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EINFÜHRUNG
ОглавлениеJarvious Cotton darf nicht wählen. Wie schon seinem Vater, seinem Großvater, seinem Urgroßvater und seinem Ururgroßvater wird auch ihm das Recht verweigert, an unserer Demokratie teilzuhaben. Cottons Stammbaum erzählt die Geschichte mehrerer Generationen schwarzer Männer, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden, denen jedoch die elementarste Freiheit, die die Demokratie verspricht, vorenthalten wurde – die Freiheit, jene zu wählen, die die Regeln aufstellen und die Gesetze machen und damit das Leben der Menschen bestimmen. Cottons Ururgroßvater durfte nicht wählen, weil er Sklave war. Sein Urgroßvater wurde vom Ku-Klux-Klan erschlagen, weil er versucht hatte, an einer Wahl teilzunehmen. Sein Großvater wurde durch Einschüchterungen des Klans am Wählen gehindert. Sein Vater wurde durch die Wahlsteuer und Lese- und Schreibtests von der Wahl ausgeschlossen. Und Jarvious Cotton selbst kann nicht wählen, weil er, wie viele Schwarze in den Vereinigten Staaten, als Straftäter gebrandmarkt und momentan auf Bewährung ist.1
Auf Cottons Geschichte trifft in vielerlei Hinsicht das alte Sprichwort zu: »Je mehr sich die Dinge verändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.« Jede Generation wendet neue Taktiken an, um dieselben Ziele wie die ihrer Vorfahren zu erreichen – die Ziele der Gründungsväter. Afroamerikanern die Bürgerrechte vorzuenthalten, galt als entscheidende Voraussetzung für die Bildung des ersten Staatenbunds. Heute, Hunderte Jahre später, ist Amerika immer noch keine egalitäre Demokratie. Die Argumente und Rationalisierungen, die aufgetischt werden, um die rassistische Exklusion und Diskriminierung in ihren verschiedenen Formen zu rechtfertigen, verändern sich und entwickeln sich weiter, aber das Resultat bleibt weitgehend dasselbe. In den Vereinigten Staaten wird heute einem außerordentlich hohen Prozentsatz schwarzer Männer wie während der gesamten amerikanischen Geschichte mit Billigung des Gesetzes das Wahlrecht verweigert. Und auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und bei der Besetzung von Geschworenenjurys werden sie genauso legal diskriminiert wie einst ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern.
Was sich seit dem Zusammenbruch von Jim Crow verändert hat, hat weniger mit der grundlegenden Struktur unserer Gesellschaft zu tun als mit der Sprache, in der wir es rechtfertigen. In der Ära der »Farbenblindheit«, in der die Hautfarbe angeblich keine Rolle mehr spielt, ist es gesellschaftlich nicht mehr zulässig, Diskriminierung, Exklusion und soziale Missachtung explizit mit der Hautfarbe zu begründen. Also tun wir es nicht mehr. Stattdessen etikettieren wir People of Color mithilfe unseres Strafrechtssystems als »Kriminelle« und bedienen uns dann all der Methoden, die wir angeblich hinter uns gelassen haben. Heute ist es völlig legal, Kriminelle auf jede mögliche Art und Weise zu benachteiligen, wie es einst rechtens war, schwarze Amerikaner zu benachteiligen. Sobald jemand einmal als Verbrecher gilt, werden die alten Diskriminierungsformen – Benachteiligung in der Arbeitswelt und bei der Wohnungssuche, die Verweigerung des Wahlrechts und des Rechts auf Bildung, von Lebensmittelmarken und anderer Sozialleistungen sowie der Beteiligung an Geschworenengerichten – plötzlich legal. Ein verurteilter Straftäter hat kaum noch Rechte und genießt unter Umständen weniger Respekt als ein schwarzer Mann, der auf dem Höhepunkt von Jim Crow in Alabama lebte. Wir haben die auf Rasse beruhenden Kasten in Amerika nicht abgeschafft, wir haben sie lediglich umdefiniert.
Die in diesem Buch dargelegten Schlussfolgerungen sind mir nicht leichtgefallen. Vor zehn Jahren hätte ich mich hartnäckig gegen die hier getroffene zentrale Aussage gewehrt – nämlich, dass es heute eine Art rassisches Kastensystem in den Vereinigten Staaten gibt. Wäre Barack Obama damals schon Präsident gewesen, hätte ich dem entgegengehalten, dass seine Wahl den Sieg des Landes über die rassisch definierte Kaste beweise und der letzte Sargnagel für Jim Crow sei. Meine Freude darüber wäre zwar durch den Gedanken gedämpft worden, dass wir noch eine große Strecke zurücklegen müssten, um das gelobte Land der Rassengleichheit in Amerika zu erreichen, aber meine Überzeugung, dass nichts auch nur annähernd Ähnliches wie Jim Crow mehr in diesem Land existiere, wäre unerschütterlich gewesen.
Heute wird meine Begeisterung über Obamas Wahl durch eine viel größere Ernüchterung eingedämmt. Als Afroamerikanerin mit drei kleinen Kindern, die nie eine Welt kennenlernen werden, in der ein Schwarzer nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte, war ich am Wahlabend mehr als begeistert. Doch als ich die Feier zu diesem Anlass voller Hoffnung und Enthusiasmus verließ, wurde ich sofort mit der brutalen Realität des Neuen Jim Crow konfrontiert. Ein Schwarzer kniete im Rinnstein, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen, während mehrere Polizisten um ihn herumstanden, sich unterhielten, Witze rissen und seine Menschenwürde in den Staub traten. Aus dem Gebäude strömten Leute, viele starrten einen Augenblick lang den Schwarzen an, der vor ihnen auf der Straße kauerte, wandten dann aber den Blick ab. Was bedeutete für ihn die Wahl Barack Obamas?
Wie viele Bürgerrechtsanwälte wurde ich durch die in den 1950er und 1960er Jahren errungenen Siege angeregt, Jura zu studieren. Selbst angesichts des wachsenden sozialen und politischen Widerstands gegen Fördermaßnahmen wie die »Affirmative Action«, hielt ich an meinem Glauben fest, dass die Übel von Jim Crow hinter uns lagen, es aber noch ein weiter Weg zu einer egalitären, multiethnischen Demokratie war, wir bereits echte Fortschritte gemacht hatten und nun kämpfen mussten, um auf den Siegen der Vergangenheit aufbauen zu können. Ich hielt es für meine Aufgabe als Bürgerrechtsanwältin, mich mit den Verfechtern des Rassenfortschritts zu verbünden, um Angriffe auf die Affirmative Action abzuwehren und die Reste der Jim-Crow-Segregation zu beseitigen, vor allem unser immer noch segregiertes und ungerechtes Bildungssystem. Ich hatte begriffen, dass die Probleme, die die armen People of Color plagten – unter anderem auch die Kriminalität und die zunehmenden Inhaftierungsraten, die eine Folge von Armut und fehlendem Zugang zu einer guten Ausbildung waren –, eine Folge des Erbes von Sklaverei und Jim Crow sind. Keinen Augenblick habe ich damals ernsthaft die Möglichkeit erwogen, dass in diesem Land ein neues rassisches Kastensystem wirksam sein könnte. Das neue System war rasch entwickelt und umgesetzt worden, und es war weitgehend unsichtbar, selbst für Menschen wie mich, die den Großteil ihrer Zeit mit dem Kampf um Gerechtigkeit verbrachten.
Dass es ein neues rassisches Kastensystem geben könnte, kam mir erstmals vor über zehn Jahren in den Sinn, als mir ein hellorangefarbener Zettel in die Augen fiel. Ich bemerkte ihn, als ich rannte, um meinen Bus zu erwischen. Er war an einem Telefonmasten befestigt, und darauf stand in großen schreienden Buchstaben: DER KRIEG GEGEN DIE DROGEN IST DAS NEUE JIM CROW. Ich blieb kurz stehen und überflog hastig den Text. Eine radikale Gruppe hielt ein Gemeindetreffen zum Thema Polizeibrutalität, das neue »Three Strikes«-Gesetz in Kalifornien und die Ausweitung des amerikanischen Gefängnissystems ab. Die Veranstaltung sollte in einer kleinen Kirche ein paar Häuserblocks entfernt stattfinden, in der es nur Platz für fünfzig Besucher gab. Ich seufzte und dachte: »Ja, das Strafjustizsystem ist in vielerlei Hinsicht rassistisch, aber es ist wirklich nicht hilfreich, einen so absurden Vergleich anzustellen. Die Leute werden doch denken, ihr seid verrückt.« Dann überquerte ich die Straße und sprang in den Bus. Ich fuhr zu meinem neuen Arbeitsplatz als Leiterin des Racial Justice Project of the American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien.
Ich trat meine Arbeit bei der ACLU in der Annahme an, dass es in unserem Strafjustizsystem wie in allen größeren Institutionen unserer Gesellschaft bewusste wie unbewusste rassistische Vorurteile gab. Als Anwältin, die an zahlreichen Sammelklagen wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz beteiligt gewesen war, kannte ich die vielen Formen, in denen Rassenklischees die subjektiven Entscheidungsfindungsprozesse auf allen Ebenen einer Organisation beeinflussen können und welche verheerenden Folgen das haben kann. Ich war vertraut mit den Herausforderungen bei der Reformierung von Institutionen, in denen rassisch bestimmte Hierarchien als normal galten – als die natürliche Folge unterschiedlicher Bildung, Kultur, Motivation und, wie manche immer noch glauben, angeborener Fähigkeiten. In meiner Zeit bei der ACLU konzentrierte ich mich statt auf die Diskriminierung am Arbeits platz mehr und mehr auf eine Strafjustizreform und arbeitete gemeinsam mit anderen daran, rassistische Vorurteile zu benennen und zu beseitigen, wann und wo immer sie ihr hässliches Gesicht zeigten.
Als ich meinen Posten bei der ACLU aufgab, hatte ich den Verdacht, dass ich mich hinsichtich des Strafjustizsystems geirrt hatte. Es war nicht nur eine unter vielen mit Vorurteilen behafteten Institutionen, sondern eine völlig andere Geschichte. Die Aktivisten, die den Zettel an den Telefonmast geheftet hatten, waren nicht verrückt; ebenso wenig die vereinzelten Anwälte und Bürgerrechtsvertreter, die Verbindungen zwischen der Masseninhaftierung und früheren Formen der sozialen Kontrolle herstellten. Ziemlich spät erkannte ich, dass die Masseninhaftierung in den Vereinigten Staaten ein erstaunlich umfassendes und gut verschleiertes System rassistischer Gesellschaftskontrolle ist, das verblüffend ähnlich wie Jim Crow funktioniert.
Meiner Erfahrung nach sehen Menschen, die einmal im Gefängnis gesessen haben, meist schnell die Parallelen zwischen diesen Systemen sozialer Kontrolle. Nach ihrer Entlassung wird ihnen oft das Wahlrecht verweigert, sie dürfen nicht als Geschworene tätig sein und werden auf eine segregierte und entwürdigende Existenz reduziert. Durch ein ganzes Dickicht von Gesetzen, Vorschriften und informellen Regeln, die allesamt durch ein soziales Stigma enorm verstärkt werden, werden sie an den Rand der Gesellschaft verwiesen und aus der Arbeitswelt ausgeschlossen. Per Gesetz wird ihnen das Recht auf Arbeit, eine Wohnung und öffentliche Fürsorge versagt – so, wie Afroamerikaner in der Ära von Jim Crow einst durch Rassentrennung zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden.
Wer aus bequemer Distanz auf diese Welt blickt – und zugleich Mitgefühl mit der sogenannten Unterschicht empfindet –, interpretiert die Erfahrungen der in die Mühlen der Strafjustiz geratenen Menschen meist vorwiegend durch die Brille einer popularisierten Sozialwissenschaft und schreibt den erschreckenden Anstieg der Inhaftierungsraten unter den People of Color den vorhersehbaren, wenn auch bedauerlichen Folgen von Armut, Rassentrennung, ungleichen Bildungschancen und dem Drogenmarkt zu, wie man ihn sich eben vorstellt, nämlich als einen, in dem die meisten Drogenhändler schwarzer oder brauner Hautfarbe seien. Gelegentlich höre ich bei meiner Arbeit, dass der Krieg gegen die Drogen womöglich ein rassistischer Plan sei, die Schwarzen auf ihren Platz zu verweisen. Solche Bemerkungen waren meist von einem Augenzwinkern begleitet, das den Eindruck vermitteln sollte, dieser Gedanke sei einem zwar tatsächlich schon mal in den Sinn gekommen, doch das nehme man wie jeder vernünftige Mensch natürlich nicht ernst.
Die meisten glauben, der Krieg gegen die Drogen sei die Reaktion auf den Niedergang der Innenstädte durch die Ausbreitung von Crack. Aus dieser Sicht betrachtet spiegeln die rassisch bedingten Unterschiede bei den Verurteilungen und Strafen wegen Drogendelikten sowie die explosionsartige Zunahme der Gefängnispopulation nur die übereifrigen – aber wohlgemeinten – Bemühungen des Staates wider, der grassierenden Drogenkriminalität in den armen Minderheitenvierteln Herr zu werden. Angesichts der sensationslüsternen Medienberichte über Crack in den 1980er und 1990er Jahren ist diese Ansicht vielleicht verständlich, aber sie ist schlichtweg falsch.
Es stimmt zwar, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für Crack zu einer drastischen Steigerung der Ausgaben für den Krieg gegen die Drogen (und für die Strafmaßnahmen, die die Unterschiede bei den Inhaftierungsraten verschärft haben) geführt haben, es stimmt aber nicht, dass dieser Krieg eine Antwort auf die Crack-Problematik ist. Präsident Ronald Reagan verkündete den bis heute geführten Krieg gegen die Drogen im Jahr 1982, das heißt, bevor Crack zum Thema in den Medien wurde beziehungsweise in armen schwarzen Communitys zu katastrophalen Verhältnissen führte. Ein paar Jahre später breitete sich Crack rasch in den armen schwarzen Communitys von Los Angeles und später in allen Städten des Landes aus.2 Im Rahmen ihrer Strategie, von der Öffentlichkeit und der Legislative Unterstützung für den Krieg zu erhalten, stellte die Regierung Reagan 1985 dann zusätzliches Personal ein, das öffentlich über das Auftauchen der neuen Droge Crack berichten sollte.3 Die Medienkampagne war außerordentlich erfolgreich.
Fast über Nacht waren die Zeitungen und Fernsehsender angefüllt mit Bildern von schwarzen »Crack-Huren«, »Crack-Dealern« und »Crack-Babys« – von Bildern, die die schlimmsten rassistischen Klischees über die armen Innenstadtbewohner zu bestätigen schienen. Der Medienhype um die »neue Teufelsdroge« trug dazu bei, dass aus einem ambitionierten Bundesprojekt zur Drogenbekämpfung ein echter Krieg wurde.
Der Zeitpunkt der Crack-Kampagne nährte Verschwörungstheorien und allgemeine Spekulationen, der Krieg gegen die Drogen sei womöglich Teil eines Plans der Regierung, den schwarzen Bevölkerungsteil in den Vereinigten Staaten auszulöschen. Von Beginn an kursierten auf den Straßen Gerüchte, Crack und andere Drogen würden von der CIA in die schwarzen Communitys eingeschleust. Schließlich nahm sogar die Urban League die Völkermordvorwürfe ernst. So hieß es 1990 in ihrem Bericht »The State of Black America«: »Es gibt einen Begriff, dem man sich nicht verschließen kann, wenn man den alles durchdringenden und heimtückischen Charakter des Drogenproblems für die Afroamerikaner zur Kenntnis nehmen will. So schwer es zu akzeptieren ist, es handelt sich um den Begriff des Völkermords.«4 Wie sich herausstellen sollte, waren die zunächst als abwegig verworfenen Verschwörungstheorien dann doch nicht völlig falsch. Im Jahr 1998 räumte die CIA ein, dass von ihr unterstützte nicaraguanische Guerilla-Armeen Drogen in die USA schmuggelten – Drogen, die dann auf den Straßen der innerstädtischen Viertel in Gestalt von Crack landeten. Des Weiteren bekannte die CIA mitten im Krieg gegen die Drogen, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Drogennetzwerke behindert zu haben, die ihren verdeckten Krieg in Nicaragua mitfinanzierten.5
Die CIA gab, das muss betont werden, nie zu (und es wurde auch nie bewiesen), dass sie die Zerstörung der schwarzen Communitys beabsichtigte, indem sie Drogen in die Vereinigten Staaten schmuggeln ließ. Trotzdem ist der kühne Völkermordvorwurf von Verschwörungstheoretikern gewiss verzeihlich, bedenkt man die verheerenden Folgen des Crack-Konsums und des Kriegs gegen die Drogen sowie den seltsamen Zufall, dass es unter den Afroamerikanern plötzlich zu einem schwerwiegenden Crack-Problem kam, nachdem – nicht bevor – dieser Krieg verkündet worden war. Er begann sogar zu einer Zeit, als der Drogenkonsum zurückging,6 und führte zu einer sprunghaften Zunahme von Verhaftungen und Strafurteilen wegen Drogendelikten vor allem für People of Color.
Die Folgen des Kriegs gegen die Drogen sind schockierend. In weniger als dreißig Jahren stieg die Gefängnispopulation in den USA von etwa 300.000 auf über zwei Millionen, woran Verurteilungen wegen Drogendelikten den größten Anteil hatten.7 Inzwischen haben die Vereinigten Staaten die höchste Inhaftierungsrate der Welt und stellen damit die fast aller anderen entwickelten Länder in den Schatten, sogar die in äußerst repressiven Regimen wie dem russischen, chinesischen und iranischen. In Deutschland kommen auf 100.000 Einwohner, Erwachsene und Kinder, 93 Häftlinge, in den Vereinigten Staaten ist die Rate mit 750 pro 100.000 etwa achtmal so hoch.8
Der Aspekt der Hautfarbe bei der Masseninhaftierung ist besonders augenfällig. Kein anderes Land der Welt steckt einen so hohen Anteil seiner Minderheiten ins Gefängnis. In Washington, der Hauptstadt unseres Landes, landen Schätzungen zufolge drei von vier jungen schwarzen Männern (und fast 100 Prozent in den ärmsten Vierteln) irgendwann einmal im Gefängnis.9 Ähnliche Inhaftierungsraten verzeichnen die schwarzen Communitys in ganz Amerika.
Diese unübersehbare Einseitigkeit lässt sich nicht mit der Zahl der Drogendelikte erklären. Studien zeigen, dass Menschen aller Hautfarben im selben Maß Drogen konsumieren und dealen.10 Wenn in Stu dien ein signifikanter Unterschiede erkennbar ist, dann der, dass Weiße, insbesondere weiße Jugendliche, eher Drogendelikte begehen als People of Color.11 Allerdings würde das keiner vermuten, der eins unserer Gefängnisse besucht, denn sie sind voll von schwarzen und braunen Drogendelinquenten. In manchen Bundesstaaten ist die Zahl schwarzer Männer, die wegen Drogenvorwürfen ins Gefängnis gesteckt werden, 20-bis 25-mal so hoch wie die weißer Männer.12 Und in vom Krieg gegen die Drogen zerstörten Großstädten haben heute 80 Prozent der jungen Afroamerikaner Vorstrafen und sind deshalb für den Rest ihres Lebens einer durch das Gesetz legitimierten Diskriminierung ausgesetzt.13 Diese jungen Männer sind Teil einer wachsenden Unterkaste, die dauerhaft eingeschlossen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist.
Manch einer mag überrascht sein, dass die Drogenkriminalität ab- und nicht zunahm, als den Drogen der Krieg erklärt wurde. Historisch betrachtet ist es nichts Neues, wenn zwischen Verbrechen und Strafe keinerlei Korrelation besteht. Soziologen stellen immer wieder fest, dass der Staat Bestrafung vorwiegend als Mittel der sozialen Kontrolle benutzt und daher Ausmaß und Schwere der Bestrafung mit den tatsächlich begangenen Verbrechen nichts zu tun haben.14 So erklärt beispielsweise Michael Tony in seinem Buch Thinking About Crime: »Regierungen entscheiden, wie viel Strafe sie wünschen, und diese Entscheidungen stehen in keinem einfachen Zusammenhang mit den Kriminalitätsraten.«15 Dies, so betont er, wird am deutlichsten sichtbar, wenn man internationale Vergleiche anstellt. Obwohl die Kriminalität in den Vereinigten Staaten kaum höher ist als in anderen westlichen Ländern, ist die Inhaftierungsrate dort sprunghaft angestiegen, woanders hingegen stabil geblieben oder gesunken. Zwischen 1960 und 1990 beispielsweise waren die Kriminalitätsraten Finnlands, Deutschlands und der USA nahezu identisch. Die Inhaftierungsrate in den USA vervierfachte sich jedoch, in Finnland fiel sie um 60 Prozent, und in Deutschland blieb sie gleich.16 Trotz nahezu identischer Kriminalitätsraten fiel also das staatlich verordnete Strafmaß völlig unterschiedlich aus.
Die Kriminalitätsrate in den USA liegt gegenwärtig unter dem internationalen Durchschnitt, und dennoch weist das Land heute eine Inhaftierungsrate auf, die die anderer Industrienationen um das Zehnfache übersteigt17 – eine Entwicklung, die unmittelbar auf den Krieg gegen die Drogen zurückzuführen ist. Das einzige Land der Welt, das ähnliche Inhaftierungszahlen zu vermelden hat, ist Russland, und nirgendwo sonst auf der Welt landet ein so erschreckender Prozentsatz ethnischer Minderheiten im Gefängnis wie in den USA.
Die nüchterne Wahrheit lautet, dass das amerikanische Strafsystem aus Gründen, die im Großen und Ganzen nichts mit der gegenwärtigen Kriminalitätsentwicklung zu tun haben, eine in der Weltgeschichte beispiellose Methode sozialer Kontrolle darstellt. Man könnte meinen, dass schon allein aufgrund von dessen Dimensionen die Mehrheit der Amerikaner davon tangiert sein müsse, doch es trifft vor allem Minderheiten. Diese Entwicklung verblüfft, vor allem wenn man bedenkt, dass Mitte der 1970er Jahre die angesehensten Kriminalwissenschaftler voraussagten, das Gefängnissystem werde bald verschwunden sein. Haftstrafen würden nur minimal vor Verbrechen abschrecken, schlussfolgerten viele Experten. Wer sinnvolle wirtschaftliche und soziale Chancen habe, begehe wahrscheinlich auch ohne eine drohende Gefängnisstrafe kein Verbrechen, und diejenigen, die ins Gefängnis wanderten, würden in der Zukunft mit höchster Wahrscheinlichkeit wieder straffällig. Den zunehmenden Konsens unter Fachleuten spiegelte wohl am besten eine Empfehlung der National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals aus dem Jahr 1973 wider, in der es hieß, dass »keine neuen Haftanstalten für Erwachsene gebaut und bestehende Jugendhaftanstalten geschlossen werden sollten«.18 Diese Empfehlung beruhte auf der Erkenntnis, dass »das bundesstaatliche und staatliche Gefängnis und die Besserungsanstalt nur Misserfolge gebracht haben. Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass diese Institutionen zu Kriminalität führen, statt sie zu verhindern«.19
Heute werden Aktivisten, die für »eine Welt ohne Gefängnisse« eintreten, häufig als Phantasten abgetan, doch noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte der Gedanke, dass es unserer Gesellschaft ohne Gefängnisse besser gehen würde – und das Ende der Gefängnisse mehr oder weniger unausweichlich sei –, nicht nur die zentrale kriminalwissenschaftliche Debatte, sondern löste auch eine landesweite Kampagne von Reformern aus, die einen Stopp des Gefängnisbaus forderten. Marc Mauer, der geschäftsführende Direktor des Sentencing Project, weist dar auf hin, dass im Rückblick das Bemerkenswerteste an der Moratoriumskampagne der Kontext war, in dem sie stattfand. Im Jahr 1972 saßen landesweit knapp 350.000 Menschen im Gefängnis, heute sind es zwei Millionen. Die Inhaftierungsrate befand sich 1972 auf einem so niedrigen Niveau, wie wir es heute nicht mehr für möglich halten, während sie für die Unterstützer der Kampagne unerhört hoch war. »Den Unter stützern des Moratoriumsbegehrens kann man ihre Naivität angesichts dessen, dass der bevorstehende Ausbau des Gefängnissystems in der Menschheitsgeschichte beispiellos war, nachsehen«, meint Mauer.20 Denn niemand konnte sich vorstellen, dass sich in der eigenen Lebenszeit die Gefängnispopulation mehr als verfünffachen würde. Für viel wahrscheinlicher hielt man die Abschaffung der Gefängnisse.
Doch nichts scheint gegenwärtig ferner zu liegen. Und trotz der nie da gewesenen Inhaftierungsraten in der afroamerikanischen Community verhält sich die Bürgerrechtsbewegung seltsam still. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird einer von drei jungen afroamerikanischen Männern eine Zeit lang im Gefängnis verbringen, und in manchen Städten befindet sich gegenwärtig über die Hälfte aller schwarzen jungen Männer unter Kontrolle der Strafjustiz – das heißt, sitzt im Gefängnis oder steht unter Bewährung.21 Dennoch wird die Masseninhaftierung im Gegensatz zur Rassenjustiz oder den Bürgerrechten (beziehungsweise deren Krise) meist lediglich als Thema der Strafjustiz betrachtet.
Die Aufmerksamkeit der Bürgerrechtsbewegungen richtet sich vorwiegend auf andere Fragen wie die Affirmative Action. In den letzten zwanzig Jahren hat praktisch jede progressive, nationale Bürgerrechtsgruppe im Land für die Verteidigung der Affirmative Action mobilisiert und demonstriert. Der Kampf um diese Art der Minderheitenförderung in der höheren Bildung und somit für die Erhaltung der Vielfalt in den elitärs ten Colleges und Universitäten des Landes verschlingt einen Großteil der Ressourcen der Bürgerrechtler und beherrscht den Diskurs über Rassengerechtigkeit in den Massenmedien, was in der allgemeinen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, die Affirmative Action sei die Hauptfront in den amerikanischen Rassenbeziehungen – obwohl sich unsere Gefängnisse mit schwarzen und braunen Männern füllen.
Ich kann diese Entwicklung aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich in die ACLU eintrat, glaubte niemand daran, dass sich das Racial Justice Project auf eine Reform des Strafrechts konzentrieren würde. Die ACLU hat sich an vielen entsprechenden Projekten beteiligt, aber niemand meinte, dass diese Arbeit einmal im Zentrum des Racial Justice Project stehen würde. Vielmehr ging man davon aus, dass sich dieses Projekt voll und ganz auf die Verteidigung der Affirmative Action stürzen würde. Kurz nach meinem Abschied von der ACLU wurde ich Mitglied im Vorstand des Lawyers’ Committee for Civil Rights (Anwaltkommission für Bürgerrechte) der San Francisco Bay Area. Obwohl die Organisation das Thema Rassengerechtigkeit zu ihren höchsten Prioritäten zählte, spielte die Reform des Strafjustizsystems innerhalb ihrer Arbeit für Rassengerechtigkeit keine große Rolle. Und damit stellte sie keine Ausnahme dar.
Im Januar 2008 informierte die Leadership Conference on Civil Rights – ein Dachverband, der aus der Führung von über 180 Bürgerrechtsorganisationen besteht – ihre Bündnispartner und Unterstützer in einem Brief über eine groß angelegte Initiative zur Dokumentierung des Abstimmungsverhaltens der Kongressmitglieder. Darin wurde erklärt, dass der demnächst erscheinende Bericht zeigen werde, »wie die einzelnen Mitglieder des Repräsentantenhauses und Senatoren 2007 bei den zentralsten Bürgerrechtsthemen wie Stimmrecht, Affirmative Action, Einwanderung, Nominierungen, Bildung, Hasskriminalität, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnen und Armut abgestimmt haben«. Fragen zur Strafjustiz hatten es nicht auf die Liste geschafft. Dieselbe breite Koalition organisierte im Oktober 2007 eine große Konferenz unter dem Titel »Why We Can’t Wait: Reversing the Retreat on Civil Rights« (Warum wir nicht warten können: Die Abkehr von den Bürgerrechten abwenden), mit Foren zu den Themen Integration in den Schulen, Diskriminierung bei der Einstellung, Diskriminierung bei der Bewerbung um eine Sozialwohnung und bei der Kreditvergabe, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Behindertenrechte, Altersdiskriminierung und Rechte der Einwanderer. Keine einzige Veranstaltung widmete sich der Reform der Strafjustiz.
Die gewählten Anführer der Afroamerikaner haben ein umfassenderes Mandat als Bürgerrechtsgruppen, doch auch sie klammern häufig das Problem der Strafjustiz aus. So bat der Congressional Black Caucus (Fraktion der schwarzen Kongressabgeordneten) im Januar 2009 in einem Brief Hunderte Anführer von schwarzen Communitys und Organisationen um Informationen über ihre Hauptanliegen. In dem Schreiben waren dazu mehr als drei Dutzend Themenfelder aufgelistet, darunter Steuern, Verteidigung, Einwanderung, Landwirtschaft, Wohnungsbau, Banken, höhere Bildung, Multimedia, Verkehr und Infrastruktur, Frauen, Senioren/Rentner, Ernährung, religiöse Gruppen, Bürgerrechte, Volkszählung, materielle Sicherheit und zukünftige Führungspersönlichkeiten. Die Strafjustiz wurde nicht erwähnt. »Resozialisierung« war ein Stichpunkt, aber wem an einer Reform des Strafjustizsystems lag, dem blieb nichts anderes übrig, als sein Kreuzchen bei »Sonstige« zu machen.
Das heißt nicht, dass im Hinblick auf eine Strafjustizreform bislang nicht viel Entscheidendes geschehen wäre. Bürgerrechtsvertreter haben heftige Proteste gegen bestimmte Aspekte des neuen Kastensystems organisiert. Ein denkwürdiges Beispiel hierfür ist der erfolgreich vom Legal Defense Fund der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) angeführte Widerstand gegen eine verdeckte Ermittlung in einer Drogensache in Tulia, Texas, die einen rassistischen Hintergrund hatte. Bei der Drogenrazzia im Jahr 1999 wurden fast 15 Prozent der schwarzen Einwohner der Stadt inhaftiert – auf Grundlage lediglich der Falschaussage eines einzigen Informanten, den der Sheriff von Tulia angeheuert hatte. In jüngerer Zeit haben Bürgerrechtsgruppen im ganzen Land juristische Verfahren und lebhafte Kampagnen gegen den Wahlrechtsentzug für Straftäter durchgeführt und Widerstand gegen die diskriminierenden harten Strafgesetze und Vorschriften für den Besitz und Verkauf von Crack sowie gegen die »Null-Toleranz«-Politik geleistet, die zur Folge hat, dass schwarze und braune Jugendliche nicht selten von der Schule direkt ins Gefängnis wandern. Die ACLU hat kürzlich ein Programm zur Rassengerechtigkeit entwickelt, in dem Fragen der Strafjustiz an oberster Stelle stehen, und ein vielversprechendes Projekt zur Reform der Drogengesetze auf die Beine gestellt. Und dank des offensiven Engagements von ACLU, NAACP und anderer Bürgerrechtsorganisationen im ganzen Land wird Racial Profiling weitgehend verurteilt, selbst von Teilen der Polizei, die früher diese Praxis offen begrüßten.
Doch trotz dieser bedeutsamen Entwicklungen wird die Dimension des Problems immer noch nicht erkannt. Es existiert weder eine Bewegung auf breiter Basis, die Pläne zur Beendigung der Masseninhaftierung schmieden würde, noch ein Engagement, das vom Umfang her auch nur annähernd mit dem Kampf für die Erhaltung der Affirmative Action vergleichbar wäre. Überdies besteht weiterhin eine Tendenz in der Bürgerrechtsgemeinde, das Strafjustizsystem lediglich als eine Institution unter anderen zu betrachten, das mit unterschwelligen Rassenvorurteilen infiziert ist. Die Website der NAACP ist dafür ein Beispiel. Noch im Mai 2008 konnte man dort unter dem Punkt Rechtsabteilung eine kurze Einführung in die Arbeit der Organisation zu Fragen der Strafjustiz finden. Dort hieß es, dass »trotz der bisherigen Siege in der Bürgerrechtsfrage … das Strafjustizsystem immer noch von rassistischen Vorurteilen durchdrungen« sei. Die Besucher der Website wurden aufgefordert, der NAACP beizutreten, um »die in den letzten dreißig Jahren hart erkämpften Bürgerrechte« zu verteidigen. Niemand, der die Website aufrief, erfuhr, dass die Masseninhaftierung von Afroamerikanern viele dieser hart errungenen Siege bereits zunichtegemacht hatte.
Man stelle sich einmal vor, die Bürgerrechtsorganisationen und afroamerikanischen Anführer der Bewegung hätten in den 1940er Jahren nicht Jim Crow ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Angesichts dessen, dass die Rassentrennung damals das wichtigste Instrument der rassischen sozialen Kontrolle in den Vereinigten Staaten war, wäre das absurd gewesen. In diesem Buch wird die These vertreten, dass die Masseninhaftierung in Wahrheit der neue Jim Crow ist und sich jeder, der an sozialer Gerechtigkeit interessiert ist, mit aller Kraft für die Abschaffung dieses neuen rassischen Kastensystems einsetzen sollte. Die Masseninhaftierung – nicht Angriffe auf die Affirmative Action oder eine laxe Handhabung der Bürgerrechte – ist der schlimmste Ausdruck des Gegenschlags gegen die Bürgerrechtsbewegung. Das verbreitete Narrativ, Sklaverei und Jim Crow seien überwunden und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten sei ein Beweis für den »Triumph des Landes über die Rasse«, ist gefährlich und irreführend. Der farbenblinde öffentliche Konsens, der heute in Amerika herrscht – das heißt, der weitverbreitete Glaube, dass die Hautfarbe keine Bedeutung habe –, hat uns die Augen vor den Realitäten in unserer Gesellschaft verschlossen und das Entstehen eines neuen Kastensystems gefördert.
Meine Haltung zum Strafjustizsystem hat sich stark verändert, seit ich vor zehn Jahren den Anschlag an dem Telefonmast bemerkte. Für mich ist das neue Kastensystem inzwischen so deutlich erkennbar wie mein eigenes Spiegelbild. Wie bei einer optischen Täuschung, in der man das versteckte Bild erst erkennt, wenn man die Konturen wahrnimmt, verbirgt sich das neue Kastensystem unsichtbar im Labyrinth der von uns entwickelten Rationalisierungen für die anhaltende Ungleichheit. Es ist durchaus möglich – und sehr leicht –, diese »eingebettete« Wirklichkeit nicht zu sehen. Erst nachdem ich jahrelang für eine Reform der Strafjustiz gearbeitet hatte, verschob sich bei mir der Fokus allmählich auf das rigide Kastensystem, bis es mir deutlich vor Augen stand. Und es erscheint mir heute seltsam, dass ich es nicht früher erkannt habe.
Da ich also um die Schwierigkeit weiß, etwas zu sehen, dessen Existenz die meisten vehement bestreiten, rechne ich damit, dass dieses Buch auf Skepsis oder Schlimmeres stoßen wird. Manche werden die Charakterisierung der Masseninhaftierung als »rassistisches Kastensystem« für eine grobe Übertreibung halten. Ja, sagen sie wahrscheinlich, vielleicht haben wir »Klassen« in den Vereinigten Staaten – beschönigend als Ober-, Mittel- und Unterschicht bezeichnet –, womöglich sogar eine Unterklasse (eine Bevölkerungsgruppe, die so weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt ist, dass sie die geheimnisvolle Karriereleiter gar nicht mehr erreichen kann), aber wir haben in diesem Land nichts, was man als »Kaste« bezeichnen könnte.
Ziel dieses Buches ist es nicht, in eine schon lange anhaltende, heftige Debatte in der wissenschaftlichen Literatur darüber einzugreifen, was ein Kastensystem ist und was nicht. Ich verwende den Begriff rassisches Kastensystem wie im allgemeinen Sprachgebrauch für ein System, in dem eine stigmatisierte ethnische Gruppe qua Gesetz und Gewohnheit in einem niedrigen gesellschaftlichen Status gefangen ist. Jim Crow und die Sklaverei waren Kastensysteme. Und unser System der Masseninhaftierung ist ebenfalls eins.
Um den elementaren Charakter des neuen Kastensystems zu verstehen, ist es vielleicht hilfreich, sich die Strafjustiz – alle dazugehörigen Institutionen und Methoden – statt als ein unabhängiges, eigenständiges Konstrukt als ein Tor zu einem viel umfassenderen System rassischer Stigmatisierung und ständiger Marginalisierung vorzustellen. Dieses umfassendere System, hier als Masseninhaftierung bezeichnet, bringt Menschen nicht nur hinter reale Gitter in realen Gefängnissen, sondern auch hinter virtuelle Gitter und Mauern – Mauern, die für das bloße Auge nicht sichtbar sind, aber fast so effektiv wie einst die Jim-Crow-Gesetze People of Color dauerhaft zu Bürgern einer Unterklasse machen. Mit dem Begriff Masseninhaftierung meine ich aber nicht nur das Strafjustizsystem an sich, sondern auch das gesamte Geflecht von Gesetzen, Vorschriften, Maßnahmen und Gewohnheiten, das alle als kriminell Gebrandmarkten der Kontrolle unterwirft, ob sie im Gefängnis sitzen oder nicht. Nach ihrer Entlassung treten die ehemaligen Häftlinge in eine verborgene Unterwelt ein, in der sie per Gesetz diskriminiert und dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Sie bilden Amerikas neue Unterkaste.
Von Kaste zu sprechen, erscheint manchen vielleicht fremd und unvertraut. Öffentliche Diskussionen über rassische Kasten sind in den USA relativ selten. Amerikaner vermeiden das Gespräch darüber, weil sie sich ihrer Rassengeschichte schämen. Wir sprechen nicht einmal über Klassen. Die Abneigung dagegen rührt zum Teil daher, dass viele die Vorstellung haben, die Klasse spiegele den eigenen Charakter wider. Das liegt sehr stark an der tiefsitzenden Überzeugung, dass – trotz aller Beweise für das Gegenteil – mit der nötigen Disziplin und Initiative jeder von einer unteren in eine höhere Klasse aufsteigen kann. Man sieht ein, dass so ein Aufstieg unter Umständen schwierig ist, dennoch ist das amerikanische Selbstbild eng mit dem Glauben verbunden, dass er immer möglich ist und dass Scheitern eine Frage des Charakters ist. Und das gilt folglich auch für eine ganze ethnische Gruppe.
Was in den wenigen öffentlichen Debatten über das Elend der Afroamerikaner völlig fehlt, ist die Tatsache, dass ein enormer Prozentsatz von ihnen überhaupt nicht die Freiheit zum gesellschaftlichen Aufstieg besitzt. Nicht nur, dass die meisten keine Gelegenheit dazu bekommen, die Schulen, die sie besuchen, schlecht sind oder sie in Armut leben, nein, das Gesetz hindert sie daran, und auch die wichtigsten Institutionen, mit denen sie in Kontakt kommen, sind darauf angelegt, ihren Aufstieg zu verhindern. Um es krasser auszudrücken: Das heutige Kontrollsystem sperrt einen großen Prozentsatz der Afroamerikaner aus der Gesellschaft und der Arbeitswelt aus. Es bedient sich der Institutionen der Strafjustiz, funktioniert aber eher wie ein Kastensystem als ein System zur Verhinderung von Verbrechen. So gesehen ist die sogenannte Unterklasse eher als Unterkaste zu bezeichnen – eine niedrige Kaste von Menschen, die durch Gesetz und Gewohnheit dauerhaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Und während dieses neue System rassistischer sozialer Kontrolle vorgibt, farbenblind zu sein, schafft und erhält es eine Rassenhierarchie genauso aufrecht wie frühere Kontrollsysteme. Wie Jim Crow (und die Sklaverei) stellt die Masseninhaftierung ein eng gestricktes Netz aus Gesetzen, Maßnahmen, Gewohnheiten und Institutionen dar, die zusammen dafür sorgen, dass sich eine weitgehend durch Rasse definierte Gruppe nicht aus ihrem untergeordneten Status befreien kann. Diese Behauptung mag angesichts der Wahl Barack Obamas besonders abwegig sein. Viele werden einwenden, es könne doch nicht sein, dass ein Land, das zum ersten Mal einen schwarzen Präsidenten gewählt habe, ein rassisches Kastensystem habe. Ein berechtigter Einwand. Doch wie ich in Kapitel 6 zeigen werde, besteht kein Widerspruch zwischen der Wahl Barack Obamas ins höchste Amt des Landes und der Existenz eines rassischen Kastensystems in der Ära der Farbenblindheit. Das gegenwärtige Kontrollsystem beruht auch darauf, dass es den »Ausnahmeschwarzen« gibt, und wird durch dessen Existenz weder widerlegt noch ausgehöhlt. Andere wenden vielleicht ein, das Vorhandensein eines rassischen Kastensystems werde schon dadurch widerlegt, dass die meisten Amerikaner – egal, welcher Hautfarbe – Rassendiskriminierung ablehnen und für die Farbenblindheit eintreten. Doch wie die nächsten Seiten deutlich machen werden, bedürfen rassistische Kastensysteme keiner Feindseligkeit gegen bestimm te Ethnien und keines Fanatismus, um effektiv zu sein. Es genügt die Gleichgültigkeit gegenüber der Rassenfrage, wie Martin Luther King schon vor über 45 Jahren erkannte.
Aufgrund der jüngsten Entscheidungen einiger Bundesstaaten, vor allem New Yorks, die Mindeststrafen für Drogendelikte abzuschaffen oder zu verringern, glauben manche, dass das in diesem Buch geschilderte System rassischer Kontrolle im Schwinden begriffen sei. Das anzunehmen, ist meiner Ansicht nach ein schwerer Irrtum. Viele Bundesstaaten, die ihre harten Strafgesetze reformiert haben, haben es nicht aus Sorge um das Leben und die Familien getan, die durch diese Gesetze zerstört werden, oder wegen der rassistischen Aspekte des Kriegs gegen die Drogen, sondern aus Angst vor einem explodierenden Haushalt in einer Zeit der Rezession. Mit anderen Worten, die Rassenideologie, die zu diesen Gesetzen geführt hat, bleibt trotz milderer Strafgesetze weitgehend unangetastet. Veränderte wirtschaftliche Bedingungen oder steigende Kriminalitätsraten können das Schicksal der Drogendelinquenten leicht wieder wenden, vor allem, wenn Drogentäter weiter hauptsächlich als People of Color wahrgenommen werden. Und man muss sich Folgendes klarmachen: Die bloße Verkürzung der Haftstrafe bringt die Architektur des neuen Jim Crow nicht ins Wanken. Solange man eine große Zahl von Afroamerikanern verhaftet und als Drogenkriminelle abstempelt, werden sie weiterhin nach ihrer Entlassung dauerhaft auf einen Platz am Rand der Gesellschaft verwiesen, egal, wie lange sie hinter Gittern gesessen haben. Das Fundament des Systems der Masseninhaftierung ist das Gefängnisetikett, nicht die Haftzeit.
Skepsis gegen die hier aufgestellten Behauptungen ist berechtigt. Natürlich gibt es zwischen Masseninhaftierung, Jim Crow und der Sklaverei – den drei großen bisherigen rassistischen Kontrollsystemen in den Vereinigten Staaten – wichtige Unterschiede. Diese und ihre Implikationen zu verkennen, wäre fatal für den Diskurs über Rassengerechtigkeit. Viele dieser Unterschiede sind jedoch nicht so bedeutend, wie sie auf den ersten Blick erscheinen; andere zeigen lediglich, dass Systeme rassistischer sozialer Kontrolle ihre Gestalt verändern, sich weiterentwickeln und nach und nach den Veränderungen des politischen, sozialen und gesetzlichen Umständen der jeweiligen Zeit anpassen. Letztlich glaube ich, dass die Ähnlichkeiten zwischen diesen Kontrollsystemen gegenüber den Unterschieden überwiegen und dass die Masseninhaftierung im Großen und Ganzen so angelegt ist, dass Klagen dagegen scheitern müssen. Dies hat, wenn es zutrifft, tiefgreifende Auswirkungen auf jedes Engagement für die Rassengerechtigkeit.
Aus der Rückschau lässt sich gut erkennen, dass unsystematische Reformen oder einzelne Gerichtsverfahren allein nicht ausgereicht hätten, die Rassentrennung unter Jim Crow abzuschaffen. Zweifellos hatten sie ihre Berechtigung, doch das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und den damit verbundenen kulturellen Wandel hätte es nicht gegeben, hätte man nicht gleichzeitig in der afroamerikanischen Gemeinde ein kritisches politisches Bewusstsein geschaffen und damit für breite strategisch durchdachte Aktionen gesorgt. Und genauso ist es ein fundamentaler Irrtum zu glauben, der Neue Jim Crow könne über den konventionellen Gerichtsweg und einzelne Reformen, vor allem aber ohne eine sie stützende große soziale Bewegung besiegt werden.
Eine solche Bewegung wird jedoch so lange nicht zustande kommen, als sich die engagiertesten Gegner der Rassenhierarchie äußern und verhalten, als ob es kein vom Staat gestütztes rassisches Kastensystem mehr gäbe. Wenn wir uns weiterhin die populären Mythen vom Fortschritt in der Rassenfrage erzählen, schlimmer noch, wenn wir uns einreden, das Problem der Masseninhaftierung sei einfach zu groß, zu abschreckend, als dass wir etwas dagegen unternehmen könnten, wenn wir meinen, es sei besser, unsere Energien auf die Kämpfe zu richten, die leichter gewonnen werden können, dann wird die Geschichte ein hartes Urteil über uns fällen. Unter unseren Augen spielen sich Menschenrechtsverletzungen ab, die einem Alptraum gleichkommen.
Wenn wir jemals den Neuen Jim Crow überwinden wollen, müssen wir einen anderen Konsens über die Rassenfrage herstellen, indem wir uns über die Grundstruktur unserer Gesellschaft einigen. Am Anfang sollte ein Dialog stehen, ein Gespräch, das das kritische Bewusstsein fördert, ohne das kein effektives soziales Handeln möglich ist. Dieses Buch soll sicherstellen, dass das Gespräch nicht mit einem Augenzwinkern endet.
Es ist unmöglich, in einem relativ schmalen Buch alle Aspekte der Masseninhaftierung und ihrer Folgen für die Rassengleichheit zu behandeln, und ich erhebe gewiss nicht den Anspruch, dies hier geleistet zu haben. Das Buch ist eher eine grobe Skizze, sodass viele wichtige Themen nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient hätten, zum Beispiel die speziellen Erfahrungen von Frauen, Latinos und Einwanderern mit der Strafjustiz, obwohl gerade diese Gruppen besonders betroffen sind und unter den schlimmsten Übergriffen zu leiden haben. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt jedoch auf dem, was afroamerikanischen Männern im neuen Kastensystem widerfährt. Ich hoffe, andere Wissenschaftler und Anwälte werden dort weitermachen, wo dieses Buch endet, und die Kritik weiter ausführen oder die hier skizzierten Themen auf andere Gruppen und andere Kontexte übertragen.
Was mit diesem Buch erreicht werden soll – das Einzige, was damit erreicht werden soll –, ist, einen dringend gebotenen Diskurs darüber anzuregen, welche Rolle dem Strafjustizsystem bei der Schaffung und Erhaltung der Rassenhierarchie in den Vereinigten Staaten zukommt. Das Schicksal von Millionen Menschen – ja, die Zukunft der Afroamerikaner an sich – hängt vielleicht davon ab, ob diejenigen, die für Rassengleichheit eintreten, bereit sind, ihre Meinung zum Strafjustizsystem in unserer Gesellschaft einer Prüfung zu unterziehen. Dass zurzeit in vielen amerikanischen Großstädten mehr als die Hälfte der jungen schwarzen Männer unter dessen Kontrolle stehen, ist nicht nur – wie viele behaupten – ein Symptom der Armut oder eines Mangels an Wahlmöglichkeiten, sondern Beweis für die Existenz eines neuen rassischen Kastensystems.
Kapitel 1 gibt einen kurzen historischen Abriss der rassistischen sozialen Kontrolle in den Vereinigten Staaten und beantwortet die grundlegende Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Es beschreibt die Herrschaft über die Afroamerikaner durch die Sklaverei und Jim Crow, die offiziell abgeschafft wurden, dann aber in neuer Form wieder auferstanden, in einer Form, die auf die Bedürfnisse und Beschränkungen der neuen Zeit zugeschnitten war. Wie wir sehen werden, folgen Geburt und Tod der rassischen Kaste in Amerika einem bestimmten Muster. Immer wieder gelingt es den fanatischsten Verfechtern der Rassenhierarchie, ein neues Kastensystem zu schaffen, indem sie quer durch das politische Spektrum jeden Widerstand dagegen brechen. Diese Meisterleistung beruht vor allem darauf, dass sie an den Rassismus der weißen Unterschicht appellieren und deren prekäre Lage ausnutzen, also die einer Bevölkerungsgruppe, die verständlicherweise darum ringt, nicht am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaftshierarchie zu landen. Und mit dieser bis auf die Sklaverei zurückgehenden Methode haben sie jetzt einem neuen rassischen Kastensystem zur Geburt verholfen: der Masseninhaftierung.
Die Struktur der Masseninhaftierung wird in Kapitel 2 genauer beschrieben, wobei der Schwerpunkt auf dem Krieg gegen die Drogen liegt. Die Polizei unterliegt in diesem Krieg kaum gesetzlichen Einschränkungen, und enorme finanzielle Anreize sorgen dafür, dass sie Menschen mithilfe quasi militärischer Taktiken massenhaft wegen Drogendelikten festnimmt. Wer einmal in die Mühlen der Strafjustiz gerät, hat fast keine Chance mehr, jemals wieder wirkliche Freiheit zu genießen. Angeklagten wird in der Regel ein echter Rechtsbeistand verweigert, man drängt sie durch Androhung einer langen Haftstrafe zu einem Schuldeingeständnis und einem Deal mit dem Gericht, um sie dann unter institutionelle Kontrolle zu stellen – im Gefängnis oder durch eine Bewährungsstrafe. Nach der Entlassung werden ehemalige Täter mit Billigung des Gesetzes ihr Leben lang diskriminiert, und die meisten landen irgendwann erneut im Gefängnis. Sie gehören zu Amerikas neuer Unterkaste.
In Kapitel 3 steht die Rolle des Konzepts Rasse im amerikanischen Strafjustizsystem im Mittelpunkt. Es beschreibt die Methoden, mit denen es einem offiziell rasseneutralen Strafrechtssystem gelingt, eine außerordentlich hohe Zahl schwarzer und brauner Männer zu verfolgen, festzunehmen und zu inhaftieren, obwohl People of Color nicht mehr Drogendelikte und andere Gesetzesverstöße begehen als Weiße. In diesem Kapitel wird die Behauptung widerlegt, die Rate der Inhaftierung Schwarzer sei mit deren Kriminalitätsrate zu erklären, und benennt das je nach Hautfarbe enorm unterschiedliche Vorgehen in jedem Stadium des Strafrechtsverfahrens – bei Durchsuchungen, bei der Festnahme, beim Aushandeln der Strafe mit dem Gericht und bei der Verurteilung. Kurz, in diesem Kapitel wird erklärt, wie die gesetzlichen Regeln, nach denen das System funktioniert, zwangsläufig zur Diskriminierung führen. Diese gesetzlichen Regeln garantieren, dass die Unterkaste überwiegend aus People of Color besteht.
Kapitel 4 zeigt, wie das Kastensystem nach der Entlassung aus dem Gefängnis funktioniert. Die Entlassung aus dem Gefängnis bedeutet in vieler Hinsicht nicht den Beginn der Freiheit, sondern vielmehr eine grausame neue Phase der Stigmatisierung und Kontrolle. Unzählige Gesetze, Vorschriften und Regeln diskriminieren die ehemaligen Straftäter und verhindern praktisch ihre echte Reintegration in die normale Arbeitswelt und die Gesellschaft. Ich behaupte, dass die mit dem »Gefängnisetikett« verbundene Scham und das Stigma in mehrfacher Hinsicht der afroamerikanischen Gemeinde mehr Schaden zufügen als einst Jim Crow. Die Kriminalisierung und Dämonisierung schwarzer Männer spaltet ihre Community, bringt die Familien auseinander, zerstört das Netz gegenseitiger Unterstützung und verstärkt die Scham und den Selbsthass der heutigen Parias.
Die vielen Parallelen zwischen der Masseninhaftierung und Jim Crow, deren wichtigste die gesetzlich gebilligte Diskriminierung ist, werden in Kapitel 5 nachgezeichnet. Wie Jim Crow marginalisiert die Masseninhaftierung große Teile der afroamerikanischen Gemeinde, segregiert sie physisch (in Gefängnissen und Gettos) und durch die Diskriminierung beim Wählen, im Arbeitsleben, bei der Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und beim Dienst in Geschworenengerichten. Die Bundesgerichte haben das gegenwärtig System praktisch gegen den Vorwurf rassistischer Vorurteile abgeschirmt, so wie frühere Kontrollsysteme vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten geschützt und verstärkt wurden. Aber das ist noch nicht alles. Wie Jim Crow trägt die Masseninhaftierung zur Definition dessen bei, was »Rasse« in Amerika bedeutet und welchen Stellenwert sie hat. Das Stigma der Kriminalität wirkt ganz ähnlich wie einst das Stigma der Rasse. Es rechtfertigt eine gesetzliche, soziale und ökonomische Grenzziehung zwischen »uns« und »ihnen«. In Kapitel 5 werden aber auch Unterschiede zwischen Sklaverei, Jim Crow und Masseninhaftierung erläutert, vor allem die Tatsache, dass die Masseninhaftierung dazu dient, einen ganzen Bevölkerungsteil, der für überflüssig erklärt wird, wegzusperren, weil er in der neuen globalisierten Wirtschaft nicht benötigt wird, während frühere Kontrollsysteme dazu dienten, schwarze Arbeiter auszubeuten und auf ihren Platz zu verweisen. Außerdem widmet sich dieses Kapitel den Auswirkungen des neuen Kastensystems auf Weiße: Auch wenn sie nicht das vorrangige Ziel des Kriegs gegen die Drogen sind, werden sie dennoch davon beeinträchtigt – eine beeindruckende Illustration dessen, wie ein rassistischer Staat Menschen jeder Hautfarbe beschädigt. Und schließlich ist das Kapitel auch eine Antwort auf Kritiker, die behaupten, die Masseninhaftierung könne schon deshalb nicht als rassisches Kastensystem bezeichnet werden, weil das »harte Durchgreifen gegen Kriminalität« auch von Afroamerikanern gutgeheißen werde. Aber das überzeugt heute so wenig wie vor hundert Jahren, als Schwarze und Weiße sagten, die Rassentrennung spiegele lediglich die »Wirklichkeit« wider, nicht aber rassistische Feindseligkeit, und die Afroamerikaner täten besser daran, an sich selbst zu arbeiten, statt Jim Crow zu bekämpfen. In unserer Geschichte hat es immer Afroamerikaner gegeben, die aus verschiedenen Gründen das herrschende Kontrollsystem verteidigten oder sich damit gemein machten.
In Kapitel 6 geht es um die Frage, was die Existenz des Neuen Jim Crow für die Zukunft der Bürgerrechtsbewegung bedeutet. Ich bin der Meinung, dass nichts weniger als eine große soziale Bewegung nötig ist, um das neue Kastensystem endgültig abzuschaffen. Zwar können auch ohne eine solche Bewegung bedeutende Reformen erreicht werden, aber so lange der öffentliche Konsens, der das gegenwärtige System stützt, nicht vollständig überwunden ist, wird es intakt bleiben. Doch auch der Aufbau einer sozialen Bewegung auf breiter Basis wird nicht reichen. Es genügt nicht einmal annähernd, die Wähler davon zu überzeugen, dass zu viele Menschen inhaftiert werden und Drogenmissbrauch ein öffentliches Gesundheitsproblem ist, kein Verbrechen. Wenn es einer kommenden Bewegung zur Bekämpfung der Masseninhaftierung nicht gelingt, sich der entscheidenden Rolle des Konstrukts »Rasse« in unserer Gesellschaftsstruktur zu stellen und eine Ethik echter Fürsorge, des Mitgefühls und der Anteilnahme an Menschen aller Schichten oder Klassen, Hautfarben und jeder Herkunft in unserem Land (einschließlich der armen Weißen, die oft gegen arme People of Color ausgespielt werden) zu entwickeln, wird selbst das Ende der Masseninhaftierung nicht das Ende der rassisch definierten Kaste in Amerika bedeuten. Es wird unausweichlich ein neues System rassistischer sozialer Kontrolle entstehen, das wir nicht voraussehen können, genauso wie das gegenwärtige System der Masseninhaftierung vor dreißig Jahren von niemandem erahnt wurde. Keine Aufgabe der Bewegung für Rassengerechtigkeit ist heute dringlicher, als dafür zu sorgen, dass Amerikas gegenwärtiges rassisches Kastensystem sein letztes sein wird.