Читать книгу Das Anden-Artefakt. Eine historisch-phantastische Erzählung - Michael Wächter - Страница 9
Kapitel 3: Das Licht am Südseehimmel
ОглавлениеIch blickte auf. War es damals wirklich so? Habe ich mir die märchenhafte Begegnung mit der Prinzessin gerade so vorgestellt? Oder war ich eingeschlafen und hatte sie geträumt? Ich wunderte mich, denn diese Sprache – das „Sächsische“ – kannte ich nicht. Ich hatte mir die Begegnung mit der Prinzessin wohl nur ausgemalt – und ihre Verheißung von einem Ding aus einer anderen Welt. Ich musste an Opa denken, der im Zeppelin geflogen war und auch in alten Flugzeugen. Er schwebte über den Fronten und sah unten auf dem Boden die Kämpfe – weit unten, wie in einer anderen Welt. Und ich dachte an Omas Bruder und seine weite Schiffsreise in die Neue Welt, nach Argentinien. An fremde Länder und ihre Bewohner, völlig fremde Welten.
Dann schlief ich ein. Doch mein Gehirn arbeitete weiter (Es ist ja manchmal so, dass etwas verborgen geschieht. Es scheint inaktiv zu sein, und ohne dass wir es wahrnehmen, geschieht dann doch etwas – ohne uns bewusst war, dass da etwas kommen wird). Und plötzlich war ich auf einem Schiff statt im Zeppelin, und weitere acht Jahrzehnte zurück in der Vergangenheit – in einer Zeit, die mehrere Jahre vor der Geburt von Johann Gottlob Säuberlich dem Jüngeren lag, diesem Rittergutspächter zu Skada. Das Schiff, auf dem ich stand, war in der Südsee. Ich war wie ein unsichtbarer Geist, der eine Mannschaft von Entdeckern fremder Welten begleitete.
Joseph Banks stand in diesem Moment an Deck und genoss die milde, warme Abendluft der Südsee. Er war ein angesehener Mann, hoch gelehrt. Und er hatte ein Vermögen von zehntausend Pfund bezahlt, um an der Expedition auf der Endeavour teilnehmen zu können. Es war Abenddämmerung, der 11. Juni 1770. Banks blickte in Richtung Sonnenuntergang. Er nahm Sturmtaucher und Albatrosse wahr, und neue, unbekannte Arten von Seevögeln.
„Hoffentlich geht es bald wieder nach Süden!“, dachte Banks. „Bestimmt gibt es noch so viele neue Arten von Lebewesen zu entdecken, wenn wir den Südkontinent erst einmal erforscht haben.“.
Ein Poltern riss ihn wurde aus seinen Träumen. Hermann Diedrich, sein junger Sekretär, kam an Deck. Er wurde von Daniel Solander begleitet, dem schwedischen Botaniker, der Charles Green im Schlepptau hatte. Die gelehrten Herren hatten beschlossen, ihre wissenschaftliche Konversation an Deck der HMS Endeavour fortzusetzen. Ihre Diskussionen lenkten Banks von seinen Träumen ab.
„Ja, ich sage Ihnen, es stimmt: die Sonne muss drei Mal so weit entfernt sein von uns wie die Venus!“, rief Green erregt. Green war als Astronom an Bord. Er hatte die Messung auf Tahiti vorgenommen, letztes Jahr am 3. Juni.
Banks schwieg beeindruckt. Er dachte darüber nach, ob es auf der Venus wohl auch unbekannte Arten von Tieren und Pflanzen geben könnte. Er wollte Green und Solander nach deren Meinung dazu befragen, doch dann dachte er wieder an seine Aufgabe. Er sollte zunächst einmal die auf dieser Expedition neu entdeckten Tier- und Pflanzenarten zu beschreiben, nicht spekulieren. Gerade wollte er Diedrich ein paar Gedanken zur Niederschrift diktieren, da unterbrach ihn Solander.
„Hoffentlich hat der Smutje heute was ordentliches gekocht!“, brummte der Schwede. Er hatte einen Mordshunger bekommen, und er war froh, dass sie nicht nur Seemanns-Rationen bekamen. Täglich nur ein Pfund Schiffszwieback, Pökelfleisch, ein Schlag Erbsenbrei und eine Gallone Bier, das wäre absolut nicht sein Fall gewesen.
„Gehen wir!“, schlug Green vor.
„Ja!“, antwortete Solander erleichtert. Er blickte zu Banks rüber.
„Ja, gehen sie nur!“, knurrte dieser. „Ich bleibe noch kurz an Deck!“
Solander, Green und Diedrich wandten sich von der Reling ab und wollten unter Deck gehen. Banks war froh, wieder seine Ruhe zu haben. Er blickte über die Reling zu den Seeleuten herüber. Der Mann am Senkblei fischte Seegras vom Senkblei. Ein treibendes Holzstück zeigte ihm, dass Land in der Nähe war. Die Männer fluchten, dass sie die Meerestiefe schon wieder ausloten mussten – Kapitän Cook war wie besessen hinter den Messwerten her. Zwei Jahre schon waren sie auf See. Sie wollten endlich wieder heim, oder zumindest zurück nach Tahiti. Aber Cook befahl immer wieder, nordwärts abzusegeln und die Ostküste Neuhollands zu vermessen. Er wollte seinen kartographischen Beweis für die Existenz des Südkontinents, unbedingt. Die Crew jedoch murrte immer lauter.
Banks hörte, wie die Seeleute über ihre Essensrationen maulten, immer nur Schiffszwieback, Pökelfleisch und Bier. Sie widerten ihn an. Er musste daran denken, wie Cook einige von ihnen hatte auspeitschen lassen, weil sie die Tahitianerinnen vergewaltigt hatten, doch sie taten es immer wieder. Bei jedem Landgang. Banks hatte einen von ihnen gefragt, warum sie das tun. So lange es dafür vom Kapitän immer wieder die gleiche Strafe gab, hatte er ihm geantwortet, fanden sie das nur fair. „Pack!“, schoss es Banks durch den Kopf. Ihm fiel der Sekretär ein, dem Einige aus der Crew im Streit beide Ohren abgeschnitten hatten. Cook hatte auch diese Tat verurteilt, einige Tage bevor sie dann tatsächlich „Neuholland“ entdeckt hatten.
Banks gähnte. Er verließ die Reling. Er entschloss sich, den anderen Gelehrten zu folgen. Green, Solander und die Anderen lagen bereits satt und müde in ihre Kojen. Sie schliefen tief. Es war eine ruhige Nacht. Leutnant John Gore stand zur Nachtwache an Deck. Er ließ die Männer weiterhin ausloten, welche Untiefen es gab, und freute sich auf den Schichtwechsel. Er war auf Order des Kapitäns für den an Durchfall erkrankten Maat eingesprungen, und jetzt endlich ging dieser Einsatz vorüber. Pflichtbewusst sah er noch einmal über die Reling. Diese verfluchten Untiefen! Da plötzlich nahm er im Wasser etwas wahr, was dort absolut nicht hätte sein dürfen. Das Blut schien ihm in den Adern einzufrieren. Er erstarrte vor Schreck. Er brauchte ganze vier Sekunden, um sich von dem Schock erholen und wieder Luft holen zu können, dann aber atmete er so tief ein, wie er konnte, und schrie sich fast die Seele aus dem Leib.
„Volle Kraft zurüüückk! Segel streichen! Wir laufen auf Gruuunnd!“
Gore presste seine Meldung nach Leibeskräften aus der Brust, brüllte aus voller Kehle, – doch es war zu spät. Schon erbebte das Schiff. Ein heftiger Ruck erfasste ihn, ein krachendes Geräusch erfüllte den Rumpf. Leutnant Gore wäre fast über die Reling gefallen, hätte er sich nicht im Schreikrampf festgekrallt. Banks, Green, Solander und Dr. Sullenburg fielen aus ihren Kojen. Dann noch ein Poltern. Eine Gruppe von Seeleuten oben an Deck hatte den Halt verloren und war zu Boden gefallen. Kapitän Cook stürzte in Nachtkleidung an Deck.
„Was ist passiert?“, brüllte er und stürmte zur Reling. Er klammerte sich an ihr fest, beugte sich vor und erstarrte vor Entsetzen. Ein Korallenriff. Die HMS Endeavour, das Flaggschiff der Südsee-Expedition, war auf Grund gelaufen. Nun schien das Schiff verloren – die ganze Expedition drohte plötzlich zu scheitern, die Karten, die naturwissenschaftlichen Proben aus der Neuen Welt, die Berichte vom Venustransit, die Crew: Alles war in Gefahr!
Unter Deck war Gebrüll, die Männer aus ihren Kojen stürzten an Deck.
„Wassereinbruch unter Deck!“, brüllte Gore erregt. „Wir sinken!“
„Kanonen und Ausrüstung über Bord!“, befahl Cook.
Nun hasteten auch Banks und Green an Deck. Verständnislos sahen sie den Kapitän an.
„Wir müssen die Endeavour um jeden Preis wieder flott machen – oder wir sind dem Tode geweiht!“, brüllte er ihnen zu.
Die Crew schmiss hastig allen Ballast von Bord. Bloß nicht sinken!
Das Schiff wurde leichter, kam los. Wasser drang unter Deck ein, immer mehr. Sie befanden sich bei Cape Tribulation, 23 Kilometer vor der rettenden Küste.
„Segel unter dem Schiff durchziehen!“, brüllte Cook. Er hatte sich auf diese alte Seemannslist besonnen. Das Segel wurde an Tauen unter den Rumpf des Schiffes gebracht, um den es sich legte. Der Wasserdruck schloss das Leck zumindest teilweise, und so konnten sie etwas weiter kommen, bevor die Endeavour volllief. Das Leck war fast wieder dicht, und das Schiff dümpelte vor der Küste. Cook ließ das Schiff auflaufen und auf die Seite kippen, und die Crew konnte das Loch im Rumpf flicken mit allem, was sie an Land fanden.
Am folgenden Tag, dem 12. Juni, saßen Banks, Green, Diedrich und Solander verzweifelt am Strand. Sie sahen den Schiffszimmerleuten bei ihrer Arbeit zu und hofften, dass ihr Flickwerk gelingt. Sie hatten doch so viel erreicht! Kap Hoorn, Tahiti, nun die erste Anlandung an der die Ostküste Neu-Hollands, jenes neu entdeckten Kontinents, den man später Australien nannte. Ihr 340-Tonnen-Flaggschiff lag da, leckgeschlagen am Strand. Ausgerechnet jetzt hatte sie ein Korallenriff außer Gefecht gesetzt, das wohl größte Riff der Erde. Wer sollte nun noch von ihren Expeditionserfolgen erfahren? Diese fremde Welt war doch zur Begeisterung der mitgereisten Botaniker voll von zahlreichen, neuen Pflanzen- und Tierarten. Kein Europäer hatte sie je zuvor gesehen. Und nun? Sollten sie jetzt hier festliegen, hier sterben? Es gab doch noch so viel zu entdecken …
Banks seufzte. Es war heiß, und Banks wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gwoya Unaipon, ihr Fremdenführer vom Stamme der Guugu Yimidhirr, saß etwas abseits von der Gruppe. Er blickte in Richtung des Abendsterns, der am Horizont aufgegangen war. Im schwindenden Abendrot neben ihm kaum sichtbar funkelte ein erster, kleiner Fixstern.
„Etwas Zitronenwasser zur Erfrischung?“, fragte Diedrich. Banks blickte auf, sah an ihm vorbei.
„Green, schauen Sie!“, rief Banks plötzlich aufgeregt, „dort auf der Lichtung!“
Astronom Green nahm sein Fernrohr, blickte in die Richtung, die Banks ihm wies.
„Was ist das?“, fragte er.
„Ich weiß nicht.“, gab Banks noch aufgeregter zurück. „Diese Tiere sehen ja aus wie riesige Hasen!“
„Echt seltsame Lebewesen hier!“
„Ob wir sie fangen können?“, fragte sich Green.
„Wie die hüpfen! Schauen sie!“
„Ja, und dort sind zwei, die sich treten oder zu boxen scheinen!“
„Ganz schön flink! Die kriegen wir wohl eher nur vor die Flinte, nicht ins Netz.“
„Auch gut, soll der Smutje sie verarbeiten – vielleicht schmeckt das Fleisch ja. Hasenbraten – neu-holländisch!“, lachte Green.
Banks rief Gwoya Unaipon, zeigte ihm einen dieser riesigen Hasen. Er war mausgrau, groß wie ein Greyhound.
„Gang-oo-roo!“ sagte Gwoya, „Känguru.“ Und er deutete mit einer Handbewegung an, dass man diese als Beutetiere essen kann, und es gelang ihnen, eines dieser Tiere zu erlegen.
Solander und Diedrich notierten ihr Erlebnis im wissenschaftlichen Tagebuch der Expedition. Neu-Holland war einev fremde Weltr. Es ist immer ein bedeutender Moment, wenn eine ganz neue, bisher unbekannte Art von Lebewesen entdeckt wird. In diesem Fall bedeutete es sogar eine willkommene Abwechslung auf dem Speiseplan der Crew. Cook ließ umgehend einige Männer mit Waffen auf die Jagd gehen. Gwoya Unaipon aber zog sich noch am selben Abend wieder zurück in den Busch. Es zog ihn in seine Welt zurück, zu den Seinen im Outback. Sie begrüßten ihn, und abends saß er im Kreis der Seinen am Lagerfeuer. Er blickte auf zu den Sternen. Ein wenig neben jenem Sternchen, das er am Vorabend neben dem Abendstern erblickt hatte, erblickte er das Aufblitzen eines weiteren, neuen Sterns. Ihm war fast, als würde er in verschiedenen Farben funkeln. Fasziniert starrte er in das Firmament, stieß die Seinen an und sie blickten in den Himmel. Und nach einigen Minuten erlosch das Sternchen wieder. Und alles, so schien es, war dort wieder ganz so wie zuvor. Doch war es das?
Als Kind hatte ich natürlich noch keine Ahnung von dem, was dieser Traum bedeutete. Jetzt, als Mann, weiß ich inzwischen, dass es ein solches Ereignis wirklich gab. Von ihm, von diesem Stern ging der Umbruch aus, der die Geschichte der Menschheit ändern sollte. Und der mich diesen Bericht verfassen ließ – von der unheimlichsten Entdeckung, die es in der Geschichte der Menschen je gegeben hat.
Damals hatte es tatsächlich einen gewaltigen Lichtblitz gegeben hatte, weit abseits unserer Welt. Er hatte einen künstlichen Ursprung. Er enthielt Radiowellen, sichtbares Licht und polarisierte Neutrinos. Er erstrahlte mit der Kraft einer Sonne, fast ein Dutzend Jahre, bevor Gwoya Unaipon ihn am Südseehimmel erblickte. Für einige Sekunden war er heller als seine Sonne. Er hatte einen kohärenten Strahl geformt und jagte durch den leeren Raum, mit der höchsten Geschwindigkeit, die es im Universum gibt. Fast ein Dutzend Jahre lang war er unterwegs gewesen, bevor ein winziger Rest dieses gewaltigen Lichtstrahls Gwoyas Augen erreichte, genau an jenem 12. Juni 1770, an dem Banks und Green eine neue, völlig unbekannte Art von Wesen entdeckt hatten – die „Känguruhs“. Ein Mega-Schwarm von Abertausend kleinen und großern Flugkörpern hatte die Energie des Lichtblitzes als Starthilfe bekommen, und jedes dieser winzigen, fremdartigen Objekte enthielt ein Mikrocluster aus künstlichen Intelligenzen. Der Lichtblitz hatte den Schwarm auf unvorstellbare Geschwindigkeiten beschleunigt. Und so gingen sie auf ihre lange, lange Reise, quer durch den interstellaren Raum.