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Kapitel 4: Vier Blinde und ein Elefant

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Oma war in der Küche. Sie filterte sich frisch gemahlenen Kaffee. Das Pfeifen des Teekessels auf dem Gasherd hatte meine Träume abrupt unterbrochen. Ich rieb mir die Augen. Ich hatte gut geschlafen. In mir glimmte noch ein warmes Gefühl von Südsee.

„Hallo Oma!“, rief ich fröhlich in die Küche herüber. Sie kam, drückte mir die Zahnbürste in die Hand und begleitete mich zur Morgenwäsche ins Bad. Als ich mich wusch, machte sie uns ein Frühstück. Danach holte Vater mich mit dem Auto ab. Es war Sonntag, und so ging es in die Messe.

Die Josefskirche in der Hammer Straße war bis auf den letzten Platz belegt. Links saßen die Männer, rechts die Frauen. In einer der letzten Reihen erkannte ich meinen Freund Ewald. Er saß bei seinen Eltern. Vater blieb wie immer mit mir am Hinterausgang, hinter der hintersten Reihe stehen. Er drückte mir mein Kinder-Messbüchlein in die Hand. Der Priester und die Messdiener zogen grad ein, und Vater öffnete sein Laudate, Lied 318.

„Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren!“, hallte es zum Orgelklang durch das mächtige Gewölbe der großen Kirche. Die Gemeinde sang eifrig mit, und die Eingangsprozession näherte sich den Altarstufen. Der Pastor klatschte in die Hände, und die Messdiener und er machten gleichzeitig ihre Kniebeuge, um daraufhin die Stufen zum Altar hochzuschreiten. Durch die Kirchenfenster strahlte die Morgensonne, und ihre glänzenden Strahlen erfüllten den weiten Raum.

Ich öffnete mein Messbüchlein. Brav betrachtete ich die Bilder, und als der Pastor seine Predigt hielt, sah ich auf und hörte zu. Er erzählte eine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe. Es waren einmal vier Blinde, sprach er, die wollten erfahren, was ein Elefant ist. Sie konnten ihn nicht sehen, aber der Elefantenführer hatte sich bereit erklärt, ihnen eines der Tiere zuzuführen, dass sie es befühlen konnten. Die vier Blinden näherten sich dem ruhig dastehenden Tier. Einer umfasste eines seiner Beine. Ein Zweiter – er war etwas kleiner – befühlte von unten seinen Bauch. Der dritte Blinde hob die Hand und sie geriet ihm in den Rüssel des neugierig schnuppernden Dickhäuters. Der Elefantenführer rief ihnen zu, es sei groß und grau, doch mit der Information „grau“ konnten die Blinden nichts anfangen. Der vierte Blinde fürchtete sich daraufhin, und um von dem großen Tier nicht zertreten werden zu können, stellte er sich neben den Elefantenführer. Dieser reichte dem Tier ein Stück Brot. Der Elefant schwenkte seinen Kopf. Dabei wedelte er mit den Ohren, und der vierte Blinde spürte den dadurch verursachten Windhauch.

„Wie fandet ihr den Elefanten?“, fragte der Elefantenführer hinterher. Der erste Blinde, der seine Beine umfasst hatte, äußerte sich erstaunt darüber, dass ein Elefant wie ein Baumstamm sei oder eine große Säule, bedeckt von einer weichen, warmen Lederhaut. Der Zweite widersprach und sagte: „Nein, ein Elefant ist wie eine große, runde Kugel, die über uns schwebt. Er kann vermutlich fliegen.“ Der Dritte lachte und sprach: „Nein, keine Kugel – er ist wie eine Röhre, aus der warme Luft kommt. Und er ist schleimig und feucht, nicht lederartig.“. Der Vierte sagte gar nichts, und als der Elefantenführer ihn nochmals nach seinem Eindruck fragte, antwortete er: „Er muss wie ein Windhauch sein, der vom Himmel kommt. Mehr kann ich nicht sagen.“

Vielleicht ist es wirklich so, dass wir Menschen immer nur einen kleinen, ganz kleinen Teil von der Welt wahrnehmen, dachte ich. Von der Wirklichkeit kann uns doch nur das bewusst werden, was wir wahrnehmen. Wir erkennen nur den kleinen Teil der Welt, der mit uns und unseren Augen und Ohren direkten Kontakt hat. In fernen Ländern und Welten und im Himmel passiert also ganz viel, was uns nicht bekannt oder bewusst wird.

Der Pastor bezog die Geschichte auf den lieben Gott, den wir ja auch nicht sehen können. Er meinte, dass jeder Mensch eine andere, ebenfalls berechtigte Vorstellung von Ihm habe. Er erzählte auch noch kurz etwas von Schrödingers Katze. Dieser Schrödinger war komisch. Er hatte sie in eine Kiste gesteckt – mit etwas Gift. Das war in einer zerbrechlichen Flasche. Die Kiste wackelte und er wusste nicht, ob die Flasche nun zerbrochen und die Katze tot oder lebendig war. Warum hat er seine Katze in diese Kiste gesperrt?, fragte ich mich. Ich verstand auch nicht, was die arme Katze mit den Elefanten zu tun hatte. Aber vielleicht gehörte sie ja auch dem Elefantenwärter, und der hieß dann wohl Schrödinger?

Nach der Predigt mochte ich meinen Vater dann nicht mehr nach der Elefantengeschichte fragen. Irgendwie war das Ganze auch seltsam und es beschäftigte mich sehr. Jeder weiß wohl immer nur ein ganz kleines Bisschen von der Welt. Wie viel mehr würden wir wissen, wenn wir mal wen träfen, der von der Welt ein ganz anderes Stück kennen würde. Er hätte eine ganz andere Sicht vom Universum als wir, und durch den Austausch würden wir dann von der Welt viel mehr erfahren und erkennen – so wie die Blinden von dem Elefanten. Am liebsten hätte ich Vater gefragt, ob es denn sein könne, dass die Welt ganz anders ist, als wir sie sehen und ob es noch unsichtbare Dinge gibt oder eine andere, unsichtbar Welt, über die wir etwas Neues erfahren könnten (oder mehrere). Doch Vater redete nach der Messe mit den Leuten aus dem „Elternkreis Acht“, mit dem es nächste Woche eine E8-Radtour zum Haus Rüschhaus geben sollte – eine „Pättkestour mit den Leezen“, wie Opa gesagt hätte. Nur gut, dass Ewald und Horst da mitkommen würden. Nur mit Erwachsenen, das wäre viel zu langweilig geworden.

„Und? Wie war es bei Oma Lotte?“, fragte Mutter, als wir zuhause ankamen.

Sie hatte das Essen fertig. Es gab Sauerbraten, und auch sie war etwas sauer, denn Vater war etwas spät. Er war ja nach der Messe mit mir noch in seine Gaststätte gegangen, in der er am Sonntag immer seinen Frühschoppen nahm. Ich hatte eine Regina bekommen und leckere Erdnüsse, Vater sein Glas Pils. Eine Viertelstunde später gab Vater dem Wirt der Gaststätte zwei Mark und ein paar Groschen, nahm mich an der Hand und ging heim. Ich war bester Laune – ich liebte Regina-Brause und Erdnüsse – und schwärmte Mutter von Omas Familiengeschichten vor und erzählte ihr meinen Traum.

„Oh, du magst diese Geschichten? Weißt du, auch meine Großeltern haben ihre Vorfahren, und wenn du magst, kann ich dir auch von deinen Vorfahren mütterlicherseits etwas zeigen. Wir stammen nämlich nicht aus Ostdeutschland und Münster“, erklärte sie. „Wir sind aus Ostfriesland – und aus dem Harz.“

Ich entledigte mich meiner Schuhe und meines Mantels und setzte mich an den Küchentisch. Dann erzählte mir Mutter ihre Familiengeschichte, von Opa Willi, der im Krieg gefallen war, und Oma Hanny, die aus Ostfriesland in den Harz gekommen war, an den Brocken.

„Was für ein Brocken?“, fragte ich verdutzt.

„Das ist ein hoher Berg. Er legt jetzt an der Grenze zur Ostzone.“, erklärte Mutter.

„Und da ist ein Felsbrocken drauf?“

„Nein, der Berg heißt so. Er ist ganz schön hoch, und um ihn herum ist der Harz. Das ist ein Mittelgebirge mit Wäldern.“

Mutter erzählte von ihrem Vater aus dem Harz. Sie sagte, er sei im Krieg in Polen gefallen, weil er Deutschland verteidigt habe. In Crossen an der Oder. Sie erzählte aber nie, was er im Krieg genau gemacht hatte. Ich kannte sein Bild aus dem Fotoalbum. Er stand mit der Familie im Garten, zuhause auf einem Heimaturlaub. Mutter war das Mädchen neben ihm mit den langen, blonden Zöpfen. Opa Willi war aus Polen heimgekommen. Er hatte noch seine Soldatenuniform an.

Kaplan Dytko hatte uns Messdienern einmal erzählt, dass die Nazis im Krieg unschuldige Juden grausam getötet hätten. Clemens August Kardinal von Galen, der Bischof von Münster, habe mutig gegen die Ermordung von geistig Behinderten protestiert, und wohl auch gegen die von Juden in Polen und auch in Deutschland. Mutter sagte dazu immer nur: Das haben wir nicht gewusst. Das waren wohl nur Gerüchte. Ich erzählte ihr, dass bei uns in der Hochstraße aber eine Frau wohnte, die in der Schule einmal einen Vortrag über Israel gehalten hat und vor dem Westfälischen Frauenring im Pfarrheim. Sie hat erzählt, man habe die jüdische Gemeinde in Münster habe auch für den Fonds „Kinder- und Jugendalija“ um Spenden gebeten und für den Jüdischen Nationalfonds Keren Kayemeth Leisrael, der den Wüstenboden in Israel fruchtbar machen will. Im Juni, als dieser Sechs-Tage-Krieg ausgebrochen war, sei noch so eine Sammelaktion gewesen. Und sie hat erzählt, dass sie vor der Gründung Israels in einem Konzentrationslager gewesen ist, in der Stadt Auschwitz in Polen.

„Ja, da ist so entsetzlich viel Schlimmes passiert im Krieg“ sagte Mutter und senkte den Blick. „Aber das haben wir nicht alles gewusst.“.

Ich entschloss mich, Nachforschungen anzustellen. Ich wollte wissen, wer meine Vorfahren waren und was sie so erlebt haben. Ich legte einen Aktenordner an – mein genealogisches Archiv. Mutter gab mir einen Stammbaum, einen „Ariernachweis“. Da waren in Sytterlinschrift die Geburts-, Hochzeits- und Strebedaten meiner Groß-, Ur- und Ururgroßeltern verzeichnet, und ein amtlicher Stempel. Ich bekam von Vater eine Rolle Pausch- oder Pergamentpapier, nahm meinen Schulfüller und malte alle Daten nach. Ich fragte mich, ob das wohl ein „Ariernachweis“ war, den Opa Willi gebraucht hatte – oder ob er von der Hochzeit meiner Eltern war. Sie hatten in Bayern geheiratet, in einer Kapelle St. Bartholomä am Königssee. Mutter war evangelisch und Vater katholisch, und ihre Eltern waren gegen die Heirat gewesen, weil sie konfessionsübergreifend war. Also hatten meine Eltern heimlich geheiratet und kamen aus dem Urlaub als Ehepaar wieder. Da muss Opa Benno wohl richtig geschimpft haben, aber dann wurde es doch akzeptiert.

In den folgenden Wochen schrieb ich an Kirchämter, deren Adressen ich in Telefonbüchern aus Telefonzellen finden konnte – und im Postamt an der Josefskirche und am Bahnhof. Ich wählte einfach die Orte aus, an denen die Vorfahren gelebt hatten, deren Eltern nicht mehr in diesem Stammbaum verzeichnet waren. Ich schrieb, ich betreibe Stammbaumforschung und bat um Auszüge aus Tauf- und Sterberegistern. Ab 1871 ging alles über die Standesämter, aber für die Zeit davor waren Kirchen die Informationsquellen. Ich fand zum Beispiel einen Hinweis auf Geburtsdaten von Vorfahren in Leer und Weener schrieb die dortigen Kirchenämter an. Ein Pastor Ringena aus Ostfriesland schrieb mir ein paar Tage später zurück. Er schickte mir ein paar Auszüge und wünschte mir, ich möge in Jesus bleiben und fest im Glauben. Später bekam ich sogar einen Brief aus der DDR. Er kam von einem Pastor, der mir Tauf- und Heiratsregisterauszüge abgetippt und beurkundet hatte – von einem „Strumpfwarenfabrikant allhier“ aus Senftenberg oder Hoyerswerda. Als Dankeschön bat er um ein Päckchen mit Kaffee, das ich in die DDR schicken sollte. Ich verstand erst nicht, warum er Kaffee zugeschickt bekommen wollte, aber Mutter erklärte mir, dass es in der Ostzone keinen Kaffee zu kaufen gab. Dein Vater ist Büromaschinenmechanikermeister. Der ist immer zur Leipziger Messe gefahren, über die Transitstrecken. In den Intershops waren sie ganz wild auf unser Westgeld. Sie habe auch selbst einmal ihre Bekannten in Karl-Marx-Stadt besucht. Die gehörten zu den Zeugen Jehovas und wurden in der DDR verfolgt.

So wie davor auch im 3. Reich, dachte ich. Ob Mutter sie deshalb wohl unterstützt und ihnen Lebensmittelpakete schickt und dafür DDR-Briefmarken zurückgeschickt bekommt, die sie in diesen Briefmarkenalben sammelt?

Mutter erzählte weiter, sie habe ihren Bekannten einmal Bananen und Orangen mitgebracht, weil es sie dort ebenso wenig zu kaufen gebe wie Kaffee. Dort seien ja immer nur leere Regale in den Läden in Karl-Marx-Stadt, und lange Schlangen davor. Man kaufe dann eben, was es gerade dort gebe. Und später tausche man es ein gegen das, was man gerade brauche.

„Und stell dir vor“, sagte sie, „die haben dann in die Bananen und Apfelsinen einfach so reingebissen. Die haben gar nicht gewusst, dass man sie erst schälen muss!“

Was ich nicht wusste war, dass die Stasi die Post öffnen ließ. Sie wusste von Mutters Tauschhandel, und nun auch von meiner Informationssuche und den Kontakten zur Kirche. Ich geriet in ihr Visier – es reichte ihren informellen Mitarbeitern und Bürospitzeln aus, für einen Anfangsverdacht wegen Spionage und Kontaktes zu oppositionellen Gruppen. Schließlich hatte es wohl Kirchenleute östlich vom Harz gegeben, die Ausreisewilligen zur Flucht über die Grenze verholfen hatten.

Der Schwarm aus Flugkörpern, die der Lichtblitz beschleunigt hatte, verließ das Sternsystem, aus dem er gekommen war. Die geheimnisvollen Flugkörper rollten ihre Sonnensegel wieder ein und fuhren sie in ihr Inneres. Sie verschlossen ihre Öffnungen. Jetzt sahen sie aus wie Tetraeder – regelmäßige Körper mit Flächen aus gleichseitigen Dreiecken. Andere hatten die Form von Hexaedern, regelmäßigen Körpern mit sechs Dreiecksflächen mit neun Kanten und fünf Ecken. Wieder andere waren oktaedrisch und hatten acht Flächen und drei Ecken. Die größten Einheiten des Schwarms glichen Kugeln, deren metallische Oberflächen teilweise auch Fünf- und Sechsecke aufwiesen – Strukturen, die den fußballförmigen Molekülen einer besonderen Art von Kohlenstoff-Molekülen ähnelten. All diese fremden Körper passierten einen weißen Zwergstern. Seine Raumkrümmung vervielfachte ihre Geschwindigkeit. Dann schaltete der fremdartige Schwarm seine Mikrocluster voll künstlicher Superintelligenzen aus, in eine Art Schlafmodus. Und die Flugkörper gleiteten durch das tiefkalte, pechschwarze All. Ihr Schwarm war auf Kurs.

Das Anden-Artefakt. Eine historisch-phantastische Erzählung

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