Читать книгу Share - Michael Weger - Страница 17

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Der Mond hatte sich mittlerweile unter die Sterne gedrängt und manche von ihnen strahlten jetzt zurückhaltender, als empfänden sie Demut vor dem großen Anführer der Gezeiten.

Claire sah zu ihm hoch, in das ewig der Erde zugeneigte Gesicht, und alles, dieser Mond, die Nacht, der Mann an ihrer Seite und selbst der Geschmack des kühlen Rotweins, von dem sie eben getrunken hatte, erschien ihr unwirklich.

Der kurze Blick in ihr inneres Feld hatte sie mit sich genommen. Noch immer verharrte ein Teil ihrer Selbst dort in der Tiefe des stillen Wassers und ließ sie schweben, trug sie zugleich, hielt sie umfangen, während ihr schien, als hätten alle Farben an Kraft, alle Konturen an Schärfe gewonnen.

Ajan saß ruhig neben ihr und beobachtete sie, ihr strahlendes Äußeres, wie auch das Leuchten ihres Feldes. Mit seiner kurzen Anleitung hatte er instinktiv schon begonnen, sie den Prüfungen zu unterziehen. Und dass sie so schnell den Kontakt zu ihrem Feld herstellen konnte, bestätigte seinen ersten Eindruck, als er sie noch am Platz, mit dem sterbenden Mädchen im Arm, im Dunkel hinter sich wahrgenommen hatte.

„Wir nennen es seelen.“ Claire blickte ihn fragend an und er erklärte: „Den Vorgang, sich bewusst an das eigene Energiefeld anzubinden und diese Verbindung aufrecht zu halten, so lange man will. Das nennen wir seelen.“

Sie wurde wieder unruhig: „Kommst du von einem anderen Stern?“

„Es klingt seltsam, ich weiß.“ Ajan streifte sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. „Aber nur, weil du das Wort in dieser Form nicht kennst. Wenn du damit aufgewachsen wärst, wie ich, dann wäre es ganz selbstverständlich. Ich habe das lange nicht begriffen. Erst als mich auf meinen Reisen die Menschen, denen ich von Share erzählt hatte, mit demselben Blick angesehen haben wie du jetzt.“

Share? In welchen Film bin ich denn hier geraten?

„Also, der Reihe nach.“ Er rückte seinen Stuhl zurecht, so, dass er ihr direkt gegenübersaß. Die Straßentische des kleinen Lokals waren beinahe leer. Nur etwas abseits saß noch ein anderes junges Paar, das in Küssen und Liebkosungen versunken war.

„Share ist meine Heimatinsel. Sie liegt im Atlantik. Ihr ursprünglicher Name lautet“, er zögerte, „nun, das ist nicht so wichtig. Meine Eltern und die anderen Gründer der Kolonie haben sie jedenfalls Share getauft. Wohl, weil es von Anfang an geplant war, eine Gemeinschaft zu etablieren, die auf dem Teilen von Gütern wie auch dem Teilen von Sorgen, Nöten oder Freude und Glück beruhte. Darum der Name.“

„Und dort bist du aufgewachsen?“

„Ja. Und da lebe ich bis heute. Außer, wenn ich auf einer meiner Reisen bin.“ Er vermied es, Claire gleich noch mit einem weiteren neuen Begriff zu verunsichern, und ließ darum unerwähnt, dass er einer der Seeker von Share war.

„Und wo liegt diese Insel?“

„Wie gesagt, im Atlantik?“

„Aber wo genau da?“

Ajan blickte sie prüfend an.

„Welchen Beruf hast du?“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Sag mir erst deinen Beruf.“

Wohin führt das? Und wer, um Gottes Willen, ist dieser Mann? Und was ist er?

„Ich bin Journalistin.“

„Dacht ich’s mir doch.“ Ajan schmunzelte.

„Warum?“ Claire war irritiert.

„Deine Fragen, deine Zweifel, dein legeres Äußeres, diese Kakihose mit den Seitentaschen und der Einsatzweste – das perfekte Bild einer Journalistin.“

Claire fühlte sich angegriffen.

„Und du? Was soll dieser bodenlange Mantel? Sieht nach irgendeiner Space Odyssey aus.“

„Dann passt es ja. Du bist eine Journalistin, wahrscheinlich auf Recherche für eine neue, weltbewegende Story und ich“, sagte er pathetisch, „reise durch Raum und Zeit und suche nach den letzten Rittern der Menschlichkeit.“

Claire horchte auf. Hat er das eben wirklich gesagt?

Er grinste so spitzbübisch, dass sie auflachen musste, und für eine Sekunde war ihr plötzlich, als würde sie diesen Mann schon ewig kennen. Die unvermittelte Nähe, die sie zu ihm empfand, irritierte sie. Prompt schalteten sich ihre Zweifel ein. Sie sah ihn kritisch an, schüttelte kaum sichtbar den Kopf und bekam es mit der Angst zu tun. Doch etwas in ihr sagte, dass sie zur rechten Zeit am rechten Ort war. Unbedingt und ganz ohne Zweifel.

„Also, von vorn“, begann sie. „Was seelen bedeutet, habe ich ansatzweise verstanden. Erzähl mir mehr von der Insel.“

Share ist wundervoll. Es gibt Steilküsten und Sandstrände, erloschene Vulkane, Kraterseen, Lorbeerwälder, bezaubernde Blumenhaine und auf den Feldern bauen wir allerlei Sorten von Gemüse und Früchten an. Die Fischgründe sind voll und die kleinen Kraftwerke an den Wasserfällen liefern mehr Strom, als wir verbrauchen können. Wir sind unabhängig und frei.“

„Klingt wie das reinste Paradies.“

„Das ist es.“ Seine Stimmung veränderte sich unmerklich.

„Wir nennen sie auch die Kolonie des Glücks.“

„Und warum bist du dann plötzlich traurig?“

Er sah zu ihr und studierte sie einen Moment lang. „Wie kommst du darauf?“

„Bitte?“

„Nichts verrät, dass ich traurig bin.“

Claire dachte kurz nach und sagte:

„Ich weiß nicht. Du hast Kolonie des Glücks gesagt und das hat mich irgendwie traurig gemacht. Doch ich bin gar nicht traurig. Verunsichert vielleicht und tausend Fragen sind in meinem Kopf, aber nicht traurig. Also habe ich angenommen, es kommt von dir.“

„Ist das bei dir oft so? Kannst du fühlen, was andere fühlen?“ „Manchmal, ja.“ Doch es war ihr bislang nie als etwas Besonderes erschienen. Sie blickte die Straße entlang, die sich weiter vorn unter den wenigen Gaslaternen im Dunklen verlor.

Ajan lächelte. Es würde kaum noch weitere Prüfungen brauchen. Er veränderte seinen Blick, seelte in sein Feld, verband sich mit ihrem und harrte für einen Augenblick der Bilder, die in seinem Inneren aufziehen mochten. Kurz darauf sah er es. Er erkannte sie wieder. Sie war schon lange Teil seines Feldes. In rascher Abfolge rauschten traumartige Erinnerungen vor seinem geistigen Auge vorbei, gingen in Visionen über und blieben am Ende in einem Tal voll beschaulicher buntbemalter Holzhäuser, umgeben von schneebedeckten Bergen stehen. Eine mögliche Zukunft, ein Strang, der zur Wirklichkeit werden konnte.

Doch bis dahin lag noch viel Unabsehbares vor ihnen.

„Also“, Claire wandte sich ihm wieder zu, „warum bist du traurig?“ Ajan ließ die Bilder in seinem Inneren verklingen, sah sich kurz um, atmete tief ein, um die Gerüche der Nacht aufzunehmen, und kramte Tabak und Zigarettenpapier aus einem Mantel.

„Du rauchst? Wer raucht heutzutage noch?“

„Die Dosis macht die Medizin. Oder das Gift.“ Er schmunzelte. „Manchmal ist es gut zu rauchen. Es holt uns auf die Erde zurück. Verbindet uns mit ihr. Willst du eine?“

„Ich habe es nie probiert. Lieber nicht.“

„Stört es dich?“

„Nein. Eigentlich mag ich den Geruch. Meine Mutter hat manchmal geraucht. Als sie noch gelebt hat.“

„Das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Ist schon lange her.“ Claire wollte sich nicht an die letzten Stunden in Paris mit ihrem Vater erinnern. „Du bist mir noch eine Antwort schuldig, nein, du bist mir tausend Antworten schuldig.“

„Weil wir aussterben.“ Der Nachhall des Wortes lag augenblicklich wie ein schwarzer Schatten über ihm. Ernst drehte er seine Zigarette, zündete sie an und begann zu erzählen: „Die Alten, die Gründer der Kolonie, haben eine perfekte Gesellschaft aufgebaut. Das war vor vielen Jahrzehnten. Freie Meinung, freie Religion, freie Liebe – das waren die Schlagwörter, an denen sie sich damals orientierten. Sie waren alle Hippies, Auswanderer aus der halben Welt, die sich auf den Kanarischen und anderen Inseln und Orten zusammengefunden hatten. Nach einigen Jahren jedoch waren ihre Strandgesänge verklungen, die Drogennebel verraucht und die Blumen in den Haaren verwelkt. Die meisten kehrten in ihre alten Leben zurück, gründeten Familien und gliederten sich wieder in die Gesellschaft ihrer Heimatländer ein. Doch einige von ihnen wagten etwas Neues: Sie besorgten sich Schiffe und brachen auf, um irgendwo im Atlantik eine unbekannte, unbesiedelte Insel zu suchen. Nach vielen Tagen auf dem offenen Meer tauchte sie schließlich am Horizont auf. Ihre neue Heimat, die sie Share tauften.“ Während seiner Erzählung hatte er immer wieder an der Zigarette gezogen und leerte nun mit einem kräftigen Schluck sein Weinglas.

Claire fragte: „Soll ich uns noch etwas bestellen?“

„Nicht für mich. Danke. Eine kleine Dosis genügt.“ Er lächelte. „Und es ist schon spät.“

Sie wurde unruhig und wollte unbedingt noch mehr erfahren; verhieß seine Geschichte doch den besten Stoff für einen neuen Artikel und er selbst eine Zukunft, jenseits aller Erfahrungen, die sie bislang gemacht hatte.

„Du willst alles wissen, nicht wahr, Claire?“ Als er sie zum ersten Mal mit ihrem Namen ansprach, spürte sie einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. „Deine Aufmerksamkeit und deine Energie verraten mir, dass es dich hinzieht nach Share und zu mir.“

„Kann es sein, dass du, außer Gefühlen, noch mehr von dem wahrnimmst, was in anderen Menschen vorgeht?“

„Darauf wurden wir von Kindheit an geschult. Die Gründer haben nicht nur eine intakte soziale Gemeinschaft aufgebaut. Philosophen, Künstler und Lehrer waren unter ihnen. Sie haben von Beginn an geforscht und sich bemüht, Menschen aus uns zu machen, die dem Leben und einander dienen. Dabei haben sie erstaunliche Dinge entdeckt und Ausbildungsstätten für alle Fähigkeiten errichtet, die Menschen in sich tragen.“

„Aber warum sterbt ihr dann aus?“ Claire konnte jetzt nicht lockerlassen. Ajan sah traurig in den Himmel.

„Weil die Gründer alles so perfekt arrangiert haben, dass die Gemeinschaft und ihre Lehren bis heute vor der Öffentlichkeit verborgen blieben. Share taucht zwar auf allen Landkarten der Welt auf, sie trägt auch einen offiziellen Namen, doch gilt das Herz der Insel, auf dem unsere Siedlung errichtet wurde, in der Außenwelt nach wie vor als unbewohnt und unbewohnbar. Und die Alten haben noch dazu mit allen erdenklichen Mitteln dafür gesorgt, dass es so bleibt. Auch wenn die Jungen schon lange darauf bestehen, dass man sich öffnen und den Zugang zur Kolonie erlauben müsste, um das neue Wissen zu verbreiten: Die Alten erlauben es nicht. Trotz all ihrer Weisheit fürchten sie, ihr Paradies zu verlieren, und bestehen darum auf Geheimhaltung. Ich musste sogar nach Programmierern suchen, die sich uns anschlossen, um alles aus dem Netz zu löschen und vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern, was an Berichten bis dorthin vorgedrungen war. In über fünf Jahrzehnten sind grade mal ein paar Handvoll Menschen von selbst, über die verschlungenen Wanderwege, bis zu uns vorgestoßen.“

„Du musstest sie suchen?“

„Das ist meine Aufgabe, Claire. Ich bin einer der wenigen Seeker. Da meine Fähigkeit, die Energiefelder anderer Menschen zu lesen, sehr hoch entwickelt ist. Wir alle auf Share erfüllen die Aufgaben entsprechend unseren Gaben und den Beruf, in dessen Dienst wir gerufen sind. Darum reisen wir Seeker durch die Welt und suchen nach Menschen für Share, deren Herzen und Seelen stark und tief sind und deren Glaube und Hoffnung ungebrochen in die Zukunft reichen. Und denen die Gabe der Liebe zu eigen ist.“

Claire wollte auf das Lesen der Energiefelder eingehen, doch blieb sie an seinen letzten Worten hängen:

„Ist Liebe denn eine Gabe?“

„Nicht im eigentlichen Sinn. Doch manche Menschen tragen sie in sich, wie ein mächtiges Kraftwerk, das bei der Geburt seinen Dienst aufnimmt und sie unablässig damit versorgt, ganz egal, was das Leben für sie bereithält. Und in anderen strömt sie von Beginn an als schmaler Fluss, der aus einer schwachen Quelle gespeist wird. Es kommt auf das Feld an, das sich mit jedem Neugeborenen verdichtet, wonach es sucht, was es mitbringt, was es zu erschaffen hat. “

„Das klingt alles so unwirklich. Seeker, die Energiefelder anderer Menschen lesen. Berufe und Aufgaben, die man angelegten Gaben nach erfüllt. Felder, die sich verdichten. Als wäre es real, als hättet ihr all das tatsächlich durchschaut?!“

Ihre Verunsicherung war nicht zu übersehen und Ajan fragte sich kurz, wie weit ihre Furcht gehen würde. Daran entschied sich nicht selten, ob mögliche Kandidaten zu einem Leben auf Share bereit wären. Er musste abwarten und verfolgen, wohin ihre nächsten Schritte sie führen würden. Doch dabei durfte er sie nicht beeinflussen. Auch wenn er sich insgeheim wünschte, Claire würde sich am besten schon morgen dafür entscheiden, ihn zu begleiten.

„Für die jungen Sharer war es immer ganz real“, bemühte er sich um eine sachliche Erklärung. „Wir erlernen die menschlichen Fertigkeiten von Kindheit an und vor jedem anderen Wissen: zum Beispiel unsere Gefühle zu steuern – das Drüsen, wie wir es nennen –, oder die Sprache des Körpers, die vielen Wesenszüge des Charakters, dann geistige Fähigkeiten, Techniken, um uns zu fokussieren, zu lernen oder schöpferisch tätig zu sein, unsere Stimme zu stärken und sie gekonnt zu benutzen, uns in vielen Sprachen auszudrücken, Gespräche zu führen oder Reden zu halten. Und später dann noch eine Reihe anderer, höherer Fähigkeiten, die mit dem Seelen einhergehen, wie Gedanken oder Gefühle lesen oder hellsichtig sein. Erst ab dem zehnten Lebensjahr wird der Lehrplan durch einzelne Wissensfächer ergänzt. Die Grundfertigkeiten des Schreibens, Lesens und Rechnens werden natürlich auch von Kindheit an geschult, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden eher nebenbei, als Selbstverständlichkeit, absolviert. Bis zum zwölften Lebensjahr hat jeder unserer jungen Sharer ausreichend Zeit gefunden, um seine Interessen, Anlagen und Begabungen dadurch genau kennenzulernen. Mit all dem wachsen wir auf.“ Er überlegte kurz und sagte dann abschließend: „Für uns ist es nicht anders, als ein Brot zu brechen oder einen Stein aufzuheben.“

Claire konnte nicht umhin: Dieser Mann wurde ihr mit jedem Wort unheimlicher. Zugleich jedoch fühlte sie sich auch immer stärker zu ihm hingezogen.

Das junge Paar, das an einem der Tische hinter ihnen gesessen war, hatte sich mittlerweile schon lange auf den Weg gemacht. Die Kellner räumten die Tische ab, begannen sie an der Wand vor dem Lokal zu stapeln und die Stühle mit Ketten zu sichern. Einer der Kellner brachte die Rechnung zu ihnen an den Tisch und während Ajan diese beglich – nicht ohne zuvor Claires Zustimmung eingeholt zu haben –, spürte sie einen Moment ihren Empfindungen nach. Sie nahm eine gewisse Erleichterung wahr, dass ihr Gespräch sich nun langsam doch dem Ende zuneigen würde. Sie brauchte Zeit, um all das zu verdauen. Auch wenn sie fühlte, dass sie nicht gern von Ajans Seite weichen wollte.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie unsicher.

„Das hängt ganz von dir ab.“

„Nur von mir? Interessiert es dich denn nicht?“ Ich mache mir zu viele Hoffnungen.

Ajan musste achtgeben, sie nicht weiter am zarten Band der Liebe, das sich zwischen ihnen gesponnen hatte, an sich zu ziehen oder gar zu binden. Nur aus der Anbindung an das eigene Feld, das jenseits von Sehnsüchten, Wünschen und Hoffnungen lag, konnte man erkennen, welcher der möglichen, nächsten Schritte der richtige war. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, musste abweisender sein, als ihm lieb war.

„Es liegt allein bei dir, da es um dein Leben geht. Solltest du erwägen, mich auf die Insel zu begleiten, zieht das viele Konsequenzen nach sich. Wer auch immer Zeit in der Kolonie verbringt, will nicht mehr von dort weg. Und man muss sich zur Geheimhaltung verpflichten, um unsere Gemeinschaft nach besten Kräften zu schützen. Es würde dein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Und das darf nicht davon abhängen, ob auch ich mir wünsche, dass du an meiner Seite gehst.“

„Tust du es denn?“

Er blickte sie unverwandt an und schwieg.

Etwas resigniert sagte sie:

„Das geht mir alles viel zu schnell.“

„Das verstehe ich. Darum trennen wir uns jetzt.“ Claire wollte widersprechen, doch er setzte nach: „Und du musst ohnehin noch die letzte Prüfung bestehen.“

„Was heißt das nun wieder? Hast du mich denn geprüft? Wenn ja, ist mir nichts davon aufgefallen.“ Sie sah ihn beinah erschrocken an. „War denn unser ganzes Gespräch nur eine Prüfung?“ Sie fühlte sich gekränkt.

„Ja und nein. Darüber musst du dir selbst klar werden. Wie auch immer, ich muss jetzt gehen.“ Er hatte sich schon erhoben, war zwei Schritte auf die Straße getreten und blickte nun zögernd in den Himmel. Ohne sie anzusehen, sagte er:

„Bis morgen Abend werden drei Zufälle dir den Weg weisen und deine Entscheidung beeinflussen. Der dritte davon wird sein, dass wir beide uns irgendwo in der Stadt wieder begegnen.“

„Drei Zufälle?“

Er wandte sich ihr zu. „Zeichen, Fügungen, synchrone Ereignisse des Schicksals, nenn es, wie du willst.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter. Bis dahin wirst du alles wissen. Und vor allem, ob du mich tatsächlich begleiten willst. In ein neues Leben.“ Er kam etwas näher, hob ein wenig die Hand, als wollte er ihr über die Wange streichen, unterließ es aber, lächelte kurz und verschwand mit zügigen Schritten in der Nacht.

Claire konnte sich lange kaum rühren. Seltsam verzaubert saß sie auf ihrem Sessel und blickte zu den Sternen hoch.

Einer der Kellner hatte ihr, bevor er die letzten Lichter gelöscht hatte, gedeutet, dass sie noch eine Weile bleiben könnte. Dann war auch er verschwunden.

Nun war sie ganz allein in der dunklen Straße, mitten in der fremden Stadt, die, den Worten ihres Vaters nach, zu den gefährlichsten Krisenherden der Welt zählte.

Paris schien ihr weiter entfernt denn je, die Gespräche am Vortag, mit den beiden Männern in ihrem Leben, eine Ewigkeit her.

Sie spürte dem lauen Wind nach, der durch die Nacht zog und an Ajans Stelle über ihre Wangen strich.

Sie wartete. Darauf, dass ihr Verstand Alarm schlug oder sich Angst einstellen würde.

Doch das geschah nicht. Obwohl sie nichts von all dem, womit das Schicksal sie an diesem Abend konfrontiert hatte, zuordnen konnte – angefangen beim Tod des Mädchens bis hin zu Ajans drei Zufällen – hatte in ihrem Inneren eine stille Gewissheit begonnen, Form anzunehmen. Ihr war, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Punkt angelangt, der ihrer Bestimmung entsprach.

Und die kritische Journalistin in ihr schwieg dazu ebenso wie ihr Herz, das ihr, wider jede Vernunft, an einen fremden, unheimlichen Mann verloren schien.

Claire holte ihr Neopad aus einer der Westentaschen, schaltete es ein und hoffte, dass es sich in das hiesige Netz einloggen würde. Die meisten Sendemasten im Stadtgebiet, so hatte sie an der Rezeption ihres Hotels erfahren, waren ausgefallen. Nur an wenigen Stellen bekam man eine Verbindung. Sie hatte Glück, überflog die eingegangenen Nachrichten – darunter eine ihres Vaters, voll von Vorwürfen und übertriebenen Sorgen sowie eine weitere von Jerome, die sich nicht wesentlich von der des Vaters unterschied –, öffnete die Navigations-App und gab die Adresse ihres Hotels ein.

In ihrem Zimmer angekommen, suchte sie im Netz noch nach Share, doch fanden sich tatsächlich keinerlei Hinweise oder Berichte über eine Insel im Atlantik mit diesem Namen. Zu erschöpft, um die Nachrichten der beiden Männer zu beantworten, wusch sie sich in dem engen Bad, verzichtete darauf, die Dusche hinter dem Plastikvorhang zu testen, tapste über die Marmorfließen bis zum antiken Himmelbett und schlief, begleitet vom leisen Rasseln alter Federkerne, schnell ein.

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