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2. Dekonstruktion und Hermeneutik

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Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida

Sowohl Hermeneutik als auch Poststrukturalismus interessieren sich für interkulturelle Literatur. Zum Poststrukturalismus gehören Ansätze wie die Psychoanalyse Jacques Lacans (Lacan 2006), die Machttheorie und Diskursanalyse Michel Foucaults (Foucault 1991) und die Dekonstruktion Jacques Derridas (Derrida 1999, S. 31–56). Den drei Herangehensweisen ist gemeinsam, dass sie sich mit dem letztlich unbegründeten und paradoxen Charakter aller Unterscheidungen in der Sprache sowie mit der Uneinlösbarkeit des Anspruchs, ‚Wahrheit‘ sprachlich zu repräsentieren, befassen. Diese Probleme spitzen sich zu, wenn es um die Möglichkeiten geht, homogene Einheiten und interkulturelle Konstellationen zu beobachten und darzustellen. Die neuere Hermeneutik untersucht ebenfalls interkulturelle Poetiken und fragt nach der Art und Weise, wie sich literarische Texte als eine ästhetisch codierte Kommunikation zu sonstigen kulturellen Kommunikationen verhalten, beispielsweise zu Ideologien, Ausschlüssen oder Grenzziehungen im wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Wissen der Entstehungszeit des jeweiligen literarischen Textes.

Hermeneutik und Poststrukturalismus

Hermeneutik wie auch Dekonstruktion gewinnen in der Auseinandersetzung mit interkultureller Literatur neue Facetten. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden hermeneutische und poststrukturalistische Ansätze – zumindest in ihrem jeweiligen Selbstverständnis – eher selten miteinander verbunden, heute jedoch werden sie (gerade in der Auseinandersetzung mit interkultureller Literatur) durchaus miteinander kombiniert. Dies ist möglich, weil sich die Erkenntnisinteressen berühren und gegenwärtig kaum mehr grundlegende Unterschiede zwischen den Vorannahmen bezüglich der Verfasstheit von Literatur, Wissen und Macht mehr bestehen, sodass sich die Stärken der Ansätze ergänzen können. Der Poststrukturalismus fokussiert auf die Haltlosigkeit aller Unterscheidungen, während die Hermeneutik hypothetische Fluchtlinien erkannter Unterscheidungen im Text rekonstruiert und sie als grundloses Spiel versteht, dem dennoch Aussagen und Stellungnahmen innewohnen.

Episteme und Dispositiv – Ästhetische Möglichkeiten: Spiel mit Fremdheit

Poststrukturalistische Theorien haben gezeigt, dass Sprache, Wissen und Macht eng miteinander zusammenhängen und daher jeder Versuch, analytische Standpunkte zu entwerfen, die in kritischer Distanz zu diesen Wissensordnungen stehen, teilweise in sich selbst widersprüchlich ist. Michel Foucault hat mit dem Begriff der ‚Episteme‘ die Gesamtheit des in einer bestimmten Zeit in einem bestimmten kulturräumlichen Kontext Denkbaren bezeichnet, und mit jenem des ‚Dispositivs‘ die Konkretion des Denkbaren in Macht-Figurationen und Institutionen wie dem Recht (Foucault 1971). Der Versuch, aus dieser Ordnung des Denkbaren auszutreten, um sie zu beobachten und zu analysieren, zieht erkenntnistheoretische Probleme nach sich. Interkulturelle Literatur bildet hier keine Ausnahme, denn auch sie ist, auf der allgemeinsten Ebene betrachtet, Teil der Episteme ihrer Entstehungszeit. Dennoch wohnen ihr einige Möglichkeiten inne, die anders verfassten Formen kultureller Kommunikation nicht gegeben sind, insbesondere das zweifache (ästhetische und kulturelle) Spiel mit Fremdheit in der interkulturellen Literatur. Hier werden Spielräume des Auch-Anders-Denkbaren, Auch-Anders-Möglichen oder Noch-Fremden verhandelt. Dadurch scheint ein Moment der Differenz gegenüber dem in der Sprache und im kulturellen Wissen bereits Verfügbaren auf, und dieses Moment der Differenz ermöglicht es, das Gegebene zu befragen, zu analysieren und zu dekonstruieren – ein Weg, den literarische Texte bereits in der Zeit um 1800 einschlagen und dabei unterschiedlich weit gehen.

Literarische Texte geben, im Unterschied zu anderen spezialisierten kulturellen Kommunikationen wie etwa dem Recht, der Verwaltungssprache, den wissenschaftlichen Kommunikationen oder der Publizistik mit Nachrichtencharakter, gerade nicht vor, auf Gegebenes zu verweisen, und haben damit die Möglichkeit, in reflektierte Distanz zu einem naiven Verständnis des Verweisungscharakters der Sprache zu treten. Sie entwerfen Sinn (oder mitunter auch ‚keinen Sinn‘, also Nonsens), indem sie Sprache zu ästhetischen Formen arrangieren, die sich in erster Linie, im Ensemble des Textes oder des Fragments, zueinander verhalten, und die allenfalls mit Referentialität spielen, also innerhalb der fiktionalen Welt zwangsläufig ironische, nicht ganz aufgehende Verweise auf Daten und Orte der Geschichte einbauen. Diese Selbstreflexivität der Literatur, also das Hinterfragen des eigenen Umgangs mit Sprache und der Möglichkeiten, zum Gegebenen in Distanz zu treten, beschäftigt die Hermeneutik schon seit Längerem.

Interkulturelle Literatur als Dekonstruktion von Wissen und Macht

Interkultureller Literatur wohnt also ein besonderes Potential der Beobachtung und Dekonstruktion epistemisch geronnener Formationen von Wissen und Macht inne. Dieses Potential und diese Leistungen sind Gegenstand der neueren hermeneutischen Beschäftigung mit interkultureller Literatur. Die hermeneutische Beschreibung interkultureller Poetiken könnte ohne die neuen Perspektiven aus den poststrukturalistischen Theorien schwerlich auskommen. Im Lichte poststrukturalistischer Ansätze konnte erwiesen werden, dass schon in Teilen der Aufklärung, Klassik und Frühromantik Absurdes und Unhaltbares an den Grenzziehungen zwischen Kulturen und Nationen offengelegt und Identitäten als Spur einer nicht abschließbaren Suche reformuliert wurden. Die Unmöglichkeit, sich selbst als ‚identisch‘ zu begreifen zählte bereits zu den wichtigen Denkfiguren der Frühromantik. Poststrukturalistische Theorien setzen an einer ähnlichen Stelle an und radikalisieren diese Überlegungen, wenn sie das Konzept der ‚Identität‘ ganz verabschieden und allen Sinn als bloße Gleitbewegung der ‚différance‘ (des ‚Differierens‘) auffassen.

Die neuere Hermeneutik interessiert sich durchaus ebenfalls für das Nachvollziehen oder rezipierende Neu-Entwerfen von Spuren der Differenz und für kulturelle, religiöse oder sonstige Unterscheidungen, die in Texten getroffen und wieder verworfen werden. Einige Texte, die Gegenstand dieser Einführung sind, zielen bereits in der Zeit um 1800 darauf, tradierte Unterscheidungs-Dispositive zu dekonstruieren und Grenzziehungen (beispielsweise zwischen vermeintlich überlegenen Kolonisierern und Kolonisierten oder zwischen dem westlichen Europa und dem ‚Orient‘) infrage zu stellen. Im 20. und 21. Jahrhundert dekonstruiert die Poetik Yoko Tawadas, der ein eigenes Kapitel in diesem Band gewidmet ist, in sehr elaborierter Weise die Vorstellung, man könne in sich geschlossene Kulturen sprachlich repräsentieren und von anderen, ebenfalls in sich geschlossenen Kulturen unterscheiden.

Jacques Derrida: différance

Die Dekonstruktion fragt nach einer Spur des Differierenden, des Nicht-Identischen, das Jacques Derrida mit dem Begriff différance (Derrida 2004) bezeichnete. Vereinfacht formuliert kann allein aufgrund der Zeitlichkeit allen Erlebens und Erkennens die ‚Identität‘ eines externen Gegenstands oder des eigenen Selbst nicht gedacht werden, ein Moment der Nicht-Identität, das einen Vorgang der Übersetzung einfordert, ist immer gegeben. Gerade lebendige Materie verändert sich von einem Augenblick zum nächsten, und das gilt auch für den Betrachter, für den beispielsweise von einem Moment zum anderen das, was er als ‚Vergangenheit‘ ansieht, anwächst und sich demzufolge andere Zusammenhänge, Stimmigkeiten und Evidenzen einstellen, die den gleichen Betrachtungsgegenstand (der sich zudem selber ebenfalls anderweitig verändert hat) in anderem Lichte erscheinen lassen. Selbst die versuchte Wiederholung des Selben kann nicht mit dem vorgängigen Akt identisch sein. Eine Betrachtung von Entitäten (von Kollektiven wie Völkern und Kulturen oder von Individuen) als unveränderte Einheiten, die eine diachrone Entwicklung durchlaufen, ist demnach nicht möglich bzw. eine Konstruktion, die die Komplexität der Transformationsprozesse ausblendet. Vielmehr legt die Dekonstruktion eine Spur des Differierens offen, die durch die Zeit gleitet und sich immer weiter verschiebt.

interne Heterogenität

Die interne Heterogenität von Kultur sowie ihr ständiger Transformationscharakter wurden nicht erst durch die Dekonstruktion, sondern bereits in der Zeit um 1800 in philosophischen wie auch in literarischen Schriften thematisiert (wenn auch eher am Rande). So spricht Johann Gottfried Herder die jahrhundertelange Existenz ‚interner Fremder‘ in Europa und auf anderen Kontinenten an, hält jedoch gleichzeitig an den Paradigmen ‚Volk‘ und ‚Nation‘ fest. Infolge der performativen Wende in den Kulturwissenschaften trifft man demgegenüber heute keine ontologischen Aussagen mehr über ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Kulturen‘. Vielmehr analysiert man diese Paradigmen als wirkmächtige Repräsentationen von Kollektiven, die über lange Zeiträume Selbstentwürfe geprägt und Machteffekte generiert haben. Weder Hermeneutik noch Dekonstruktion und weitere poststrukturalistische Ansätze greifen heute auf positivistische Begriffe von Identität zurück.

Einführung in die interkulturelle Literatur

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