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Kapitel 1: Omas Erzählungen

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Es begann damals im Januar 1968. Ich saß in Omas Wohnzimmer, unter diesem seltsamen, runden Tisch. Der weiß gekachelte Kohleofen verbreitete wohlige Wärme. Oma war in der Küche und der Teekessel pfiff. Ich hörte sie auf ihrer Marmor-Arbeitsplatte ein Stück Marmorkuchen für mich abschneiden.

Ich spielte unter dem Tee-Tisch im Wohnzimmer. Der runde Tisch war mit Messing beschlagen. Oma hatte mir, wie schon so oft, erlaubt, aus dem Schränkchen mit Glasfenstern unter der Tischplatte das hölzerne Kästchen zu nehmen. Es lag auf meinem Schoß und meine Kinderhände öffneten die kleine Schatztruhe. Ich nahm die Replik des westfälischen Friedensthalers, legte sie unter ein Blatt Papier und rubbelte ihn mit einem Bleistift durch. Sein Bild wurde auf dem Papier sichtbar: Die Engel, die Stadtansicht mit der Stadtmauer und den gepanzerten Soldaten, die sich die Hand reichten. „Monasterium Vestphae“ stand über den Kämpfern, die ich als Kind für Ritter hielt, und „P. O. R. – Pax Optima Rerum“– der Wahlspruch des Westfälischen Friedens.

Ich griff wieder in das Kästchen. Unter dem alten Notgeldstück lag mein liebstes Spielzeug. Es konnte Schrauben und Nägel anziehen, Büroklammern, Pfennigstücke und Heftzwecken – aber keine Messingschrauben oder Groschen. Auch der Friedensthaler und das Notgeldstück wurden nicht von ihm angezogen, aber am gekachelten Ofen blieb es hängen. Und an der alten Badewanne in Omas Badezimmer.

„Oma, was ist das eigentlich? Warum bleibt das an manchen Sachen immer hängen und an anderen nicht?“

„Das ist ein Magnet, Jensilein“, sagte Oma, und ich erfuhr, dass er Eisen anzieht und Nickelgeld.

„Und Schrauben auch, Oma, guck mal!“, ergänzte ich begeistert.

Oma sah mich an und lachte von Herzen, als sie mich spielen sah.

„Ist dieses Ding selber auch eine Schraube?“, fragte ich. „Und woher habt ihr das?“

Oma reichte mir noch ein Stück Kuchen. Er duftete.

„Das hat Opa von einem Freund bekommen. Und der hat es aus Russland. Du weißt ja, Opa repariert Schreibmaschinen. Vielleicht gehört dieses Magnetstück zu den Feinwerkzeugen, die man dafür braucht. Aber er kennt es auch nicht so genau, weil es nicht aus Deutschland ist, weißt du.“

Oma stand auf.

„Magst du noch einen Kakao, Jensilein?“

„Gerne, Oma“, gab ich zurück. Als Oma das Wohnzimmer verließ um Milch auf dem Gasherd warm zu machen, spielte ich wieder mit dem magnetischen Metallstück. Es sah wirklich irgendwie wie eine Schraube aus. Als Oma wieder aus der Teeküche zurückkam, durfte ich ihren Marmorkuchen kosten und den Kakao. Sie nahm ihre Schürze ab und setzte sich neben mich in den Sessel. Dann erzählte sie mir, wie Opa an diese Schraube gekommen war, und sie versprach mir, als Gute-Nacht-Geschichte etwas aus unserer Familienchronik vorzulesen.

„Gute-Nacht-Geschichte?“, jubelte ich?

„Ja, Jensilein. Deine Mammi hat mir gesagt, dass du heute hier übernachten darfst. Sie hat mir eine Tasche mitgegeben mit deinem Schlafanzug und deinem Teddy.“

„Juchhuh!“

Ich jubelte. Ich hätte vor Freude platzen können, denn oft kam das nicht vor. Mutter wollte mich immer zuhause behalten, im Kinderzimmer. Doch manchmal gab es eben Ausnahmen. Wenn es in ein Ferienlager ging, zum Beispiel, oder auf Klassenfahrt. Oder wenn ich mal bei Oma Lotte schlafen durfte oder Oma Hanny.

Heute war Oma Lotte dran. Sie machte mir Hühnerbollen zum Abendessen mit Kartoffeln, Apfelmus und Roter Beete. Sie trank hinterher immer den Saft von der Roten Beete, da ich ihn nicht mochte. „Der schmeckt gut“, sagte sie. „Und er enthält Mineralstoffe, die gesund sind!“.

Ich verstand nichts von Kalium und Kalzium. Ich wollte nach dem leckeren Essen lieber gleich die Zähne putzen gehen und den Schlafanzug anziehen.

„Aber warum willst du denn jetzt schon ins Bett?“, fragte Oma überrascht. „Es ist doch erst sieben Uhr?“

„Na, umso eher bekomme ich die Gute-Nacht-Geschichte von dir vorgelesen!“, blinzelte ich ihr zu.

„Du bist mir ja einer!“, lachte sie. „Ein ganz schlauer!“

Dann sah sie mich an. Sie stellte die Teller beiseite, die sie zum Abräumen aufgenommen hatte, und setzte sich neben mich.

„Weißt du was, Jens? Ich setze gleich Wasser auf, dann spülen wir jetzt zusammen und danach lese ich dir die Geschichte vor, wenn wir auf dem Sofa sitzen. Du brauchst noch nicht ins Bett gehen, um sie hören zu können.“

„Au ja.“

Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr ich strahlte. Zuhause las mir niemand Geschichten vor. Mutter machte die Küche, und Vater musste oft länger arbeiten. Er reparierte Schreibmaschinen. Mein Bruder und ich, wir mussten dann immer einfach so ins Bett gehen. Schlafanzug an, waschen, kurz zusammen zum Schutzengel beten und dann: Gute Nacht.

Heute war alles anders. Ich durfte das Besteck spülen und es abtrocknen, während Oma die Teller spülte. Als ich das Besteck in die Küchenschrank-Schublade einsortiert hatte, trocknete sie unsere beiden Teller ab. Ihre Schürze wedelte im Takt ihrer Handbewegung, als das Handtuch über die Teller huschte.

„Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass unsere Vorfahren von einem Rittergut kommen?“, fragte sie mich.

Ich staunte.

„Echt, Ritter? So echt mit Rüstung, Lanze und Eisenhelm wie im Mittelalter?“

„Nun ja, nicht ganz im Mittelalter. Das ist länger her. Nein, du hast in deinem Stammbaum einen Vorfahren, der war Pächter. Er verwaltete ein echtes Rittergut. Es lag Skada.“

„Skoda?“

„Nein, Skoda ist eine Automarke. Skada. Das war ein Dorf. Bei Senftenberg und Geierswalde. Das liegt in Ostdeutschland.“

Es schien spannend zu werden. Oma kam aus Ostdeutschland. Da war die DDR, und als Kind war für mich alles, was von dorther kam, geheimnisvoll. Schließlich lag das hinter der Mauer, und alle Erwachsenen redeten davon, dass da die Ostzone war und dass man erschossen wurde, wenn man versuchte, von dort aus über die Mauer in unsere BRD zu kommen. Oma kam aus Thüringen, doch ihre Vorfahren aus der Säuberlich’schen Linie waren aus der Gegend um Geierswalde und Senftenberg. Ich stellte mir einen Wald vor, mit Geiern.

„Geierswalde liegt bei Bautzen in der Lausitz, nahe Hoyerswerda. Das ist Brandenburg, fast schon in Sachsen – beim Spreewald.“

In meiner Phantasie kreisten die Geier über einer bewaldeten, hügeligen Gegend. Ritter jagten durch das Gehölz, Fasanen hinterher, und irgendwo im tiefen Wald gab es eine kleine Ritterburg. Sie hatte keine Türme und Mauern und glich eher einer Gaststätte. Es war ein kleines Rittergut.

Oma erzählte weiter. „Das Gut Lohsa wurde ab 1599 als Rittergut bezeichnet. 1836 ging es in den Besitz der Familie von Loebenstein über. Die verpachtete es dann an Carl August Säuberlich. Das ist mein Urgroßvater.“

Oma ging in die Küche und holte mir einen Traubensaft. Währenddessen erzählte sie weiter.

„Das Gut hatte ein Herrenhaus, Ställe, Scheunen und Wirtschaftsgebäude wie zum Beispiel ein Wirtshaus, eine Gaststätte. Es lag bei Steinitz. Der Ort ist umgeben von mehreren großen Wäldern. Im Osten sind die Driewitz-Milkeler Heiden, das größte unbesiedelte Waldgebiet der Lausitz. Da ist auch der Eichberg. Auf dem Eichberg ist ein Denkmal, denn da kämpften 1813 die Truppen von Napoleon. In dieser Gegend zwischen Bautzen, Senftenberg, Kamenz und Hoyerswerda leben auch die Weiden.“

„Weiden? Bäume?“

„Neinnein.“. Oma lachte. Sie schüttelte den Kopf.

„Das sind die Oberlausitzer Serben oder Sorben. Sie sprechen ihre eigene Sprache. Du könntest sie nicht verstehen. Sie nennen Lohsa auf Sorbisch Łaz, und Steinitz heißt zum Beispiel Šćeńca, das bedeutet: „Junger Hund“. Und da ist auch noch so ein Rittergut.“

Ich kostete den süßen Saft. In meiner Vorstellung kämpften die Ritter inzwischen in Eichenwäldern. In den bewaldeten Hügeln stellten sich ihnen Drachen und fremde Räuber entgegen, die sie erschlagen mussten, um ihre Güter zu verteidigen.

Oma reichte mir ein Büchlein. Ich las den Titel: „Stammbaum der Säuberlich’schen Familie, geschrieben von Carl August Säuberlich, Kruggutsbesitzer zu Geierswalde 1856.“

Ich nahm noch einen letzten, großen Schluck Traubensaft. Als ich das alte Büchlein von Oma vorsichtig öffnete, stieß ich auf ein Bild. Auf dem Bild war ein alter Mann zu sehen. Er hatte eine Krücke oder einen Gehstock in der linken Hand. Über den Schultern trug er einen schwarzen Umhang oder Mantel. Und er hatte einen echt strengen Blick.

„Das ist Carl August Säuberlich, Mutters Großvater“, erklärte Oma. „Er ist 1801 in Lohsa geboren worden und starb 1878 in Geierswalde. Sein Enkelkind Anna Elise war meine Mutter. Sein Vater Johann Gottlob Säuberlich der Jüngere war der Rittergutspächter zu Skada. Er wurde 1779 geboren – da waren die Vereinigten Staaten von Amerika gerade drei Jahre alt.“

Ist das lange her, ging es mir durch den Kopf. Fast schon bewundernd blätterte ich weiter in dem Buch. Währenddessen räumte Oma das leere Saftglas vom Tisch zurück in die Küche.

„Ach ja, Amerika.“ Oma seufzte sehnsüchtig träumend.

„Hab ich dir schon erzählt, dass mein Bruder in Amerika war? Aber er war in Südamerika, mit der kaiserlichen Marine bis nach Argentinien. Dafür ist dein Opa nicht nur mit dem Schiff in ferne Länder gefahren, sondern sogar geflogen. Er war im ersten Weltkrieg bei der Zeppelinbrigade und flog in Belgien über die feindlichen Linien, um Luftaufnahmen zu machen.“

„Er hat Luft fotografiert?“

„Nein, Soldaten. Die Truppenaufklärung hat nachgesehen, wo feindliche Soldaten sind. So weit nach oben konnten die nicht schießen. Später wurde er verwundet, war Weihnachten 1917 im Lazarett. Dann war er Kriegsveteran. Und er wurde Büromaschinen-Mechaniker, wie ein Vater. Er wurde Innungsmeister bei der Handwerkskammer. Er hatte sogar Handelsbeziehungen bis nach Russland. Von da kam die Schraube, mit der du vorhin gespielt hast.“

Oma zeigte auf mein magnetisches Lieblings-Spielzeug. Dann fuhr sie fort: „Und weil Schreibmaschinen zu kriegswichtigen Industriegütern gehörten, musste er im 2. Weltkrieg nicht mehr an die Front. Das war unser Glück.“

Ich lächelte verlegen. Ich war wirklich beeindruckt. Ich erinnerte mich an ihre Bilder aus dem Fotoalbum. Opa zu Pferde. Opa am Zeppelin. Opa in Uniform an der Feldküche auf einem Acker irgendwo in Belgien, von wo aus die Truppen bis nach Verdun gekommen waren.

Als ich weiterblätterte erläuterte Oma die jeweiligen Seiten aus der Familienchronik. Sie zeigte dabei immer auf die Abbildungen. „Das da ist meine Oma. Sie hieß dann Emilie Ernestine Säuberling. Sie war Carl August Säuberlich Tochter und hat dann 1863 den Strumpfwarenfabrikanten Friedrich Wilhelm Herz aus Senftenberg geheiratet. Und 1885 hat dann ihre Tochter Anna Elise Herz in Senftenberg meinen Papa geheiratet. Der hieß Otto Köller und kam aus Niederlahnstein. Er wurde 1860 geboren und war königlicher Civilsupernumerar, ein Privatsekretär seiner Majestät des Königs Wilhelm I von Preußen.“.

Mein Kopf drehte sich, als es ins Bett ging. Oma hatte mir so viel erzählt. Aber es war spannend, und so ließ ich mir vor dem Einschlafen noch mehr aus ihrer Chronik vorlesen. Das, wo dort eine Prinzessin auftauchte. Dieser Friedrich Herz aus Senftenberg, erzählte Oma, war ihr 1859 in Kamenz begegnet. Er hatte der durchreisenden Prinzessin und ihren Hofdamen eine Erfrischung reichen dürfen, und ihre Begleit-Dame Marie und sie hatten ihm dafür gedankt. „Möge Ihnen der liebe Gott dafür gewähren, dass auch sie oder ihre Nachkommen einst reizvolle Dinge aus einer anderen Welt dafür bekommen – Ihnen und Ihrem freundlichen Bahnmeister Friedrich Köller hier!“, hatte die Dame Marie im Auftrag der preußischen Prinzessin gesagt. Omas Augen glänzten. Sie erzählte, wie die Prinzessin ihrem Vorfahren und seiner Familie wohl etwas richtig Besonderes und Nettes gewünscht haben muss, als sie ihm in diesem Eisenbahnwaggon begegnet war. Oma versprach mir, dass es sich bestimmt noch erfüllen werde.

„Und ich wünsch dir nun einen guten Schlaf, Jensilein. Und nun träum was Schönes!“

Oma verließ das Schlafzimmer. Ich machte es mir unter der Bettdecke bequem. Die Wärme umhüllte mich. Wie es wohl wirklich damals war?, dachte ich. Menschen sind ja so, dass sie etwas Erlebtes nachträglich ausmalen und mit Träumen und Wünschen ausfüttern, die sie haben. Ob aus dem netten Wunsch so wohl eine Art „Prophezeiung“ geworden war?

Ich konnte nicht einschlafen. Überhaupt nicht. Eine echte Prinzessin! So lag ich da, im Bett, und ich malte mir aus, wie das damals wohl gewesen sein könnte: Mein bürgerlicher Vorfahre war einer echten Kronprinzessin begegnet!

Das Anden-Artefakt. Eine historisch-phantastische Erzählung

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