Читать книгу Share - Michael Weger - Страница 10
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Der junge Mann war in Rom angekommen.
Er stand vor dem Kolosseum und starrte in den Himmel. Das helle Blau hing wie ein unwirklicher Baldachin über dem baufälligen Wahrzeichen.
Richtung Süden zog ein Großer Brachvogel vorbei.
Im Westen türmten sich Gewitterwolken.
Es würde Regen geben.
Vorsichtig betrat er einen der Bogengänge, die in das Innere des Amphitheaters führten. Das Gewölbe erweckte den Eindruck, als könnte es jeden Augenblick Brocken der Mauern auf ihn herabstürzen lassen. Er zog den Kopf ein und beeilte sich, die gefährlichen letzten Meter schnell hinter sich zu bringen.
Am Eingang der Arena hielt er inne und sah sich um. Traurigkeit stieg in ihm hoch und mit ihr Erinnerungen an die vielen trostlosen Erlebnisse und ähnlichen Anblicke im Laufe seiner langen Reisen.
So viel Verwahrlosung und Elend hatte er in der ewigen Stadt nicht erwartet, im Gegenteil: Er war guter Hoffnung gewesen, endlich sein Ziel zu erreichen.
Was ihm jedoch begegnete, schien das erlebte Grauen noch zu übertreffen.
Oder täuschten ihn seine Sinne? War er einfach zu hungrig, zu erschöpft und leer, um all der Not ein weiteres Mal gewappnet entgegenzutreten?
Wellblechdächer armseliger Quartiere, vor Jahren als Notlösung errichtet, hatten sich über morschen Holzbalken abgesenkt und waren zusammengefallen. Davor reihten sich, unter verschlissenen Planen, Lager aus Pappkartonagen, voll von vermodernden Konservendosen, Stofffetzen, Unrat – würdelose Behausungen, die jeder zivilisierten Kultur spotteten.
Männer und Frauen, allen Alters und aller Hautfarben, saßen teils dicht gedrängt in Gruppen beieinander, mit gesenkten Köpfen über angezogenen Knien, die sie umschlungenen hielten, als wollten sie mit letzter Kraft einen Funken Geborgenheit heraufbeschwören.
Mütter reichten ihre Säuglinge an jene weiter, die noch stärker und genährt genug schienen, um die schreienden Bündel mit wenigen Tropfen Milch aus ihren Brüsten am Leben zu erhalten.
Etwas abseits spielten die älteren Brüder und Schwestern, stellten, mit Holzstöcken in dünnen Händen, alte und neue Kriegsszenarien nach. Sie hatten sich einige Jahre länger ins Dasein gerettet, hieben aber, als wollten sie es trotzig beenden, wild aufeinander ein. Traf sie ein Hieb, flohen sie, versteckten sich, preschten hervor, stürzten erneut ins Getümmel, fielen wieder, rappelten sich hoch und kämpften weiter. Hätten sie echte Waffen in Händen gehalten, ihr Spiel hätte nicht anders ausgesehen. Denn obwohl es weithin, als einzige Szene dieses Dramas, etwas von Leben versprühte, handelte es nur vom Tod. Und der Zorn der Kleinen, gespeist aus der Not, befeuert vom Elend des täglichen Überlebenskampfes, stand jenem ihrer Väter und Brüder, die lange zuvor, irgendwo in der Welt, gefallen waren, um nichts nach. Das hatten sie erlebt – und nur davon konnten ihre Spiele zeugen.
Der junge Mann stand noch immer am Eingang der Arena – erschöpft, sprachlos, den Tränen nahe.
Vergeblich hielt er nach Hilfskräften Ausschau, nach Sozialarbeitern, Dolmetschern, Sanitätern oder Ärzten, denen er auf seinen Reisen, an Orten wie diesen, stets begegnet war. Er hatte den Glauben nie aufgegeben, vielleicht ja gerade an den traurigsten Plätzen der Welt, jene beherzten Menschen anzutreffen, jene Rebellen der Hoffnung, nach denen er auf der Suche war.
Erst als sein Blick an der gegenüberliegenden Seite der Arena auf eine Menschenschlange fiel, wurde er fündig. Einige Frauen und Männer verteilten Suppe aus großen Plastikeimern, andere winkten Kranke und Verletzte zu sich.
Was er aus der Entfernung jedoch beobachten konnte, gab ihm wenig Zuversicht: Auch ihre Gesichter waren fahl, ihre Augen leer, die Bewegungen mechanisch, teilnahmslos. Das Mehr an Lebensenergie, das es brauchte, um neben routinierten Handlungen etwas an Wärme, Obhut und Nähe zu spenden, war ihnen scheinbar schon lange verloren gegangen.
Trotz allem entschied der junge Mann, nicht aufzugeben, schritt die gut neunzig Meter über den Platz und reihte sich in die Schlange ein.
Stunden später, es dämmerte bereits, saß er neben den anderen Fremden an einer der offenen Feuerstellen auf dem Boden und schöpfte mit trockenen Brotstücken Suppe aus einem Metallteller. Das gab ihm ein wenig Kraft zurück.
Die Kapuze seines bodenlangen Mantels hatte er tief über die Stirn gezogen. Der widerstandsfähige Stoff bot Schutz vor Hitze und Kälte und würde auch den Regenströmen des aufziehenden Gewitters standhalten, das nun bedrohlich schnell näher kam.
Es war still in der Arena.
Die Kinder hatten ihre Spiele um Leben und Tod für diesen Tag beendet. Nur hie und da war ein Murmeln zu hören oder das Bellen eines Streuners, der um eine der Gruppen herumstrich, in der Hoffnung, etwas von dem kärglichen Mahl abzubekommen.
Die Feuer warfen ihr flackerndes Licht auf die ansteigenden Ränge des Amphitheaters und für Momente schien es, als würden die Jahrhunderte über die Menschenschar hereinstürzen, als wolle der Geist eines Gladiators sein Schwert erheben, um den endgültigen Hieb zu setzen.
Mit den ersten Tropfen machten sich vereinzelt kleine Gruppen auf den Weg in die Wandelgänge unter der Arena, um eine trockene Kammer zu finden.
Der junge Mann blieb ruhig sitzen. Er vertiefte sich gerade in eine der Übungen, die er von Kindheit an erlernt hatte. Und es gelang ihm, einmal mehr, sich der Trauer zu entledigen und jene Gelassenheit heraufzubeschwören, die es ihm erlaubte, dem Schicksal und den Wirren des Lebens mit milden, liebevollen Augen zu begegnen.
Er beobachtete weiterhin die wenigen freiwilligen Helfer, die den Armen und Siechen zur Seite standen, bemühte sich, in deren Gesten und Blicken etwas Seele, Funken aus dem Feld der Seele, zu entdecken, doch mangelte es ihm in diesen Stunden an der nötigen Energie, um ihnen oder seiner Aufgabe gerecht zu werden.
Er würde die Nacht im Freien verbringen und es morgen erneut versuchen. Sein Mantel würde ihn schützen und wenn der Regen später über seine Wangen liefe, würde er es genießen. Sonne und Wind hatten seine Haut über Tage hin ausgetrocknet. Er zog den Kragen enger und legte sich eingerollt auf die Erde.
Wo vor seinen Augen nun Tropfen auf den sandigen Boden fielen, stiegen kleine, rötliche Staubwolken auf. Der Südwind hatte seit Wochen in Wellen von Wolkenbänken Saharasand mit sich gebracht und ihn über der Stadt verteilt. Schon in den Randbezirken war ihm der rote Staubfilm aufgefallen, der sämtliche Gebäude und Denkmäler in einen alles begleichenden Ton getaucht hatte.
Auf seiner Kapuze hörte er das Trommeln schwerer Tropfen. Das Geräusch nahm an Regelmäßigkeit zu, wurde zu einem Tosen, einem aufgewühlten Meer, in das er versank.
Langsam übermannte ihn die Müdigkeit, die er nach den Strapazen der langen Schiffsreise – westlich der Atlantikküste Afrikas entlang nach Norden, durch die Straße von Gibraltar und das Mittelmeer bis Rom –, schon viel früher erwartet hatte.
Morgen würde seine Suche erneut beginnen.
Hier, in der ewigen Stadt, glaubte er trotz allem fündig zu werden und auf ein paar jener seltenen Menschen zu stoßen, die der Kolonie des Glücks neue Hoffnung bringen mochten.