Читать книгу Share - Michael Weger - Страница 16

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Claire blickte dem jungen Mann nach, der wie ein schwarzer Engel in der Nacht verschwunden war. Es war still auf dem Platz. Der Wind streifte lautlos über ihre Wangen und als sie sich dem kleinen, toten Körper näherte, war ihr, als hätte sie den kupfernen Geschmack des Blutes im Mund, das sich in einer Lache um den Kopf des Mädchens ausgebreitet hatte. Sie wandte sich zitternd ab und sah wieder dem jungen Mann nach.

Nach der Ankunft in Rom, am frühen Abend, hatte sie ihre Pension aufgesucht und war, da ihr der Besitzer versichert hatte, dass in diesem Viertel keinerlei Gefahr drohte, noch zu einem kurzen Erkundungsgang aufgebrochen. In dem Moment, als der Bauer auf das kleine Mädchen eingeschlagen hatte, war sie um eine Ecke getreten und hatte unter Schock das weitere Geschehen beobachtet.

Sie hatte gesehen, wie der junge Mann zu dem Mädchen gelaufen war, sie aufgenommen und geborgen hatte und schließlich, mit einem seltsam leuchtenden, gelösten Gesicht, in den Himmel gelächelt hatte. Wäre sie nur wenige Sekunden später auf den Platz getreten, sie hätte bestimmt angenommen, auf einen Geisteskranken gestoßen zu sein. So aber hatte er einen Eindruck in Claire hinterlassen, den sie nicht zuordnen konnte, da es sich mit nichts, was sie bislang erlebt hatte, vergleichen ließ.

Als würde sie etwas zu ihm ziehen, setzte sie sich nun in Bewegung und lief dem Mann hinterher.

Die Nacht war warm und schon nach wenigen Metern spürte Claire einen Schweißfilm auf der Haut. Der Himmel leuchtete zwischen den Häuserfronten herab, weder Smog noch die Lichtkuppel einer Großstadt trübten das klare Licht der Sterne. Sie lief über eine Treppe, folgte dem geraden Weg zu ein paar weiteren Stufen, dann durch eine Gasse, die sich jedoch bald darauf teilte. Der junge Mann war nirgendwo zu entdecken. Sie musste sich entscheiden, blickte in die eine, dann in die andere Richtung und für einen kurzen Moment glimmte am Ende der einen Gassen etwas auf – als hätte ein mystisches Wesen einen Lichtschweif hinter sich hergezogen, der gerade noch sichtbar war.

Claire blinzelte die optische Täuschung weg, folgte aber dem flüchtigen Eindruck und lief in diese Richtung weiter. Beinahe wäre sie an der nächsten Nebengasse vorbeigelaufen, hätte sie nicht ein weiterer, schemenhafter Eindruck im Augenwinkel gestoppt. Sie spähte vorsichtig um die Ecke und sah den Schatten des Mannes vorne im Dunkel verschwinden. Sie rannte ihm, so leise wie möglich, weiter hinterher.

Ohne zu wissen, warum, wollte sie nicht von ihm entdeckt werden.

Kurz darauf stieß sie auf einen kleinen Platz, blieb jedoch, bevor sie ihn betrat, im Dunkel der Gasse stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite legte der Mann gerade die letzten Schritte über den Platz zurück.

Claire beobachtete fasziniert, wie der weiche Stoff des Mantels über den athletischen Körper floss. Sie wartete eine Sekunde, bis er wieder im Dunkeln verschwunden war, und folgte ihm. Plötzlich war er da. Keine zwanzig Meter entfernt und kam mit großen Schritten auf sie zu. Claire erschrak und ihre Hand schnellte vor den Mund, um den Schreckenslaut abzufangen. Mit etwas Abstand blieb er direkt gegenüber stehen. Sie sahen einander in die Augen.

Der junge Mann blickte sie gelassen an.

Langsam löste sich Claires Hand von ihrem Mund. Sie neigte den Kopf zur Seite und ohne dass sie wusste, woher, stieg ein Lächeln in ihr hoch und lief über ihre Augen, ihre Mundwinkel und Wangen und einen kleinen seligen Augenblick lang fiel ihr Herz aus dem Rhythmus. Der junge Mann spürte diesen Puls. Fühlte, wie, nur einen Schlag versetzt, sein Herz nun in ihren Rhythmus einstimmte.

Die Seelen begannen ihr Gespräch.

„Bonjour“, sagte er mit sanfter Stimme, dem Impuls folgend, es mit Französisch zu versuchen.

„Bonjour“, hauchte Claire erstaunt, „woher …?“ Die Stimme versagte ihr. Sie musste schlucken. „Warum …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer sind Sie?“

Er kam auf sie zu und sah sie weiterhin gelassen an.

„Ajan. Mein Name ist Ajan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Und Ihrer?“

„Claire“, erwiderte sie langsam und legte ihre Hand in seine. Was für unglaubliche Hände. Er stand nun ganz nah vor ihr und noch immer konnte sie ihren Blick nicht von ihm lösen.

Er nickte.

Reiß dich zusammen!

Sie zog ihre Hand zurück.

„Und? Was machen wir jetzt?“, fragte sie, erstaunt über sich selbst.

„Ich weiß nicht. Worauf hätten Sie Lust?“

„Also“, sie fühlte sich unsicher. „Ich weiß nicht. Sie sind doch der Mann. Schlagen Sie was vor.“

„Ich bin der Mann, ja. Und Sie sind die Frau. Täusche ich mich oder hindert Sie das auch sonst nicht daran, zu sagen, was Sie wollen?“

„Sie haben recht. Natürlich. Es ist nur“, sie rang um Fassung, „ich bin erst heute hier angekommen und alles ist, all die Tage schon waren, sehr seltsam.“ Erst jetzt dachte sie wieder mit Schrecken an die Szene, deretwegen sie ihn verfolgt hatte.

„Ich habe Sie beobachtet, vorhin. Auf dem Platz, mit dem toten Mädchen. Das war sehr, wie soll ich sagen, schockierend, verstörend.“

„Ich weiß.“

„Haben Sie mich gesehen?“

„Nein, aber gespürt.“

Eine Pause entstand. Claire wich ein kleines Stück zurück.

„Sie haben sich äußerst seltsam verhalten. Hätten Sie nicht die Polizei verständigen sollen, Alarm schlagen?“

„Wem hätte das genützt?“

Claire stutzte.

„Sie haben sich benommen, verzeihen Sie, wie ein Verrückter.“

„Ver-rückt? Ja, das bin ich manchmal. Gewissermaßen.“

„Muss ich mich fürchten vor Ihnen?“

„Schließen Sie Ihre Augen.“

„Was?!“

„Nur ganz kurz. Vertrauen Sie mir, nur ganz kurz. Schließen Sie die Augen. Und legen Sie Ihre Hände in meine.“

Ich begehe den größten Fehler meines Lebens. Ihr Vater schoss ihr durch den Kopf. Trotzdem folgte sie der Aufforderung des Mannes mit dem seltsamen Namen und den seltsamen Händen.

„Und nun richten Sie Ihre Aufmerksamkeit in Ihr Inneres. Spüren Sie Ihrem Seelenfeld nach. Sagt Ihnen der Begriff etwas? Seelenfeld?“

Doch ein Verrückter. Claire nickte zaghaft.

„Gut.“ Ajan lächelte. „Dann fühlen Sie tiefer als Ihre Angst gerade reicht, tiefer, als sich die Zweifel in Ihrer Fantasie regen. Erfassen Sie hinter Gefühlen und Gedanken das Feld Ihrer Energie. Was tut es?“

„Es ist …“, Claire musste der hypnotischen Stimme folgen, ob sie wollte oder nicht. Doch die Furcht war da und wurde von der absurden Situation noch verstärkt. „Es fällt mir schwer.“

„Akzeptieren Sie es.“

„Bitte?“

„Akzeptieren Sie, dass es schwerfällt, und fahren Sie einfach fort. Was tut die Energie Ihres Feldes? Was sehen Sie? Welche Bewegung nehmen Sie wahr?“ Seine Stimme wurde nun noch tiefer.

„Es ist …“

„Ja?“, brummte er.

Plötzlich spürte Claire, wie sie, durch einen schmalen Spalt hindurch, ein zarter Sog mit sich nahm.

„Es ist ganz ruhig da“, entdeckte sie wenige Augenblicke später. „Da ist etwas, ein Wasser, wie ein Wasser, dunkel und weit und es bewegt sich in sanften Wellen und es ist, es ist, irgendwie glücklich. Und ganz still. Kein Gefühl. Mehr eine Ahnung. Oder ein Wissen.“

„Gut. Du machst das sehr gut. So schnell gelingt es beim ersten Mal selten.“

Eine kleine Weile stand sie ganz versunken da und gab sich den seligen Eindrücken hin.

Dann öffnete sie ihre Augen und blickte ihn, noch halb abwesend, an.

Er lächelte zufrieden, kam so nah, dass sie seinen Atem spüren konnte, und fragte: „Also: Musst du dich fürchten vor mir?“

Etwas verlegen erwiderte sie sein Lächeln und tauchte langsam wieder aus dem seligen Zustand auf. Sie spürte seine Nähe, erinnerte sich an die Zweifel, die sie eben noch gehegt hatte, doch blieben ihre Gedanken und Gefühle seltsam ruhig.

„Nein. Ich denke nicht.“

Er ließ ihre Hände los.

„Wie wär’s dann jetzt mit einem Drink? Da vorn ist ein Lokal, das hat noch offen.“

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