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3. ‚Orientalismus‘ und Postkoloniale Studien
ОглавлениеEdward Said: Orientalism – Kontrapunktische Lektüre
Ein entscheidender Impuls für die Entwicklung der postcolonial studies ging von Edward Saids Schrift Orientalism aus dem Jahre 1978 aus, in welcher der aus Palästina stammende und in den USA lehrende Komparatist grundlegende Thesen über die Verbindung von kulturellen Fremdbildern und Stereotypen einerseits und kolonialen Machtverhältnissen andererseits präsentierte. Said zeigte, ausgehend von Konzepten Antonio Gramscis zur ‚kulturellen Hegemonie‘ und Michael Foucaults zur Diskursanalyse, dass der ‚Orient‘ als Konstrukt Europas zu begreifen sei, als ein Anderes Europas, durch das Europa seine Identität in Abgrenzung und in einem Gefühl der Überlegenheit definierte. ‚Orientalismus‘ wird als Diskurs begriffen; vermeintliche Eigenschaften des Orients werden Eigenschaften Europas gegenübergestellt. Dabei fand sich ‚Orientalismus‘ bereits in der vorkolonialen Geschichte Europas: die östlichen Fremden wurden in der Antike als ‚Barbaren‘ verstanden (obwohl gleichzeitig ein Kultur- und Wissenstransfer aus Ägypten und aus Asien stattfand) und im Mittelalter waren der ‚Orient‘ und die islamische Welt im Kontext der Kreuzzüge das Zentrum der Ungläubigen, mit denen es auch militärische Konfrontationen gab. Schließlich, so Said, ergab sich aber in der Neuzeit eine enge Verbindung von ‚Orientalismus‘ und Kolonialismus: das Wissen vom Orient wurde vor allem in Großbritannien und Frankreich an Herrschaft gekoppelt. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen orientalistischen Denkmustern ist seit Said ein wesentlicher Impuls der postkolonialen und interkulturellen Literaturwissenschaft, auch wenn die Konzepte Saids wegen eines gewissen Schematismus kritisiert und modifiziert wurden. So stellt sich die Frage nach einer grundlegenden Ambivalenz der mit dem ‚Orient‘ befassten Texte, die zwischen Faszination und Abwehr schwanken bzw. bisweilen sogar von der Überlegenheit des ‚Orients‘ ausgehen; die These von der durchgängigen Überlegenheit der Europäer gegenüber den ‚Orientalen‘ ist insbesondere angesichts der Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit in Zweifel zu ziehen. Die spezielle Frage nach deutschen und deutschsprachigen Orient-Diskursen ist ein gegenwärtiges Forschungsfeld der Germanistik, das sich noch in Bewegung befindet und das durch die aktuellen Migrationsbewegungen aus den arabischen Ländern und die weltpolitische Situation rund um die Krisen im Nahen Osten eine neue Aktualität gewonnen hat. In seinem Werk Kultur und Imperialismus hat Edward Said sein Konzept differenziert und in brillanten Studien die Methode der ‚kontrapunktischen Lektüre‘ entwickelt, in denen er komplexe Bezüge europäischer Autoren zum Orient präzise darstellte. Diese Studien sind zum Vorbild für analoge Bemühungen in der Germanistik geworden.
Homi Bhabha
In einem weiteren Sinne entwickelten sich die Postkolonialen Studien als angloamerikanische Forschungen zum Nachleben des Kolonialismus und zur Verbindung von europäischer Kultur/Literatur und Kolonialismus. Der aus Indien stammende und in den USA lehrende Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha entwickelte in seiner Studie The Location of Culture (zuerst 1994) eine viel beachtete (und bisweilen unkritisch und trivialisiert nachgeahmte) Konzeption, in der die Begegnungen zwischen Kolonialherren und Kolonialisierten nicht als einseitige Ausprägung eines Herrschaftsprozesses verstanden wurden, sondern in denen komplexe Wechselwirkungen zu beobachten waren, die Bhabha mit den viel verwendeten Termini ‚Hybridität‘, ‚Mimikry‘, ‚Dritter Raum‘ bezeichnete. Die kolonialen und auch die postkolonialen Beziehungen sind nach Bhabhas Ansicht durch eine Vermischung europäischer und außereuropäischer kultureller Elemente gekennzeichnet.
Gayatri Spivak – Sprechen der Subalternen
Die dritte besonders einflussreiche Vertreterin der postcolonial studies ist die ebenfalls aus Indien stammende und in den USA lehrende Gayatri Chakravorty Spivak, die in ihrer Studie Can the subaltern speak? (zuerst 1988) verdeutlichte, dass die Kolonialisierten und ihre Nachfahren auf Schwierigkeiten der Artikulation stoßen, weil sie sich der Sprache der Kolonialherren bedienen müssen – der und vor allem die Subalterne hat keine eigene Sprache und dieses Problem betrifft auch die postkoloniale Theorie selbst, die sich in den US-amerikanischen Metropolen entwickelt hat und mit der Frage konfrontiert ist, ob sie sich etwa als (unmögliche) Repräsentantin der Subalternen begreift, wobei Spivak vor allem den Gender-Aspekt der postkolonialen Situation betont, weil selbst ‚progressive‘ Europäer und Amerikaner sich immer wieder bemüßigt fühlen, ‚im Namen‘ vor allem der weiblichen Subalternen zu sprechen.
Autoreflexivität der Literatur und Multiperspektivik
Insgesamt zeigt sich bei diesem kurzen Überblick über die postkolonialen Theoriekonzepte, dass diese der Interkulturellen Literaturwissenschaft die Asymmetrie interkultureller Begegnungen in politischen Verhältnissen wie dem Kolonialismus verdeutlichen und dass die Frage nach dem Sprechen über den Anderen zur Kernfrage der interkulturellen und postkolonialen Literatur und Kultur wird: Indem nämlich die unauflösbare Verbindung von Herrschaft und Sprechen über den Anderen verdeutlicht wird, stellt sich die Frage, wie denn angemessen über den Anderen gesprochen werden kann. Die Antwort kann nicht sein, dass es einen völlig herrschaftsfreien und unbelasteten Diskurs über den Anderen geben soll; vielmehr müssen die Aporien des interkulturellen Diskurses in diesem immer mitbedacht werden. Die Literatur kann dieses Problem kreativ bearbeiten, indem sie zum Beispiel autoreflexiv arbeitet und dabei die Voraussetzungen ihres eigenen Sprechens kritisch befragt oder verschiedene Formen der Multiperspektivik in ihren Diskurs einarbeitet und so die Notwendigkeit darlegt, etwa bornierte eurozentrische Perspektiven zu überwinden.