut alles in Frage, was mit meinem bisherigen Leben zu tun hatte.

Der Kontakt zu „Freund Gowindi“ blieb weiterhin bestehen, wenn auch nicht mehr so intensiv wie früher. Er hatte inzwischen seine volle Reife erreicht und Pflichten zu übernehmen, über die er nicht sprach, was mich anfangs irritierte. Welcher Freund war das, der so wenig über sein Privatleben verlauten ließ? Doch gewöhnte ich mich daran, auf so manche Frage keine Antwort zu bekommen und tröstete mich mit Otomaks darüber hinweg. Ab und an beschlich mich der Verdacht, ihn enttäuscht zu haben. Womöglich stellte dies den Grund dar, weswegen er zuweilen so wenig Zeit fand. Es gab Zeiträume von mehreren Wochen, in welchen wir uns überhaupt nicht sahen. Kontakt hielten wir zwar über den Kommunikator, über den er mir von Zeit zu Zeit Nachrichten übermittelte, doch wenn er nicht antwortete, saß ich auf dem Trockenen. Die lang anhaltende Funkstille zerrte an meinen Nerven, dann stellte sich allmählich Gleichgültigkeit ein. Wenn er nicht mehr wollte, gut! Ich redete mir ein, es musste wohl so sein. Wir entsprangen völlig unterschiedlichen Welten, als Halbwüchsige hatten wir vielleicht darüber

hinweg gesehen, jetzt waren wir dem Kindesalter allerdings entwachsen, er genau so wie ich. Die Interessen verschoben sich, das lag in der Natur der Dinge.

Dennoch, ich vermisste ihn.

Und die Otomaks gingen auch allmählich zur Neige...

Umso mehr freute ich mich, wenn er dann doch irgendwann reagierte. Und wenn wir uns endlich wiedersahen, war es stets so, als hätte es die Zeiten der Funkstille nie gegeben. Wir knüpften exakt an dem Tag an, an welchem wir auseinandergegangen waren. Ein ungeschriebenes Gesetz jedoch existierte nach wie vor: es gefiel ihm nicht, wenn ich ihn fragte, warum er sich so lange nicht gerührt hatte. Tat ich es trotzdem, wurde meine Krötenfresse erstaunlich schweigsam. Wenig Interesse hatte ich daran, Gowindi zu verärgern, also fügte ich mich, stellte keine Fragen, auch wenn die Antworten noch so interessierten. Diese Prämisse war nicht verhandelbar. So blieb mir mein außerirdischer Freund in großen Teilen fremd. Ich hatte keine Ahnung was er trieb, wenn er unter Seinesgleichen weilte.


Kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag, der Kontakt zu Gowindi befand sich zu dieser Zeit auf einem außergewöhnlichen Intensivtrip, teilte ich ihm melodramatisch mit, von Evu die Schnauze voll zu haben. Ich hatte die wenigen Menschen satt, konnte sie nicht mehr sehen. Vor allem sehnte ich mich nach so etwas wie einer Gefährtin. Mir verlangte es nach etwas völlig Normalem, etwas Selbstverständlichem. Doch gab es keine Menschen in meinem Alter auf dieser gottverlassenen Insel. Ich war allein auf weiter Flur. Der Entschluss, Evu zu verlassen, reifte heran. Vielleicht würde ich das, wonach ich suchte, auf dem Kontinent finden? Immerhin lag vor Evus Haustür ein unermesslich weites Land. Dort musste es doch Menschen geben! Wieso vergeudete ich mein junges Leben auf diesem mittlerweile zu einem Gefängnis mutierten Eiland?

Gowindi verstand mich wie immer voll und ganz. Mir war stets klar gewesen, er wusste viel mehr über Gondwana, als er preisgeben wollte.

„Ich muss dich leider enttäuschen“, eröffnete er dann auch unumwunden. „Auf dem Kontinent leben keine Menschen mehr. Hat dein Vater hat dir nie davon erzählt?“

„Wovon?“

„Warum es überhaupt nur noch so wenige von euch Menschen auf Gondwana

gibt.“

„Doch, schon. Wir verloren den Krieg mit euch und damit alle Besitzungen. Die meisten von uns wurden nach Sahul verbannt, auf den Exilstern. Auch von Gondwana wurden wir deportiert.“

„Richtig, seitdem gibt es auf dem Kontinent keine Menschen mehr. Sie wurden als Ergebnis des Krieges ausnahmslos nach Sahul umgesiedelt.“

„Umgesiedelt klingt ein wenig harmlos, findest du nicht auch? Du darfst es ruhig ‚vertreiben‘ oder ‚deportieren‘ nennen, nur keine Hemmungen!“

„Vergiss niemals, wer diesen Krieg angezettelt hat! Das habt ihr euch alles selbst zuzuschreiben!“

„Alles gut“, wiegelte ich ab. „Immerhin wart ihr so kooperativ und habt einige von uns wieder zurückgebracht. Und wenn wir schon von Vater sprechen: weißt du, ob er diesen Kincaid Sprent inzwischen aufgestöbert hat?“

„Darüber habe ich keine Informationen“, antwortete Gowindi viel zu schnell. Schwer zu sagen, ob er etwas wusste oder nicht.

„Er kommt nicht mehr, nicht wahr? Du kannst ruhig die Wahrheit sagen, ich bin alt genug, sie zu vertragen.“

„Ich weiß wirklich nichts Näheres.“

„Gowindi, inzwischen sind fast fünf Jahre vergangen! Fünf Jahre! Wenn alles glatt gelaufen wäre, müsstet ihr längst etwas wissen. Nein, er kommt nicht wieder. Wahrscheinlich hat er auf Sahul ein neues Leben angefangen und mich und all den Scheiß hier vergessen. Kein Wunder! Würde ich auch gern.“

„Nein, das glaube ich nicht.“ Es klang tröstlich, verfehlte seine Wirkung aber völlig.

„Manchmal spüre ich das Verlangen, mich auf die Suche nach ihm zu machen“, gestand ich. „So wie er nach diesem Kincaid Sprent. Glaubst du, so etwas wäre möglich?“

„So etwas würde auf jeden Fall einer gewissen Vorbereitung bedürfen“, eröffnete mir Gowindi. Ich traute meinen Ohren kaum! Er versuchte nicht einmal, es mir auszureden. Nein, er ging direkt darauf ein! „Wir können nicht einfach von heute auf morgen eine derart weite Reise antreten. Dazu benötigt man einen interstellaren Gleiter.“

„Die müssen bei euch doch massenweise rumstehen“, tat ich es sofort ab. Alleine Gowindis Bereitschaft, diesem Unterfangen auch nur ansatzweise eine

Chance zu geben, versetzte mich in euphorischen Zustand. Ich hätte geschworen, er würde es rundum ablehnen. Vielleicht hätte es mir schon damals Warnung genug sein müssen.

„Dir ist wohl nicht bewusst, was so etwas bedeutet? Die Reise nach Sahul würde annähernd zwei Jahre dauern. Es wäre womöglich eine ohne Wiederkehr!“

„Na hoffentlich!“ stieß ich im Brustton der Überzeugung hervor. „Ich habe keine Absicht, sollte ich erst von hier weg sein, wieder zurück zu wollen. Siehst du irgendeine Chance, mich an Bord eines solchen Raumschiffes zu schmuggeln?“

„Du hast Ideen! Und völlig falsche Vorstellungen! Dich an Bord eines Gleiters zu bringen, wäre nicht das schwierigste Unterfangen. Die größte Problematik ist das Ziel, Freund Jack, das Ziel! Sahul liegt außerhalb der üblichen Verkehrsrouten. Niemand beabsichtigt, dorthin zu reisen. Niemand!“

Mein Mut sank. „Wieso dann mein Vater?“

„Das geschah auf Drängen der Ermeskul. Er ist auf einer Mission, wie du weißt.“

Eine, die mich am allerwenigsten interessierte. „Na also, an mir haben die Ermeskul wohl wenig Interesse mehr, jetzt wo klar ist, dass ich keiner von ihnen bin. Lebendig oder tot, ich bin denen doch völlig gleichgültig! Warum soll ich also bleiben? Gowindi, hilf mir, bitte! Ich muss von hier fort! Du sagtest selbst einmal, man könne nicht ewig ohne Seinesgleichen leben, ohne Schaden zu nehmen.“

„Den Schaden hast du längst“, kam es salopp aus dem Kommunikator. „Aber gut, ich werde darüber nachdenken.“

„Du hast was gut bei mir!“

„Perfekt! Ein Mensch schuldet mir was!“

„Ist das Sarkasmus?“

„Nein, peinlich!“

Gowindis Bereitschaft, darüber nachdenken zu wollen, signalisierte mir, wie wenig ihm selbst daran lag, auf Gondwana verbleiben zu wollen. Er hatte mir bereits mehrmals anvertraut, wie sehr es ihn nach Rantao zog, den Heimatplaneten seiner Spezies. Prinzipiell saßen wir im gleichen Boot. Viel erwartete hier weder ihn noch mich. So überraschte es auch nicht sonderlich,

als er nur wenige Wochen später mit einer Neuigkeit aufwartete. Er hätte erreicht, nach Rantao übersiedeln zu dürfen. Die Nachricht traf bis ins Mark. Ich sollte also in absehbarer Zeit den einzigen Freund verlieren, den es auf dieser Welt gab. Das tat weh!

„Freut mich für dich“, gab ich von mir, meine wahren Gefühle eisern zurückhaltend. „Du hast es verdient, von hier wegzukommen, weiß Gott!“

„Kein Interesse mehr, mich zu begleiten?“ konterte er.

Volltreffer! Und ob ich Interesse hatte! Gowindi weihte mich daraufhin in unerhörte Pläne ein. Sie klangen zu fantastisch, um wahr zu sein. Sahul lag zwar mitnichten auf dem Weg nach Rantao, aber nirgendwo stand geschrieben, unterwegs keine kleine Kurskorrektur vornehmen zu dürfen. Sein gewagter Vorschlag elektrisierte mich durch und durch.

„Wann wirst du abreisen?“ tastete ich mich vorsichtig heran.

„Es gibt noch keinen spruchreifen Termin. Aber das kann schnell gehen.“

„Wissen deine Leute, dass du mich mitnehmen willst?“

„Sie brauchen nicht alles zu erfahren. Zudem werde ich aller Voraussicht nach sowieso den kleinsten unserer Raumgleiter bekommen. Da ist ohnehin nur Platz für zwei.“

„Hast du denn schon Erfahrung im Raumflug?“ fragte ich skeptisch.

„Und ob! Inzwischen habe ich fast alle Planeten des Xyn-Systems angeflogen. Außer die beiden Gasplaneten Oodis und Tauri natürlich. Eine Landung dort ist sowieso nicht möglich.“

Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihn vorwurfsvoll an. „Wie bitte? Wieso hast du nie davon erzählt?“ Das gehörte also zu den Dingen, die er während der Zeit trieb, in der wir uns nicht sahen. Noch nie hatte er sich dazu geäußert. Bis eben. „Da klapperst du alle Planeten des Sonnensystems ab und sagst nichts davon? Was für ein Freund bist du eigentlich?“

„Dein einziger! Sei froh, dass ich, was dieses Thema anbelangt, bereits ein erfahrener Fuchs bin. Nur so ist es möglich, eine Starterlaubnis nach Rantao ohne Geleit zu bekommen.“

„Verstehe ich das richtig? Sie lassen dich also ganz alleine fliegen?“

„Korrekt. Keine Panik, der Anflug ist genauestens vorprogrammiert, ich selbst muss nicht die Welt von Raumfahrt verstehen, um den Gleiter unbeschadet nach Rantao zu bringen. Er würde auch ohne jede Besatzung dorthin finden.“

„Aber nach Rantao wollen wir doch eigentlich gar nicht, oder?“ gab ich zu

bedenken.

An dieser Stelle zögerte der kleine Toorag, bevor er sich zu einer Antwort entschloss. „Ich schon. Du aber nicht. Ich setze dich unterwegs auf Sahul ab. Danach werden sich unsere Wege trennen. Du bekommst deinen Willen – und ich meinen.“

„Dann wird diese Reise unsere erste und letzte sein?“

„So sieht es aus. Überlege es dir gerne noch, du hast dafür…“

Ohne zu zögern fiel ich ihm ins Wort. „Da gibt es nichts zu überlegen, Gowindi! Sag wann es losgeht, ich bin bereit. Jederzeit!“

Und genauso meinte ich es.

Kalaipa - Die Jack Schilt Saga

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