Читать книгу Einführung in die interkulturelle Literatur - Michael Hofmann - Страница 13
4. Gender und Machtasymmetrien
ОглавлениеAnerkennung, Individualität und Subjektivierung
In einer ganzen Reihe poststrukturalistischer Theorien, insbesondere in Michel Foucaults Machttheorie und im Anschluss daran, fand seit den 1980er Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit der Zuschreibung geschlechtsspezifischer Merkmale und deren Wertung statt. Diese Fragen ragen in vielerlei Hinsicht in den Kern dieser Theorieansätze hinein, denn sie betreffen Anerkennung, Individualität und Subjektivierung, gesellschaftliche Makrostrukturen sowie Institutionen und ihre Legitimität.
‚Ungenauer‘ Name Gottes
Sowohl Jacques Derrida als auch Jacques Lacan haben sich mit dem ‚Namen Gottes‘ bzw. dem ‚Namen des Vaters‘, d.h. mit der sprachlichen Bezeichnung und Anrede Gottes, befasst. Diese Namen – die im Übrigen häufig mit Tabus belegt sind – stellen eine Paradoxie dar, denn Gott, der alles (einschließlich der Sprache) umfassen soll, kann nicht innerhalb der Sprache ‚auf den Begriff gebracht‘ oder mit einem Namen bezeichnet werden. Dennoch, so die poststrukturalistische Kritik Jacques Derridas und Jacques Lacans, finde sich in der Sprache eine symbolische Ausrichtung von Selbst und Welt an dem ‚Namen Gottes‘. Dieser fungiere als Garant der sprachlichen Ordnung und generiere eine Struktur gewerteter Dichotomien, wie diejenigen von Allgemeinem und Speziellem, Maßstab und gemessenem Objekt, Universellem und Partikulärem und schließlich und nicht zuletzt Geist und Materie sowie Herr und Knecht, die zwar nicht im ontologischen Sinne ‚wahr‘ seien, aber dennoch reale Machteffekte und kulturellen Sinn generieren würden. Dementsprechend würden auch ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ in eine solche Serie gewerteter Dichotomien eingereiht.
Judith Butler: Gender trouble – Die Performativität sprachlichen Handelns
Insbesondere die Theoretikerin Judith Butler hat sich – auch in Anlehnung an Michel Foucault – mit der ‚falschen Evidenz‘ dieser in Sprache, Macht und Erkenntniskategorien eingefrorenen, geschlechtlich codierten Asymmetrien befasst (Butler 1991; Butler 1995). Spätestens seit ihrem Buch Gender trouble gilt als selbstverständlich, dass ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ sich nicht aus der Materialität der Körper deduzieren lassen, sondern umgekehrt Erkenntniskategorien sind, die auf die Materie bezogen werden. ‚Geschlecht‘ bildet dabei durchaus keine Ausnahme, denn in poststrukturalistischen Theorien wird eine unüberbrückbare Differenz zwischen Sprache und Materie angenommen. Sprache ist demzufolge lediglich in der Lage, Erkenntniskategorien zu generieren, die Stimmigkeit suggerieren, weil insbesondere solche einfachen Relationen, wie beispielsweise Oppositionen, aber auch sonstige Kategorienraster den Anforderungen der Logik genügen. Ontologische Aussagen über Geschlecht zu treffen, ist aber in der Auffassung Butlers ebenso so unmöglich, wie die radikale Differenz einzelner ‚Völker‘ oder gar ‚Rassen‘ auf den Begriff zu bringen. So kann beispielsweise nicht bewiesen werden, dass ein bestimmter Baum gewiss eine Buche ist. Nachweisbar ist lediglich, dass in unserer Sprache und Kultur, unter Berücksichtigung des Forschungsstandes der Botanik wie auch des Alltagswissens, ein bestimmter Baum gemeinhin als Buche bezeichnet wird, womit sich bestimmte Annahmen und Erwartungen verbinden, beispielsweise, dass unter dem Mikroskop eine bestimmte Zellstruktur seiner Blätter erkennbar ist. Analog zur Buche ließen sich ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ oder jede andere Kategorisierung, die sich auf lebendige Materie bezieht, anführen. Diese als ‚linguistic turn‘ bezeichnete Denkfigur (Rorty 1967; Bachmann-Medick 2011) schränkt im ersten Schritt den Geltungsanspruch der Sprache stark ein – denn Sprache vermag es nicht, auf ‚Wahres‘ oder ‚Existentes‘ zu verweisen, sie konstruiert eben nur nach kulturellen Regeln ausdifferenzierten sprachlichen Sinn, der Kultur und Gesellschaft ausmacht, aber nicht in einer vom Menschen und von der Sprache unabhängigen Wirklichkeit eine Deckung besitzt. Folglich gibt es auch die Oppositionen, die die Sprache verwendet, in einer Welt der Ideen nicht ‚wirklich‘. Daraus resultiert im zweiten Schritt eine beträchtliche Erweiterung des Stellenwertes von Sprache für gesellschaftliche und kulturelle Prozesse: Sprache konstituiert Gesellschaft und Kultur und strukturiert jeden Erkenntnisprozess stark vor; dabei wird Sprache selbst gesellschaftlich und kulturell hergestellt. Die Einsicht in die ‚Performativität‘ (Butler 2006, S. 249–256) sprachlichen Handelns hat erhöhte Aufmerksamkeit für das Sprechen über Andere, etwa für asymmetrische Wertungen von Unterscheidungen usw. nach sich gezogen. Dabei ist es keineswegs neu, dass Gesellschaften den eigenen Sprachgebrauch reflektieren und Kategorien und Unterscheidungen verabschieden, historisieren oder modifizieren, weil sie sie für ethisch und moralisch nicht mehr vertretbar oder schlicht für überholt halten. Die Kategorie ‚Rasse‘ ist obsolet und nicht mehr vertretbar, die Unterscheidung ‚Sklave‘ vs. ‚Freier‘ wurde historisiert und die Opposition ‚Mann‘ vs. ‚Frau‘ fortwährend modifiziert. Dies alles sind Erscheinungsformen der Plastizität und Transformationsfähigkeit von Sprache, und daraus resultiert auch ein ethisch-politischer Rechtfertigungsdruck, der von dem Gedanken des autonomen Individuums und seiner Selbstbestimmung abgeleitet wurde und nun letztlich auf jeder einzelnen Sprache lastet.
Infragestellung des zweifach inferiorisierenden Repräsentationsregimes
Im Zusammenhang dieser Einführung ergibt sich daraus vor allem die Frage: Inwiefern und mit Hilfe welcher Verfahren sind literarische Texte in der Lage, interkulturelle Konstellationen zu entwerfen, in denen Geschlechterasymmetrien unterschiedlicher Kulturräume miteinander verglichen werden, ohne dass dabei die westeuropäischen Verhältnisse als Maßstab herangezogen werden (Uerlings 2006)? Gelingt es den Texten, jenes zweifach inferiorisierende Repräsentationsregime infrage zu stellen, welches im ‚kolonialen Paar‘ (bestehend aus dem männlichen ‚Kulturbringer‘ und der braunen oder schwarzen Frau als ‚edler Wilder‘) angelegt ist?
Uma Narayan: Kolonialismus und Geschlechterasymmetrien
Des Weiteren wird aus Sicht der Gender Studien kritisiert, dass sich insbesondere im 19. und 20., zuweilen aber auch noch im 21. Jahrhundert ein Blickregime auf andere Kulturräume herausgebildet hat, das ein ‚rückständiges‘ oder ‚frauenfeindliches‘ Geschlechterbild unterstellt. Zwar mag es solche Verhältnisse an westlichen Maßstäben gemessen durchaus geben, aber häufig blenden solche Beschreibungen die Verhandlungs- und Transformationsprozesse von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ aus, die auch in diesen Kulturräumen durchaus seit Jahrhunderten stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Insbesondere mit Bezug auf Indien haben mehrere Theoretikerinnen argumentiert, dass die aus westlicher Sicht geäußerte Klage über die Unterdrückung der Frauen häufig damit einherginge, dass die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um Machteffekte der Kategorie ‚Geschlecht‘ in Indien selbst von den westlichen Betrachtern kaum zur Kenntnis genommen würden. Im blinden Fleck des westeuropäischen Selbstverständnisses als ‚Kultur- und Emanzipationsbringer‘ läge, so die postkoloniale Theoretikerin Uma Narayan (Narayan 2011, S. 337–393), dass der Kolonialismus zumeist die Geschlechterasymmetrien in den kolonisierten Gebieten verstärkt habe, da die Kolonialherren überwiegend einheimische Männer als Verhandlungspartner für die kulturellen Transferprozesse auserkoren und die Frauen durch die eingeleiteten infrastrukturellen, produktionstechnischen und symbolischen Veränderungen noch schlechter gestellt hätten als zuvor. Sie begründet dies damit, dass in der Folge deren traditionelle Tätigkeiten (bestimmte Formen der Nahrungsbeschaffung, Verarbeitung von Stoffen etc.) entwertet und durch andere Produktionstechniken ersetzt worden seien, ohne dass die Frauen in angemessener Weise an diesen neuen Prozessen beteiligt worden wären, sodass ihr Stand sich im kulturellen Aushandlungsprozess von ‚Geschlecht‘ mitunter trotz rechtlicher Verbesserungen insgesamt verschlechtert habe.
Auch Gayatri Chakravorty Spivak kritisiert in ihrem berühmten Essay Can the Subaltern Speak (Spivak 1988, S. 271–313), dass indische Frauen in westlichen Darstellungen der Unterdrückung von Frauen in Indien nicht als Handelnde und Sprechende wahrgenommen, sondern in potenzierter Weise als Objekte imaginiert würden: Weiße Männer bemühten sich, braune Frauen vor braunen Männern zu retten, und bemerkten dabei nicht, dass sie dabei Handlungsspielräume von Frauen negierten und es hauptsächlich darum ginge, die Überlegenheit des westeuropäischen Patriarchats gegenüber dem indischen unter Beweis zu stellen. Dieser Kopplung von geschlechtlichen und kulturellen Machtasymmetrien gelte es, so Spivak, entgegenzuwirken. Westliche Beobachter täten besser daran, indische Frauen als Ansprechpartner und als Instanzen, die kulturelle Prozesse aushandeln, aufzusuchen, anzuhören und ernst zu nehmen, statt über ihre vermeintlich von der indischen Kultur hergestellte Passivität zu klagen.
Fragen an den literarischen Text
Auch von hier aus lassen sich zahlreiche Fragen an die literarischen Texte richten, wobei die Antworten nicht unbedingt mit der Zielrichtung der jeweiligen Poetik deckungsgleich sein müssen – diese Relation bedarf daher gesonderter Klärung. Gelingt es den Texten, insbesondere weibliche Stimmen aus Kulturräumen, die im diskursiv verfügbaren Wissen inferiorisiert wurden, so darzustellen, dass ihrer Person, ihren Erkenntniskategorien und ihrem Weltbezug nicht nur Sympathie, sondern auch Interesse entgegengerbracht werden? Kommt es zu überzeugenden Darstellungen einander überkreuzender, prinzipiell gleichwertiger Gegenblicke? Ziehen die europäischen Gesprächspartner es zumindest in Betracht, ihre eigenen Denkkategorien ausgehend von der Rede einer ‚orientalischen Frau‘ infrage zu stellen? – Bereits in der Zeit um 1800 entstehen Texte, für die man diese Fragen mit einiger Vorsicht bejahen kann.