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Kapitel 5: Die Eiskapelle

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Ich wurde ein richtiger Stammbaum-Forscher. Über meine genealogischen Nachforschungen fand ich eines Tages heraus, dass ich eigentlich gar nicht Jens Jedermann hätte heißen dürfen. Ich bekam nämlich eine Urkunde zugeschickt, die mir ein Pfarrer abgetippt hatte. Mein Ururururgroßvater väterlicherseits, so hieß es, geboren im Jahr 1782, hieß nämlich damals eigentlich Gerhard Henricus Dölken. Er war der Sohn von „Colonus“ (Bauer) Joan Bernard Dölken. In Laer hieß er später Bauer Große-Jedermann, denn er heiratet 17.3.1820 unter dem Namen Große-Jedermann die katholische Witwe und Bäuerin Anna Maria Große-Jedermann, eine geborene Lütke-Ausber aus Füchtorf. Das fand ich spannend. Früher ging sonst immer der Familienname des Mannes auf die Familie über – und selten der der Frau (Mein Ururururgroßvater mütterlicherseit hingegen war der 1792 geborene, evangelische Andreas Friedrich Güntgen, Maurer zu Sachsa im Harz).

Mein Vater war Büromaschinenmechaniker und –händler. Mein Großvater auch. Opa Benno musste deshalb nicht noch einmal im Zweiten Weltkrieg kämpfen. Die Büromaschinenfabrikation galt als kriegswichtige oder kriegsentscheidende Industrie. Opa und Oma hatten ihre Kinder deshalb mit der „Kinderlandverschickung“ in Sicherheit gebracht. Sie wurden zur KLV nach Bayern geschickt, in die Gegend von Berchtesgaden am Königssee. Oma erzählte, die „Reichsdienststelle KLV“ hatte bis Kriegsende über 2000000 Kinder evakuiert, um sie vor dem Luftkrieg in Sicherheit zu bringen. Die KLV-Lager waren umstritten. Bischof Clemens August Graf von Galen hatte im Hirtenbrief gewettert, die Kinder in den Lagern seien dort ohne jede kirchlich-religiöse Betreuung – was die Nazis als „kirchliche Gegenpropaganda“ abtaten. Klar, sie wollten die Jugend ja auch umerziehen. Berchtesgaden – von diesem Ort hatte Vater mir erzählt. Die Geschichte war richtig spannend, fast gruselig. Erst viel, viel später begriff ich, was sie mit meiner Entdeckung zu tun hatte.

Als Kind war ich mit meinen Eltern dort am Königssee im Urlaub. Wir waren beim Watzmann. Und im Salzbergwerk Berchtesgaden. Wir fuhren mit der Grubenbahn in das Schaubergwerk. Ich bekam einen Helm auf und einen Regenmantel an – „gegen das Salzwasser“. Die Loren ratterten über die Schienen nach unten. In der Lore vor uns saß ein Einheimischer. Er erzählte den mitfahrenden Gästen von Auswärts die Geschichte vom Salzbergwerk. Er brüllte fast, denn er kam kaum gegen das Rattern an.

„Mir san hia in Berchtsgoan (amtli: Berchtesgaden). Des is a Moakt gonz im sidestlichstn Zipfi vo Obabayern, middn im Hochgbiag unn glei in da Näh vom Keenigssää unn vom Watzmo.“

Bayrisch. Ich verstand nur Banhof. Naja, wenigstens teilweise. Eigentlich vertstand ich etwas Bayrisch, und sogar Plattdeutsch und etwas Murgtälerisch aus dem Schwarzwald von Tante Elfi. Aber sicherheitshalber übersetze Vater mir die Worte, die er mitbekam.

„Mid da Mochtiabanohm vo de Nationalsozialistn hot se in Berchtsgoan vui vaändat. Da Grund unn Bodn vom Obasoijzbeag is von eana teis unta an eaheblichm Druck erwoabn worn. Er is nachanzum Führersperrgebiet worn, mi'm Beaghof im Zentrum. Da iabadimensioniade Bohhof vo Berchtsgoan is a weidas Zeignis vo dera Afmandlarei.“, schnarrte der Lautsprecher.

Vater übersetzte: „Nach der Machtergreifung hat das NS-Regime den Obersalzberg zum Führersperrgebiet erklärt. Der Berghof lag im Zentrum davon. Das Kehlsteinhaus und der überdimensionierte Bahnhof Berchtesgadens sind von nationalsozialistisch geprägter Architektur. Die Reichskanzlei Dienststelle Berchtesgaden wurde zweiter Regierungssitz des Deutschen Reiches.“

Ich sah die nassen, kalten Wände, die abn uns vorbeizogen. Vater kam mit dem Übersetzen kaum nach. Der Bayer plapperte unverdrossenen weiter, wie ein Wasserfall:

„De oglastetn Ankäufe dera Nazis af'm Obasoijzbeag san natuagmäß net af groaße Gengliab g‘stoßn. Da Widastond geng des Naziregime hot se in Grenzn g‘hoijtn. Zum Doud varuatejjta, spada af Lemnslong begnodigta, woa da Kriß Rudolf, a Regimekritika Berchtsgoana Heakunft. Era hot seinazeid in Wean oijs a Privatdozent an Leahstuij inneghobt hot unn 1938, glei noch'm Oschluss, a Leahvabot ausgsprochan kriagt. De Berchtesgoana Weihnachtsschitzn soans aa no bei da Entnazifizierung oijs widastondsähnliche Gruppn eihgstuft worn, wenga iahra Hintatreibung vo de nazistischn Rituale.“

Vater erklärte es mir. Es gab hier die Berchtesgadener Weihnachtsschützen. Sie hatten sich gegen eine Vereinnahmung ihres Brauches durch die Nazis und gegen die Auflösung des Franziskanerklosters gewehrt. Der Vereinigungsvorstand wurde daraufhin als einziger Berchtesgadener Postbeamter zur Wehrmacht eingezogen, der Ehrenvorsitzende Rudolf Kriß wurde wegen regimekritischer Äußerungen zum Tode verurteilt. Später wurden die Weihnachtsschützen als widerstandsähnliche Gruppe anerkannt.“

Der Mann in Lederhosen erzählte weiter, vom Angriff auf den Obersalzberg.

„De Alleiatn hom om 25. Aprui 1945 af an Luftogriff af'n Obasoijzbeag g‘mocht. Da oschliaßande Obzuag vo de no in Berchtsgoan vabliabanan NS-Spitzn hot de Voaraussetzung fia de kompflose Iabagob on de Amerikana gschoffn.“

„Der Abzug der bis dahin noch verbliebenen NS-Spitzen machte die kampflose Übergabe an die Amerikaner möglich.“, übersetzte Vati.

“Berchtsgoan is vo nam Vabond aus US-Truppn unn a boa Franzosn om 4. Mai 1945 bsetzt worn. Er hot kuaz draf den oijs Hitlergegna bekonntn Berchtsgoana Kriss Rudolf zum easchtn Buagamoasta bruafa.“

Vati verstummte.

„Vati, was ist?“, fragte ich.

„Dr Dokter Eugen Fischer, aa bekonnt unta seim Pseudonym A. Helm, war Geolog unn Historika vo Berchtsgoan.“, fuhr der Einheimische fort.

Vater sah mich an.

„Vati, was ist?“

„Ich musste grade an etwas denken, was uns damals im Krieg passiert ist – kurz bevor wir uns nach Hause zurück nach Münster durchgeschlagen haben.“

Er war bedrückt. Sein Antlitz verfinsterte sich.

„Was war da?“, hakte ich nach.

„Es war fürchterlich – und so seltsam.“

Vater kämpfte. Er wollte nicht reden, und doch erzählte er mir weiter. Stoßweise, Satz für Satz.

„Da sind wir in die Höhle geflüchtet. Und einer von uns wurde erschossen.“

Hier im Salzbergwerk in eine Höhle?, fragte ich mich.

Vater jedoch wurde erneut still. Dann plötzlich kam es aus ihm heraus, und ich bekam einen Einblick in seine Jugendzeit, dessen Zusammenhang mit meiner Entdeckung ich erst Jahrzehnte später verstanden habe.

„Es war eine Eishöhle, nicht hier im Salzbergewerk, sondern oben am Watzmann.“, sagte Vater, als ob er meine gedachte Frage gehört hätte. „Weißt Du, es gibt hier tolle Eishöhlen. Zum Beispiel die Schellenberger Eishöhle. Wir waren da mal auf einer Bergtour. Sie liegt im Schellenberger Forst, nahe der österreichischen Grenze. Aber Österreich war ja damals eingegliedert worden.“

Vater kam von dem ab, was er mir von der Eishöhle beim Watzmann erzählen wollte. Ich ließ ihn diesen Abschweifer machen. Ich spürte er brauchte ihn, um dann zu seinem Erlebnis zurückzukommen. Die Fahrt in das Salzbergewerk hinab würde eh noch dauern.

„Wir waren damals so fertig. Die Schellenberger Eishöhle hatten wir nur nach einem vierstündigen Fußmarsch erreichen können. Zum Glück durften wir Pausen einlegen. Zehn Jahre vorher hatten Arbeiter unter der Leitung von einem Thomas Eder einen Felsensteig gebaut. So konnten auch wir den Höhleneingang besser erreichen. Der Weg führte von der Mittagscharte über Treppen und Tunnel hinab zum Eingang der Eishöhle. Das war ein Höhenunterschied von 130 Metern. Unterhalb der Eishöhle lag eine Schutzhütte, wo der Toni Lenz wohnte. Hier durften wir ausruhen, bevor es in die Höhle ging. Von der Hütte aus waren es noch etwa 20 Minuten Fußmarsch zur Eishöhle. Dann ging es zum Eingang. In der Höhle gab es dann auch kein elektrisches Licht so wie hier im Salzbergwerk. Wir hatten Karbidlampen. Das Eis der Höhle bildet sich hier teilweise im Frühjahr neu. Es sieht dort aus wie in einer Tropfsteinhöhle. Wir waren einmal dort. Der Höhleneingang war etwa 20 Meter breit und bis 4 Meter hoch.“

Vater erzählte weiter. Sein Atem kondensierte.

„Dahinter zog sich ein schneebedeckter Schutthang nach unten bis zum Bodeneis der Josef-Ritter-von-Angermayer-Halle. Sie war etwa 70 Meter lang und bis sieben oder acht Meter hoch. Das Eis ist 30 Meter dick. Im Schein der Karbidlampen zur Ausleuchtung der Höhle sahen wir am Deckengewölbe einen großen Trichter. Aus dessen runden Erosionsgängen rieselt Wasser. Es bildete seltsame Eisfiguren. Von hier gingen mehrere Gänge ab. An der rückwärtigen Wand gingen wir über einen Steigbaum. Von hier aus führte nämlich ein Gang zu einer Nebenhöhle, in der viele Vogelknochen herumlagen. Das war gruselig. An der Decke war ein Schlot. Wir gingen über eine Holztreppe über den ersten Eisfall, den mit der Eisorgel, abwärts durch einen Gang, in dem links die Öffnung eines Schlupfganges zu sehen war, in dem die Wände immer mit Raureif überzogen waren. Er war 30 Meter lang und wir konnten ihn nur rutschend oder in gebückter Haltung durchqueren. Dann endete er an mehreren tiefen Wasserstellen. Über einen zweiten Eisfall ging es weiter nach unten, doch dorthin durften nur die Gruppen mit Höhlenführern, die eine Magnesiumfackel bei hätten. Im Lichte der Fackeln, so sagte uns der Bergführer, würden dann dort viele Eiskristalle an den Wänden glitzern und an der Decke, in weiß und grünlich-blau. Doch er hatte keine Fackel. Wir hörten stattdessen, dass es der Sage nach Kaiser Karl der Große war, der hier irgendwo in einer Höhle im Untersberg von Raben bewacht an einem Tisch aus Marmor saß und schlief. Als sein weißer Bart siebenmal um den Tisch gewachsen war, erwachte er wieder und vereinte allen Deutschen wieder, indem es ihnengelang, den Erbfeind zu vernichten und ein neues Reich zu errichten.

Es soll auch einen Mann aus Reichenhall gegeben haben, den Lazarus Aigner, der im Jahr 1529 von einem barfüßigen Mönch in den Berg geführt worden sei. Er sah dort Kaiser, Könige und Fürsten und gelangte durch unterirdische Gänge in den Dom von Salzburg. Als er wieder aus dem Berg geführt wurde, befahl ihm der alte Mönch, dass er erst nach 35 Jahren berichten dürfe, was er gesehen und erlebt hatte. Jede Stunde im Inneren des Berges war ein Jahrzehnt oder gar Jahrhundert in der Außenwelt, und im Berginneren gebe es die Untersbergmandln, kleine freundliche Wichte, die die Schätze dort bewachten.“

„Untersbergmandln? Das sind Märchen, oder?“

„Ja, weißt du, die erzählt man sich hier. Erinnerst du daran, wie wir im Zauberwald bei Ramsau waren?“

Ich erinnerte mich. Gut sogar. Es war letztes Jahr im Bayernurlaub.

„Den Wald, wo du sagtest, das sei ein richtig urwüchsigen Bergwald?“

Vater nickte.

„Gut Jens! Ja, das ist so ein aus riesigen Felsbrocken geformtes, wildromantisches Landschaftsstück. Mit dem durch einen Felssturz gebildeten Hintersee. Das abfließende Wasser sucht sich seitdem sein Rinnsal durch den Bergwald, und den nannte man Zauberwald.“

Vater legte eine Pause ein. Ich spürte, dass er jetzt Kraft gefunden hatte, über sein eigentliches Erlebnis zu berichten. Er holte noch einmal Luft, dann kam es. Jetzt erzählte er das Erlebnis, das ihn so bedrückte.

„Also, damals waren wir am Eisfeld unter der Ostwand vom Watzmann am Königsee – in der Eiskapelle. Wir gingen von der Bootsanlegestelle los, den Weg über den Eisbach zur Kapelle Sankt Johann und Paul. Danach wurde der Wanderweg steiler und durchquerte ein kurzes Waldstück. Dahinter erblickten wir sie: Die Watzmann Ostwand. Mächtig erhob sie sich über uns und drohend, so als ob sie über uns einstürzen wollte. Wir gingen das oftmals trockene Bachbeetes des Eisbaches entlang. Das raue Gelände zwischen den Felsbrocken hinter uns lassend kamen wir zur Eiskapelle. Eineinhalb bis zwei Stunden waren wir gelaufen. Die enormen Schneemassen lassen das Firneisfeld da oben ganzjährig bestehen, auch im Sommer. Weißt du, im Winter und Frühjahr gehen die Eismengen in Form von gewaltigen Lawinen aus der Ostwand ab. So wird das Firnfeld größer. Es gibt hier nur keinen fließenden Gletscher. Aber im Inneren des Eisfeldes ist da ein geräumiger Hohlraum. Dorthin wollten wir. Der Eingang der Eiskapelle war wie ein Gletschertor mit Schächten und Gängen und Auskehlungen an den Wänden. Wir waren im Spätsommer da. Die Niederschlagswässer flossen deshalb von der Ostwand ab und schmolzen Schächte in die Rückseite des Schneefeldes. Der Schuttboden unter dem Firnfeld zeigte ein verzweigtes Netz von kleinen Bächen und an der Unterseite des Eises schmolzen Gänge frei. Aus der Höhle floss schwere, kalte Luft vom unteren Eingang ab und saugte warme Luft von oben durch die Schächte. Der Luftzug hatte die Höhlengänge stark erweitert. Kalte Fallwinde strömten uns entgegen, obwohl es ein echt warmer Sommer war.

Dort am Waldrand vor der Kulisse der Wand des Watzmanns spielten wir mit einigen einheimischen Kindern von der HJ, die dort gepicknickt hatten. Sie hatten wohl auch gerade einen Ausflug, und obwohl sie uns Kinder vom KLV-Lager nicht mochten, spielten sie mit uns am Gebirgbach, der da am Waldrand floss. Da plötzlich hörten wir Schreie von einem schräg gegenüberliegenden Hügel. Wir sahen aufgeregte Gebirgsjäger in Stellung gehen. Sie winkten, wir sollten uns im Wald verstecken, und stellten eine Fliegerabwehrkanone auf. Kaum dass sie die Flak aufgebaut hatten, schwebte über uns etwas hinweg. Es kam direkt die Ostwand hinab, auf uns zu. Es war drei- oder viereckig und kleiner noch als ein Radio. Unten war ein Propeller dran und eine Art Fotostativ.“

Vater holte Luft.

„Es änderte dann plötzlich seine Flugrichtung, als die Gebirgsjäger die Flak in Betrieb setzten. Aber es war viel zu klein als dass ein Pilot darin Platz gefunden hätte. Es flog auf sie zu. Es machte völlig irre Flugmanöver. Und es drehte wiederum ab, kam erneut zurück und flog nun um die Gebirgsjäger herum. Irre schnell. Aber es schoss nicht auf sie, und es war auch keine Bombe drin. Dieses Stativ unter dem Ding war wohl nur ein Landegestell. Die Gebirgsjäger jedenfalls rannten völlig verängstigt weg. Sie flüchteten in den Wald. Dort wurde geschossen. Daraufhin flüchteten wir auch, aber in die andere Richtung, zum Eingang der Eiskapelle.“

Vater redete immer aufgeregter. Wir waren unten im Salzbergewerk angekommen. Wir stiegen aus den Loren und folgten der Gruppe, die wiederum dem Bergewerksführer hinterherlief, der auf sie gewartet hatte. Die Gruppe ging in den Stollen, vorbei an der Grotte, die zum Andenken errichtet worden war an den vom Volk besonders verehrten, 1886 verstorbenen König Ludwig II. Wir sahen den Spiegelsee. Mehrere Leute vorne beim Bergwerksführer machten ihre Taschenlampen an und nahmen sich ein Floß, das dort lag. Ihre Floßfahrt ging über den unterirdischen See, mitten durch wachsende und glitzernde Salzkristalle. Unsere Gruppe, die mit den Frauen und Kindern, ging in die große Höhle, die Salzkathedrale genannt wurde. Hier sollten wir waren, hatte der Führer gesagt.

Vater erzählte noch immer weiter. Er schien vergessen zu haben, dass wir im Salzberegwerk waren. Er war es nicht. Er war in der Eiskapelle.

„Als wir in die Eiskapelle geflüchtet waren, warteten wir dort ab.“, führte er fort. „Die letzten Kinder, die uns erreicht hatten, erzählten aufgeregt, was sie noch mitbekommen hatten. Sie berichteten, sie hätten mitbekommen, wie alliierte Kampfflieger über die Hügel gedonnert gekommen wären – direkt auf die Ostwand zu. MG-Feuer ratterte durch das Tal. Sie haben das kleine, flinke Ding abgeschossen und vor der Ostwand abgedreht. Das fliegende Ding sei in den Königssee abgestürzt. Einer der Hitlerjungen war richtig aufgeregt aufgesprungen. „Das war eine Geheimwaffe von den Alliierten!“, schrie er, „abgeschossen vom Feind selbst! Wir müssen das sofort eine Meldung an das Führerhauptquartier machen lassen, an den Führerbunker in Berlin, und an seine Alpenfestung!“ Er setzte seine Mütze auf und rannte aus der Eiskapelle heraus.

In dem Moment stürmten ihm ein paar Soldaten entgegen. Amerikaner. Sie hatten Berchtesgaden besetzt und von einer großen Gruppe von Einheimischen gehört, die sich dort am Watzmann befinden würden. Sie wussten nicht, dass es nur Kinder waren und Hitlerjungen. Sie hatten mit weiteren, versprengten Gebirgsjägern gerechnet, denen sie nachsetzen wollten. Dazu hatten sie sogar über den Königssee gesetzt und den Weg an der Kapelle vorbei genommen durch den Wald. Sie erschraken. Sie hielten den von der Eiskapelle heranrennenden, uniformierten Jungen für einen Angreifer. Sie schossen ihn nieder, bevor er rufen konnte. Dann stürmten sie in die Eiskapelle und nahmen uns gefangen. Wir waren völlig verstört, hoben unsere Hände und ließen uns alle abführen. Keiner verriet mehr etwas von dem Vorfall. Der Junge war umsonst gestorben. Am diesem 4. Mai 1945 wurde Berchtesgaden kampflos der 3. US-Infanteriedivision übergeben. Wir KLV-Kinder kehrten ins Lager zurück. Wir nahmen uns Proviant und die Rucksäcke mit Kleidung und Decken. Dann schlugen wir uns nach Hause durch.

Unser KLV-Lager war einfach aufgelöst worden. Transportmittel fehlten. Kampfhandlungen verhinderten eine geordnete Heimfahrt, hieß es. Wir mussten uns allein oder in kleinen Gruppen selbst zu unseren Eltern durchschlagen. Unterwegs hörten wir, dass es im Nachbargau eine „Operation Gomorrha“ gegeben hatte, bei der die Dreizehn- und Vierzehnjährigen beim Nahen des Feindes sogar in andere Lager weitermarschieren sollten. Und im tschechischen Grenzgebiet im Böhmerwald waren die Lager auch geflüchtet und auf den Treck gegangen. Andere Lager waren durch Verteilung der Kinder auf Bauern aufgelockert worden. Andere sind nach der Feindbesetzung aus den Lagern eigenmächtig abgehauen, auf den Trampweg nach Hause. Einige mussten bis nach Hamburg – quer durch alle Besatzungszonen.“

Vater hatte wie ein Wasserfall gesprudelt, in einer Tour. Jetzt verstummte er erneut.

Mein Gott, dachte ich. Ich mochte ihn nicht mehr weiterfragen.

Die Führung durch das Salzbergwerk ging zu ende. Die Loren zur Auffahrt standen wieder bereit. Es war beeindruckend gewesen. Mehr noch war es diese Geschichte von der Eiskapelle und dem seltsamen Flugkörper. Ich habe sie nie wieder vergessen.

Das Anden-Artefakt. Eine historisch-phantastische Erzählung

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