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I. Grundlagen: Was ist interkulturelle Literatur?

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Kultur – Interkulturalität

‚Kultur‘ wird im Sinne eines ‚erweiterten Kulturbegriffs‘ als Ensemble des vom Menschen als sinnvoll Erachteten und als Ensemble der planvoll veränderten Welt verstanden (vgl. hier und im Folgenden Hofmann 2006, S. 9– 60). ‚Kultur‘ in diesem weiten Sinne trennt den Menschen von der ‚Natur‘; indem der Mensch die Natur verändert, stiftet er die menschliche Kultur. Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur ist dabei selbst eine Denkfigur. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Leben und Materie (also ‚Natur‘) außerhalb des menschlichen Bewusstseins und Verstandes und unabhängig von seinen gestalterischen Bemühungen (also unabhängig von ‚Kultur‘) existieren. Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert spricht man aber auch von ‚Kulturen‘ im Plural und versteht unter ‚Kulturen‘ idealtypische Gemeinschaften mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Traditionen. Benedict Anderson bezeichnet die Nationen als ‚imaginäre Gemeinschaften‘ (vgl. Anderson 2005), das heißt als Gemeinschaften, deren Identität mit kulturellen Hervorbringungen und einem gemeinsamen Diskurs gestiftet wird, die aber immer einer Veränderung unterworfen sind und die – dies ist von zentraler Bedeutung – nur im Austausch mit anderen Nationen und Kulturen verstanden werden können. Hier wird der Begriff der ‚Interkulturalität‘ relevant: Er bezeichnet den Austausch zwischen den Kulturen und die Tatsache, dass kulturelle Identität nur in diesem Austausch und in der Mischung zwischen Eigenem und Fremdem begriffen werden kann. Einzelne Kulturen sind nicht in sich homogen und es lassen sich zahlreiche Bezugsgrößen finden, die Kulturen untereinander als ähnlich erscheinen lassen. Dennoch ist die Rede von Kulturen in der Mehrzahl gerechtfertigt. Erstens haben sich trotz der Relativität und Brüchigkeit der Grenzziehungen über Jahrhunderte hinweg wirkmächtige, oft auch staatlich institutionalisierte Sprach- und Diskursräume herausgebildet, die ansprechbar bleiben müssen; und zweitens ist es sinnvoll, der Pluralität und dem hybriden Charakter von Selbst- und Weltbezügen, kollektiven Erinnerungen und tradierten Wissensbeständen Rechnung zu tragen (ohne radikale Differenz zu implizieren).

Literatur und Interkulturalität

Literatur galt insbesondere im 19. Jahrhundert als ein wichtiges Moment der Stiftung und Weiterentwicklung kultureller Identität in den ‚imaginären Gemeinschaften‘ der Nationen; sie war und ist aber auch immer schon ein Ort des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen und ein Raum der kritischen Reflexion von kollektiven Selbstentwürfen. Literatur gestaltet somit kulturelle Identität mit, sie gestaltet aber immer auch die Begegnung mit anderen Kulturen und ist zudem in der Lage, Imaginationen der Homogenität, wie beispielsweise ‚Volk‘ oder ‚Nation‘ zu problematisieren. Sie stellt die Formen und Denkfiguren zur Disposition, mittels derer sich das kulturelle ‚Selbst‘ entwirft, und kann darlegen, dass auch anderes möglich wäre.

Alterität und Fremdheit

Die Erfahrung von ‚Alterität‘ bedeutet die Konfrontation mit einem kulturellen Anderen, dessen Verschiedenheit vom Eigenen sich erfahren lässt (wobei in dieser Begriffsverwendung jede Wertung suspendiert erscheint). ‚Fremdheit‘ bedeutet Alterität mit einer intensiven Erfahrung der Differenz, die in Abgrenzung umschlagen kann; das Fremde kann zum ‚Befremdenden‘ werden (engl. ‚strange‘, frz. ‚étrange‘). Individuen und Kulturen befinden sich in einem ständigen Transformationsprozess, der sich den Irritationen und Anregungen durch das ‚Fremde‘ verdankt. Auf der anderen Seite kann die Begegnung mit Fremdem von Überforderungs- und Besitzstandswahrungsängsten überschattet sein. Der Umgang mit dem Anderen und dem Fremden ist aus all den genannten Gründen ein facettenreiches und wichtiges Problem des menschlichen Zusammenlebens; der zivile Umgang mit Alterität und Fremdheit ist die Basis eines friedlichen Miteinanders innerhalb jeder Gesellschaft und auch zwischen verschiedenen Gesellschaften. Er ermöglicht schließlich auch die bereits um 1800 angedachte Vorstellung von der ‚Weltgesellschaft‘.

Von der Odysee zur Migrationsliteratur

‚Alterität‘ und ‚Fremdheit‘ sind Grundthemen und Grundaspekte der Literatur von der Odyssee bis zur Migrationsliteratur der Gegenwart. Indem Literatur das Fremde mit dem Eigenen verbindet, leistet sie einen Beitrag zu interkultureller Kommunikation und interkultureller Kompetenz. ‚Deutsche‘ Literatur stand immer schon im Austausch mit anderen Kulturen und Literaturen; so gut wie alle kanonischen Texte der deutschsprachigen Literatur gestalten die Begegnung mit dem Anderen und dem Fremden: von Parzival über Iphigenie auf Tauris, Heinrich von Ofterdingen, Der Tod in Venedig, Die Blechtrommel bis zu Der Weltensammler. In der interkulturellen Literatur aus den letzten, stark von Migration und Transmigration geprägten Jahrzehnten rückt die Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Fremdheit für den eigenen Selbstentwurf, aber auch mit Heterogenität, hybriden Äußerungen, Dialog und Anerkennung unübersehbar ins Zentrum der deutschsprachigen Literatur.

Ziele des Buches

Dieses Buch stellt zunächst theoretische und methodische Ansätze zur Erforschung interkultureller Literatur bereit und gibt dann einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung interkultureller Bezüge in der deutschsprachigen Literatur. Unser besonderes Augenmerk gilt dann der interkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die sich im Zuge der Globalisierung und insbesondere der Migrationsbewegungen seit den 1960er Jahren entwickelt hat und die besonders dadurch gekennzeichnet ist, dass hier Autorinnen und Autoren mit nicht-deutscher Muttersprache zu wichtigen Akteuren dieser Gegenwartsliteratur geworden sind. Exemplarische Textanalysen wichtiger Werke dieser Gruppe bilden den Gegenstand des abschließenden Teils dieser Einführung.

Einführung in die interkulturelle Literatur

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