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1. Alterität und Fremdheit

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Alterität

Unter ‚Alterität‘ lässt sich das Andere verstehen, das nicht unmittelbar ‚fremd‘ sein muss (lat.: ‚alter‘: ‚der andere von zweien‘, ‚alter‘ vs. ‚alius‘, ‚alienus‘). Identität konstituiert sich aber zunächst in Abgrenzung vom Anderen (im individuellen wie im kollektiven Bereich). Das menschliche Bedürfnis nach Identitätsbildung ist elementar; es muss aber nicht zu einer starren Identität und zu einer Zurückweisung des Anderen führen, sondern kann prozessual und offen gedacht werden. Für die Philosophie der Alterität (Lévinas, Waldenfels) stellt die Begegnung mit dem Anderen eine ursprüngliche Erfahrung dar, ohne die eine Konstitution des Ich gar nicht denkbar ist.

Fremdheit

Die Bedeutung des Wortes ‚fremd‘ lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Als ‚fremd‘ gilt häufig all das, was sich außerhalb des eigenen Bereichs befindet, was einem anderen gehört; allgemein auch das, was unvertraut erscheint und deshalb möglicherweise ‚befremdet‘. Aber: ‚Fremde sind wir uns selbst‘ (Julia Kristeva): das Fremde ist nicht nur außer uns. Das Unbewusste ist das fremde Eigene; der Tod ist das prinzipiell Fremde. So ist die Erfahrung von Fremdheit komplex und ambivalent. Die Bezeichnung eines Anderen als Fremdem beruht häufig auf einer Verdrängung des abgespaltenen ‚peinlichen‘ Eigenen und auf einer Projektion unangenehmer Eigenschaften und Verhaltensweisen auf das ‚Fremde‘ (dies ist eine Grundperspektive des Antisemitismus und des Rassismus).

Facetten des Fremdverstehens

Folgende Facetten des Fremdverstehens sind nach Ortfried Schäffter zu unterscheiden (vgl. Schäffter 1991):

1) das Fremde als Resonanzboden des Eigenen: Beschäftigt man sich intensiv mit dem ‚Fremden‘, so erkennt man viele Momente des Eigenen in ihm, sodass Fremdheit tendenziell verschwindet und Ähnlichkeit feststellbar wird. Diese Erfahrung artikulierte Goethe, als er die Gedichte des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis kennenlernte und diesen als seinen „Zwilling“ bezeichnete.

2) das Fremde als Gegenbild: Hier wird das Eigene definiert in Abgrenzung zum Fremden, wobei feste Identitäten hypostasiert werden, deren Konstruktionscharakter eine kritische Kulturwissenschaft aufdecken kann.

3) das Fremde als Ergänzung: Hier wird der Kontakt mit dem Fremden positiv als Erweiterung des Eigenen aufgefasst. Das Eigene wird durch die Fülle der fremdkulturellen Erfahrungen reicher und verändert sich und seine eigene Vorstellung kultureller Identität.

4) das Fremde als das Komplementäre: Hier wird vor allem in der Erfahrung einer deutlichen Unterscheidung der Kulturen die Idee aufrecht erhalten, dass das Fremde fremd bleiben kann und dass man somit die Fremdheit in bestimmten Fällen nicht überwinden kann, beispielsweise weil man daran scheitert, alle auf der Welt gesprochenen Sprachen zu lernen. In solchen Fällen kann die Distanz zum Fremden gewahrt bleiben und dennoch das Fremde in seiner Fremdheit anerkannt und respektiert werden.

Grenzphänomene der Fremdheit

Grenzphänomene der Fremdheit (aus europäischer Sicht etwa: Kannibalismus, weibliche Genitalverstümmelung usw.) führen zu der Frage, ob kulturelle Differenz immer toleriert werden kann, das heißt ob in jedem Fall die Normorientierung des Anderen/Fremden respektiert werden muss oder ob es kulturübergreifende Werte gibt, die für jede Kultur gelten und deren Überschreitung nicht mit einer kulturellen Besonderheit erklärt werden kann. So stellt sich das Problem, ob kulturelle Fremdheit durch einen Universalismus des Humanen zu begrenzen ist und ob der Mitmensch in seinem Menschsein prinzipiell als der nicht Fremde zu verstehen ist, der bestimmte Grundüberzeugungen des Humanen mit mir teilt. Der Einspruch gegen diese Position verweist darauf, dass in der Geschichte des westlichen Denkens das Humane fast immer als das Europäische verstanden wurde und dass deshalb die Subsumierung nicht-europäischer Kulturen unter ein problematisches menschliches Allgemeines Teil eines Herrschaftsdenkens ist, das lediglich europäische Werte zu universellen machen würde. Auf der anderen Seite ist schwer zu vermitteln, woher der ethische Impetus der Interkulturalität mit seiner Respektierung des Fremden kommen könnte, wenn nicht von einem universalen Respekt vor der Selbstbestimmung jedes Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft, aus der heraus sich die Vielfalt der Kulturen entwickelt. In diesen Kontext gehören die Debatten um universale Menschenrechte, aber auch um das Konzept der Humanität, das in der deutschen Kulturgeschichte gerade für Herder und Goethe zentral war.

Einführung in die interkulturelle Literatur

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