Читать книгу Share - Michael Weger - Страница 12

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Er wählte, den Weisungen des Zufalls folgend, eine Nebengasse aus, deren hellerer Schein ihn anzog.

Ganz still war es nun in dem Viertel. Nur das stotternde Brummen einzelner Stromaggregate unterbrach den Widerhall der Nacht. Die Bewohner der Häuser hatten ihre Fenster allesamt verschlossen. Sie schützten sich, so gut es ging, vor dem Sand und der Hitze, die schon seit Jahren im beständigen Wandel der Klimazonen auch die Nächte beherrschten.

Durch einzelne Glasscheiben fiel Licht auf die Pflastersteine. Helle Rauten breiteten sich als schräges Muster vor ihm aus. Er folgte den Lichtstellen, trat mit seinen Schritten hinein, empfand immer mehr Freude dabei und hüpfte bald, verspielt wie ein Kind, über das Schachbrett der abendlichen Stunde.

Es erinnerte ihn an seine Eltern, an gemeinsame Abende in der Jugendzeit, als sie am offenen Kamin über einem Brettspiel um die Wette geeifert, miteinander gelacht und sich unterhalten hatten.

Dann fiel ihm seine Geliebte ein, eine junge dunkelhaarige Frau, mit der er so gern seine Nächte verbrachte, die ihm nun jedoch seltsam fern und wie entfremdet schien.

An die Freunde dachte er, den nächsten, vertrauten Kreis seiner Weggefährten. Je länger seine Reise angedauert hatte, desto schwerer war es ihm gefallen, ihre Ströme und inneren Bewegungen im großen, kosmischen Feld nachzuvollziehen. Umso mehr freute er sich auf das Wiedersehen mit den geliebten Menschen. Vor allem, da ihn jetzt nur noch wenige Tage von seiner Inselfamilie trennen sollten. Allerdings hatten die Erinnerungen die kurze ausgelassene Stimmung gedämpft. Er empfand einen Anflug von Einsamkeit. Gedankenverloren schritt er weiter durch eine der Gassen, die nun in einen nächsten, um vieles kleineren Platz mündete.

Sein Blick fiel auf einen vierschrötigen Mann, der eben erst seinen Marktstand mit Holzplanken sicherte. Es handelte sich wohl um einen der Bauern aus den umliegenden Landstrichen, von denen ihm auch am großen Platz einige begegnet waren. Dieser hier hatte scheinbar besonders lange ausgeharrt, um seine exotischen Früchte und Getreidewaren anzubringen.

Der junge Mann wollte seinen Weg eben im Schatten der angrenzenden Häuserfronten fortsetzen, als plötzlich ein seltenes Leuchten hinter dem Laden aufflackerte.

Er sah genauer hin und erkannte im dämmrigen Licht einer Gaslaterne ein Mädchen, das hinter der Rückwand zum Vorschein gekommen war. Ihre Energie strahlte aus sich heraus quer über den Platz. So ein Feld war ihm lange nicht begegnet. Er hielt inne und beobachte die Kleine.

Ihr verschlissenes Kleidchen flatterte im Wind. Sie mied das Licht, hielt sich versteckt und spähte mit großen Augen verstohlen um sich.

Eine ganze Weile beobachtete sie gespannt den Bauern, wie er noch einige Steigen seiner Waren in das Heck eines verbeulten Kombis verlud. Dann, als sie glaubte, seine Abläufe einschätzen zu können, trat sie auf Zehenspitzen hervor, griff mit beiden Händen in den noch offenen Laden, entnahm ihm so viele Paradiesäpfel, wie sie in Armen und Händen tragen konnte, und wollte ebenso schnell wieder verschwinden. Plötzlich erschien der Mann auf der anderen Seite des Holzverschlags. Er baute sich direkt vor ihr auf. Sie hatte sich getäuscht, er hatte sie schon lange bemerkt. Ausdruckslos blickte er sie an, holte mit seiner Pranke aus und schlug ihr ins Gesicht.

Das Mädchen flog ein paar Meter nach hinten, mit ihr die roten Äpfel, die auf ihrer Flugbahn einen Streifen des Laternenlichts querten und seltsam in der Luft tanzten, als hätte jemand mit ihnen jongliert. Der Kopf des Mädchens schlug hart auf dem Steinsockel eines Brunnens auf. Ein scharfes Knacken schoss über den Platz. Ihr Schädel war gebrochen. Sie blieb regungslos liegen. Die Äpfel kullerten noch hinterher und sammelten sich, als würden sie zu ihr wollen, nahe an dem verkrümmten Körper.

Dann war es still.

Der Bauer starrte auf die Kleine. Sekunden vergingen. Wie in Zeitlupe stapfte er schließlich auf sie zu, beugte sich hinunter, wollte sie berühren, hielt jedoch, als ihm bewusst wurde, was er angerichtet hatte, in der Bewegung inne. Er sank lautlos auf die Knie, stürzte seinen Kopf in die Hände und ein heftiges Schluchzen, einem Aufschrei gleich, schüttelte den groben Körper. Im nächsten Moment riss er seinen Kopf hoch, jagte mit den Blicken über den Platz, taumelte rückwärts, raffte hastig noch übrige Waren zusammen, sprang in den Wagen und raste mit jähem Aufheulen des Motors davon. Die roten Bremslichter warfen einen letzten Schein auf den Platz, als er um die Ecke der nächsten Gasse bog und verschwand. Das Brummen des Motors verklang immer leiser hallend in den Häuserschluchten.

Im spärlichen Laternenlicht lag der Platz nun wieder friedlich da. Das Kleid des Mädchens flatterte immer noch im Wind.

Langsam löste sich der junge Mann aus dem Schock, der ihn seit dem Sturz der Kleinen hatte erstarren lassen. Er lief, wozu er minutenlang nicht in der Lage war, zu ihr.

An ihrer Seite angelangt, kniete er sich hin, tastete mit den Fingern am zarten Hals nach dem Puls. Ganz schwach nahm er die feine, unregelmäßige Wölbung ihrer Haut unter seinen Fingerkuppen wahr. Sie lebte noch.

Er setzte sich neben sie, nahm ihren Körper hoch. Sie wog nicht mehr als ein Vogel. Behutsam zog er sie ganz dicht an sich, umhüllte sie mit seinen Armen und barg sie für diesen letzten Moment ihres Lebens in seiner Wärme. Mit der ganzen Kraft des Herzens griff er in seinem Inneren nach der großen Liebe, zu der er fähig war wie kaum jemand sonst. Und er schenkte sie ihr. Ließ sie einströmen in sie und wiegte sie, sacht, wie ein blühender Baum ein Kind wiegt, wenn es hoch in seiner Krone sitzt im Sommerwind.

Ein letztes Mal schlug sie ihre schon trüben Augen auf und blickte ihn an. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie flüsterte etwas. Er neigte sein Ohr an ihre Lippen.

„Für meine Mutter. Äpfel aus Paradies. Sie krank. Braucht. Bringst du? Mutter. Bitte. Bitte.“ Im letzten Ausatmen verklang ihr Flüstern. Ihre Augen schlossen sich und ihr Herz verstummte.

Der junge Mann, der das Unsterbliche schon oft mit eigenen Augen gesehen hatte, blickte nun der sich lösenden Seele nach, die langsam dem Körper entwich. Staunend sah sie zu ihm herab und er erzählte ihr, mit einem einzigen Gedanken, von der Ewigkeit und den liebevollen Geistern ihrer Vorfahren, die sie erwarten würden. Schon erschien der helle Schimmer des Tores hinter ihr, das sich immer öffnet, wenn ein Mensch geht, und der sie nun umstrahlte und wie Flügel um ihre Schultern leuchtete.

Dorthin wurde sie nun gehoben, ganz sacht, wie ein Blatt im Wind vom Baum bricht und nach oben getragen wird, wenn das Leben entschieden hat, ihm, bevor es fällt, noch einmal die Weite und Schönheit der Welt zu zeigen.

Der junge Mann löste seine Umarmung und legte den leblosen Körper auf die Pflastersteine. Während das Blut aus ihrem Schädel sich mit dem Rot der Äpfel vermischte, ging er langsam seines Weges. Er blickte nicht zurück.

Ihren letzten Wunsch würde er nicht erfüllen können. Die Genesung ihrer Mutter musste er dem Schicksal überlassen. Für die Kleine war das aber auch nicht von Belang. Jetzt nicht mehr.

Nachdem er den Platz verlassen hatte, schälte sich langsam ein Schatten aus dem Dunkel einer Häuserfront. Eine junge Frau wurde sichtbar. Sie hatte die letzen Augenblicke mitverfolgt, nachdem sie bei einem nächtlichen Spaziergang wie zufällig auf den Platz gestoßen war. Sie wischte sich Tränen aus dem Gesicht, fuhr sich zitternd durch die blonden Haare und ging einige Schritte auf den kleinen, toten Körper zu. Entsetzt wandte sie sich ab.

Dann sah sie dem jungen Mann hinterher, der wie ein schwarzer Engel in der Nacht verschwunden war.

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