Читать книгу Share - Michael Weger - Страница 15

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Der Kiesweg führte von den Parklauben bis hinauf zum Portal, der in französischem Neubarock erbauten Villa. Claire nahm, da sich der Regen gerade wieder beruhigt hatte, den alten Weg, den sie in den Jahren ihrer Schulzeit täglich hochgelaufen war. Sie kam an der verwitterten Steinbank vorbei, die immer noch am selben Platz stand und sie an ihre Mutter erinnerte. Es waren die frühesten Bilder aus ihrem Erinnerungsschatz und diese trug sie mit sich, behütet wie ein besonderes Kleinod.

Mit einem Taschentuch wischte sie die Steinplatte trocken, setzte sich kurz, legte die Hände in den Schoß und neigte ihren Kopf zur Seite. Wie gern hätte sie sich jetzt an die Schulter ihrer Mutter gelehnt, die hier oft auf sie gewartet hatte. Sie war der sichere Hafen gewesen, in den das damals kleine Mädchen einlaufen konnte, nachdem es, aus dem fremden Land der beginnenden Schulzeit, mit so vielen neuen Eindrücken nach Hause gekommen war.

Doch schon in Claires zweitem Schuljahr war die Mutter gestorben.

Still und ohne Aufhebens war sie durch Gift dem Leben entflohen – und hatte damit ein klaffendes Loch in Claires Seelenleben hinterlassen, das keine noch so große Bemühung des Vaters hatte füllen können.

Zudem gab Claire ihrem Vater im Stillen nach wie vor die Schuld am Selbstmord der Mutter. So schrecklich dieses Gefühl war, das sie erst viele Jahre später, in den Wirren der Pubertät, überkam, sie konnte bis heute nicht davon ablassen – seine Affären, seine Kälte und Lieblosigkeit mussten die Mutter aus dem Leben getrieben haben.

Das lag wie ein schwarzer Schatten über ihrer Beziehung. Und da sie es, ihm gegenüber, nie ausgesprochen hatte, nahm der Vater ihre distanzierte Art mit den Jahren als persönliche Kränkung und schließlich als pure Abneigung wahr. Was ja auch stimmte. Nur aus anderen Gründen, als er vermutete.

Entsprechend angespannt war ihre Beziehung über die Zeit geblieben. Mittlerweile jedoch ließ die Wahrheit sich immer schwerer verbergen und schrie und ächzte wie ein verbitterter Geist, der zeitlebens in einem dunklen Kerker eingeschlossen war und zeternd versuchte, ans Tageslicht zu kommen.

Claire atmete tief durch und musste sich wieder einmal zu den letzten Schritten Richtung Haus zwingen. Sie kam an den beiden Wachleuten vorbei, die wie üblich zum Schutz ihres Vaters abgestellt waren, und wurde an der Tür von einer fremden Haushälterin empfangen. Es war die dritte innerhalb eines Jahres. Sie stellte sich als Lucille vor, kannte Claire, wie sie erklärte, aus Fotoalben des Vaters und nahm ihr Jacke und Tasche ab, als wäre sie ein Gast und nicht die Tochter des Hauses.

Obwohl sie die alten Holzdielen, Möbel und dunklen Wandvertäfelungen wie immer penibel gereinigt vorfand, konnte sich Claire nicht des Eindrucks erwehren, der sie in den hohen Räumen seit dem Tod der Mutter verfolgte: Sie sah einen Schleier aus trockenem Staub, der sich wie ein begleichender Ton der Verwesung über alles gelegt hatte. Schon mit sechzehn war sie deshalb aus dem alten Haus entflohen und hatte den Vater überzeugt, eine Wohnung für sie zu kaufen und sie ihrem eigenen Leben zu überlassen.

Nachdem sie nun über die breite Treppe zum Arbeitszimmer ihres Vaters hochgestiegen war, blieb sie vor seinem Zimmer kurz stehen, atmete noch einmal tief durch und öffnete die schwere Holztür. Sie fand ihn wie immer, in Arbeit vertieft, hinter dem massigen Eichentisch.

„Schön, dass du da bist. Setz dich“, gab er tonlos von sich, tippte auf ein Pad und drehte sich im Schreibstuhl von ihr weg. Auf der ganzen rückseitigen Wand öffnete sich nun, flächendeckend, ein Screen. Das war neu und erinnerte sie augenblicklich an Jeromes Büro. Claire sah erstaunt auf den Schirm, der eben noch die stabile Wand samt historischen Familiengemälden und Holzornamenten gezeigt hatte. Nun hob sich eine riesige Landkarte im Relief davon ab. Es zeigte die Straße von Gibraltar, so viel konnte Claire erkennen, und offensichtlich bevorstehende Truppenbewegungen und Einsatzoptionen. Als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums war ihr Vater, François Boulanger, oft mit taktischen Maßnahmen diverser Militäroperationen befasst und hatte nicht selten entsprechend schwerwiegende Entscheidungen zu fällen.

Claire schweifte mit dem Blick über den Rest des Raumes. Hier war alles beim Alten. Sie ging ein paar Schritte über die Perserteppiche, die den krachenden Parkettboden bedeckten, und streifte mit der Hand den Kaminsims entlang. Im Kamin flackerte lautlos und kalt ein virtuelles Feuer. Auf dem Sims reihten sich Rahmen mit Fotos aneinander, die ihren Vater, lächelnd und Hände schüttelnd, mit Prominenten der Weltöffentlichkeit zeigten. Bis hin zu diversen Staatspräsidenten reichten seine Männerfreundschaften.

Unter den Fotos befanden sich auch welche aus den ersten Jahren nach dem Tod der Mutter, als Claire sich in seiner Nähe noch geborgen gefühlt hatte und ihn während der Ferienzeiten oft auf Reisen hatte begleiten dürfen.

Fotos der Mutter, oder gar aus einer gemeinsamen glücklichen Zeit als junges Ehepaar, fanden sich keine.

Claire wollte sich eben wieder dem Vater zuwenden, als ihr in der zweiten Reihe ein vergilbtes Bild auffiel, das sie glaubte, noch nie zuvor gesehen zu haben. Durch die anderen Rahmen kam es nur einen Spalt breit zum Vorschein. Wahrscheinlich hatte die neue Haushälterin sie beim Abstauben verrückt.

Sie griff danach und blickte erstaunt auf ihren Vater als jungen Mann, lachend, in Hippiekleidung, mit einer bildhübschen, fremden Frau im Arm und einem ebenso jungen Mann auf der anderen Seite, der ihm irgendwie ähnlich sah. Im Hintergrund waren Klippen und das Meer zu erkennen.

„Stell das zurück.“

„Wer sind die beiden?“

„Stell es zurück.“ Sein Tonfall machte klar, dass sie es dabei belassen sollte.

Claire reihte das Bild wieder ein und rückte die Rahmen zurecht, die sie ihr Vater in Kindertagen so oft aufgefordert hatte, nicht anzufassen. Sie wandte sich ihm zu.

Immer wieder schauderte ihr vor dem um Jahrzehnte jüngeren Aussehen des Mannes, dessen kosmetische Operationen keine sichtbaren Narben hinterlassen hatten. Trotzdem verrieten Körperhaltung und die gebrochene Stimme das wahre Alter des weit über Siebzigjährigen.

„Was kann ich für dich tun?“ Es klang, als hätte sie einen Termin bei einem Arzt. Er wies auf einen freien Sessel vor dem Schreibtisch.

„Ich werde einige Tage weg sein.“ Sie setzte sich. „Wollte mich nur von dir verabschieden.“

„Wird keinen großen Unterschied machen. Du besuchst mich auch nicht, wenn du in der Stadt bist.“

Claire wollte einwenden, dass sie erst vor zwei Wochen mit ihm zu Mittag gegessen hatte.

„Wohin geht die Reise?“

„Interessiert es dich?“

„Würde ich sonst fragen?“

Ja, würdest du. Nur um Kommunikation zu machen.

„Nach Rom.“

Ihr Vater horchte auf.

„Rom?!“

„Recherchen, für meine Kolumne. Es gibt Berichte, wonach …“ „Diese Rebellengeschichte?“ Sein Tonfall machte deutlich, was er davon hielt. „Das kommt gar nicht in Frage.“ Er tippte ein weiteres Mal auf sein Pad und hinter ihm erschien eine andere Landkarte, die Südeuropa, Nordafrika und den Nahen Osten zeigte.

Claire wollte etwas erwidern, war aber von den zahlreichen pulsierenden, roten Flecken auf der Karte abgelenkt.

„Siehst du das?“ Er deutete in Richtung Mittelitalien. „Die Krisenherde sind überall. Die Flüchtlingsströme werden weniger, doch immer noch spülen sie Schläfer und neue Terrorzellen nach Europa. Je dunkler das Rot, desto mehr Blut wird vergossen. Wenn du so willst.“

Claire starrte auf den dunkelroten Fleck, der über Rom lag.

„Das ändert nichts an meiner Entscheidung.“

„Ich habe schon gesagt, dass ich das nicht erlaube.“

„Vater, ich bin dreißig. Du hast mir gar nichts zu erlauben. Ich treffe meine eigenen …“

„Dann werde ich mit Jerome sprechen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig. Wollte er nächste Woche nicht euer Verhältnis öffentlich machen? Zeit wäre es.“

Die beiden hatten also miteinander gesprochen. Jerome war zudem einer der Wenigen, der um die Verwandtschaft zwischen ihrem Vater und ihr wusste. Sie wollte stets vermeiden, dieser familiären Beziehungen wegen bevorzugt behandelt zu werden. Und dem Vater war es ebenso recht, dass die junge, linke Journalistin, die mitunter lauthals gegen das Militär wetterte, nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte.

„Lass Jerome aus dem Spiel!“

„Spiel?!“ Ihr Vater stand auf und beugte sich über den Schreibtisch. „Genau das ist es für dich, nicht wahr?! Das spiegelt deinen ganzen infantilen Gemütszustand wider! Ein verträumtes Kind, das der Realität entflieht und seine Zeit mit Pseudojournalismus verschwendet! Dafür habe ich dich nicht an der Sorbonne studieren lassen!“

Nun erhob sich auch Claire. Doch wie immer, wenn ihr Vater sie mit seinen Angriffen ins Herz traf, versickerten die Worte in ihrem Kopf, bevor sie die Lippen erreichten.

„Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch die dritte Frau“, er korrigierte sich, „die zweite Frau in meinem Leben an Hirngespinste verliere! Du bleibst hier! Und wenn ich die Staatssicherheit einschalten muss! Das ist mein letztes Wort!“

Claire war zu gekränkt und außer sich, um den wirren Versprecher zu bemerken. Sie spürte, wie nun der verbitterte Geist der alten Wahrheit aus seinem Kerker hervorbrach. Sie kämpfte dagegen an, doch der aufgestaute Zorn bahnte ihm den Weg und bevor sie es verhindern konnte, schrie sie ihrem Vater ins Gesicht:

„Für deren Tod du allein die Verantwortung trägst!“

Nun war am Licht, was ihr ihm gegenüber so viele Jahre die Kehle zugeschnürt hatte.

Im selben Moment bereute sie es zutiefst.

Wie in Zeitlupe sank der alte Mann auf seinen Sessel und starrte mit leeren Augen vor sich hin.

Die Stille im Raum hallte ohrenbetäubend.

Sekunden verstrichen.

„Das ist es also“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme. „Geh. Aus meinen Augen. Lauf in dein Verderben.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie deine Mutter.“

Claire konnte sich nicht rühren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte etwas erwidern, wollte sich entschuldigen, doch bevor sie dazu kam, wies der Vater mit einer energischen Geste Richtung Tür.

Claire löste sich aus der Erstarrung, ging zur Tür und als sie noch einmal über ihre Schulter blickte, sah sie den alten Mann bereits wieder dem Einsatzplan um Gibraltar zugewandt. Bewegungslos blickte er auf das virtuelle Relief, gab einen Befehlscode ein und setzte damit ein Szenario in Gang, das dem Terror einmal mehr die Gewalt europäischer Einsatztruppen entgegenstellte. Auge um Auge. Als wäre kein Tag vergangen. Leise verließ Claire das Zimmer, in das sie so bald nicht wieder würde zurückkehren sollen.

Sie trat aus dem Haus, blieb unter dem Portalbalkon stehen und blinzelte in die Nacht.

Durch die weißen Strahlen der Scheinwerfer, die das Anwesen beleuchteten, schnitt dichter Regen, wie scharfe Klingen ein Blatt Papier.

Sie ging weiter. Die harten Tropfen schlugen ihr ins Gesicht und vermochten nicht die Tränen wegzuschwemmen, die nun aus ihren Augen schossen – einer tiefen Quelle entspringend, die zu lange versiegelt geblieben war.

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