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VORWORT FÜR DIE INTERNATIONALE AUSGABE

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Amerika war von Anbeginn ein Land voller Widersprüche. Seine Gründer träumten von Freiheit, politischer Selbstbestimmung und individueller Freiheit, schufen aber dann einen Staat, der Besitzlosen und Frauen das Wahlrecht vorenthielt, die Sklaverei in der Originalverfassung festschrieb und Sklaven quasi als »Drei-Fünftel-Menschen« zur Bevölkerung zählte. Nach dem offiziellen, populären Narrativ hat Amerika seine hässliche Geschichte überwunden. Dieses Narrativ ist nicht völlig falsch. Unser Land hat die Sklaverei abgeschafft, Frauen und ethnischen Minderheiten das Wahlrecht gegeben und das gesetzmäßige Regime beseitigt, das als »Jim Crow« bekannt wurde – ein System aus Vorschriften, Gesetzen, Maßnahmen und Methoden, die die legale Diskriminierung der Afroamerikaner in praktisch allen Bereichen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens billigte. Heute trifft man in renommierten Universitäten und auf den Fluren der Macht Menschen aller Hautfarben an. Wir haben unseren ersten schwarzen Präsidenten gewählt. Diese Erfolgsgeschichte der amerikanischen Demokratie wird an unseren Schulen gefeiert und auf dem ganzen Globus verbreitet.

Doch es gibt noch eine andere Geschichte, eine weniger beliebte und politisch eher unangenehme, eine, die man in den Medien unseres Landes nur selten hört und die fast nirgendwo jenseits unserer Grenzen erzählt wird. Ein Teil dieser Geschichte ist Gegenstand dieses Buches. Sie muss überall auf der Welt bekannt werden.

Ich habe dieses Buch nicht für eine internationale Leserschaft geschrieben. Ich habe The New Jim Crow geschrieben, um in meinem eigenen Land Alarm zu schlagen, in einem Land, das von sich behauptet, das »Land der Freien« zu sein, obwohl wir einen größeren Anteil unserer Bevölkerung ins Gefängnis werfen als jedes andere Land der Welt. Wir predigen anderen Freiheit und Demokratie, verweisen aber Millionen der ärmsten Bürger dauerhaft auf einen Status am Rande der Gesellschaft und verweigern ihnen das Wahlrecht. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich früher blind war für das, was sich vor meiner eigenen Haustür abspielte. Als mir dann die Augen aufgingen, war ich entschlossen, auch andere aus ihrem Schlaf aufzurütteln und sich der Wahrheit dessen zu stellen, was wir in Amerika wieder einmal anrichten.

Inzwischen ist mir sehr daran gelegen, dieses Buch Menschen auf der ganzen Welt zugänglich zu machen, die an die Demokratie glauben und zutiefst um Gerechtigkeit besorgt sind. Ich hoffe, dass das, was auf diesen Seiten steht, einen internationalen Aufschrei auslöst und die Menschen begreifen, dass sich in den Vereinigten Staaten ein Alptraum entfaltet: Wir in Amerika werden angehalten zu glauben, dass Menschenrechtsverletzungen und -katastrophen überall, weit jenseits unserer Grenzen, stattfinden. Doch wir haben hier in unserem eigenen Land in ein paar wenigen Jahrzehnten die Gefängnispopulation vervierfacht und ein Strafsystem errichtet, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Kein anderes Land der Welt hält einen so hohen Anteil seiner Bürger in Haft – bei kaum 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen wir fast 25 Prozent aller Gefängnisinsassen.

Millionen Menschen – in der überwältigenden Mehrzahl Arme und People of Color* – landen in diesem Land in Gefängnissen, weil ein rassistischer »Krieg gegen die Drogen« geführt wird und eine politische Bewegung für ein »hartes Durchgreifen« gegen Kriminalität eintritt, das zahllose Familien zerstört und ganze Gemeinschaften dezimiert. Die Zahl der Menschen, die nur wegen Drogendelikten hinter Schloss und Riegel gebracht werden, ist erschreckend und von etwa 50.000 im Jahr 1980 auf heute fast 500.000 gestiegen – das sind mehr, als in Westeuropa für alle Verbrechen zusammengenommen einsitzen. Über 90 Prozent der als »Kriminelle« oder »Verbrecher« Etikettierten erhalten keinen ordentlichen Prozess oder werden nicht angemessen vor einem Gericht vertreten; sie legen ohne Prozess ein Schuldbekenntnis ab, weil man ihnen damit droht, dass ihnen bei einer Verurteilung durch ein Geschworenengericht noch weit höhere Mindeststrafen drohen. Und Millionen Menschen werden, wenn sie dann ihre tatsächliche Haftstrafe abgesessen haben und aus der offiziellen Kontrolle durch unser sogenanntes »Rechtssystem« entlassen werden, in ein soziales Paralleluniversum gestoßen, in dem die elementaren Bürger- und Menschenrechte, die für andere selbstverständlich sind, nicht gelten. Es sind genau die Rechte, die ihnen durch die Bürgerrechtsbewegung zugestanden wurden, wie das Wahlrecht, das Recht, als Geschworener zu dienen und das Recht, in der Arbeitswelt, bei der Wohnungssuche, in der Bildung und bei den staatlichen Sozialleistungen – etwa in Form von Lebensmittelmarken und Sozialwohnungen – nicht diskriminiert zu werden. Selbst diejenigen, die sich nur geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben – beispielsweise weil sie mit kleinen Mengen Drogen erwischt wurden –, werden dauerhaft in eine niedrige Kaste am unteren Rand der Gesellschaft verwiesen. Dieses neue System nimmt vor allem afroamerikanische Männer ins Visier und erklärt sie zum Hauptfeind. In vielen amerikanischen Großstädten ist über die Hälfte der afroamerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter vorbestraft und wird für den Rest ihres Lebens mit gesetzlicher Billigung diskriminiert.

Politiker rechtfertigen die diskriminierenden Praktiken und sprunghaft angestiegenen Inhaftierungszahlen mit den hohen Kriminalitätsraten in den armen Minderheitengemeinschaften. Dieses Buch zeigt hingegen, dass dieses System seinen Ursprung in unserer Rassengeschichte und unserer Rassenpolitik hat, die Ängste schürt, spaltet, Menschen zu Sündenböcken macht und soziale Kontrolle über sie ausübt.

In Amerika ist ein neues System rassistischer Sozialkontrolle entstanden, das die Welt noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Internationale Proteste trugen dazu bei, dass amerikanische Rechtswissenschaftler und Politiker das Jim-Crow-System der Rassentrennung nach dem Zweiten Weltkrieg einer Prüfung unterzogen. Deshalb hoffe ich, dass unser Land auch jetzt auf der Weltbühne angeprangert und der Schande und Scham preisgegeben wird, damit es sich dem zentralen Widerspruch der modernen amerikanischen Demokratie stellt: unserem System der Masseninhaftierung. Wie der Jurist und Bürgerrechtler Bryan Stevenson kürzlich ganz treffend bemerkte, prägt die Masseninhaftierung heute unser Land wie einst die Sklaverei. Ich hoffe, dass die Völker der Welt nicht länger schweigen werden, wenn sie mehr darüber erfahren, wie in unserem Land entgegen unserer Behauptungen die tatsächliche Praxis in Sachen Rasse, Gleichheit und Freiheit aussieht.

Aber abgesehen davon, dass ich mir wünsche, Amerika möge endlich vor dem Gericht der internationalen Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, hoffe ich auch inständig, dass dieses Buch einen Beitrag zu der sich ausweitenden Debatte über den globalen Krieg gegen die Drogen leistet. Seit die Vereinten Nationen das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel – ein internationales Abkommen zum Verbot der Produktion und Verbreitung bestimmter Narkotika – verabschiedet haben, sind mehr als fünfzig Jahre vergangen und mehr als vierzig Jahre, seit US-Präsident Nixon den »Krieg gegen die Drogen« im eigenen Land erklärte, der sich in rasantem Tempo zu einem weltweiten, brutalen und sinnlosen Krieg ausweitete. Obwohl Milliarden in den Bau von Gefängnissen, gesetzliche Verbote und die Militarisierung der Polizei gesteckt wurden, ist dieser Krieg jämmerlich gescheitert und hat keineswegs Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit eingedämmt, geschweige denn beendet. Im Gegenteil, Drogen sind freier verfügbar und werden mehr konsumiert als vor Beginn des Kriegs gegen die Drogen. So stellte die Weltkommission für Drogenpolitik 2011 fest: »Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus … Scheinbare Erfolge bei der Ausschaltung einer Quelle oder Dealerorganisation werden fast auf der Stelle durch das Aufkommen neuer Quellen und Dealer zunichtegemacht.«1

Statt Drogenmissbrauch und -abhängigkeit als schwerwiegende Probleme der öffentlichen Gesundheit anzugehen und in großem Stil in die Behandlung und Prävention zu investieren, sind nur allzu viele Staaten den Vereinigten Staaten gefolgt, haben den eigenen Bürgern den Krieg erklärt und stellen Mittel vornehmlich für Strafmaßnahmen und andere Praktiken zur Verfügung, die zwangsläufig das Leid der Ärmsten und Schwächsten in den Gesellschaften erhöhen. In den letzten Jahrzehnten wurden Millionen Menschenleben durch hohe Gefängnisstrafen sinnlos zerstört, kamen Tausende durch die Gewalt im Drogenkrieg und die Militarisierung der Polizei um, vor allem in Ländern wie Mexiko, wo allein in den vergangenen zehn Jahren über 100.000 Menschen getötet wurden oder verschwanden. Die mexikanische Regierung gab kürzlich Daten frei, die zeigen, dass zwischen 2007 und 2014 – also in Jahren, die zu den blutigsten im Krieg des Landes gegen die Drogenkartelle gehören – über 164.000 Menschen ermordet wurden. Profiteure dieses Blutbads sind auch die Privatgefängnisse, die in den Vereinigten Staaten großzügig dafür bezahlt werden, dass sie die zahllosen Einwanderer hinter Gitter stecken, die vor der Gewalt des Drogenkriegs in Mexiko und Lateinamerika fliehen.

Man möchte meinen, dass vierzig Jahre erfolgloser Krieg ausreichen würden, um die Antidrogenkrieger davon zu überzeugen, dass sie eine andere Richtung einschlagen müssen. Doch der katastrophale Krieg wird unvermindert fortgesetzt. Warum? Ein Grund dafür ist, dass der globale Krieg gegen Drogen kaum mit der Absicht geführt wird, die mit dem Drogenkonsum zusammenhängenden Probleme zu lösen. Der Krieg wird zwar mit dem Drogenmissbrauch gerechtfertigt, ist aber nicht dessen Hauptmotiv (und war es nie). In Amerika wurde den Drogen der Krieg wegen der Rassen- und Klassenzugehörigkeit derer erklärt, die als Feind etikettiert wurden. Die gegenwärtige Drogenpolitik und die Praxis im Kampf gegen den Drogenmissbrauch gehen in hohem Maß auf den Rassismus in der amerikanischen Politik und die politischen Nützlichkeit (und wirtschaftliche Profitabilität) eines nie endenden Kriegs zurück.

Drogenabhängigkeit und -missbrauch stellen schwerwiegende Probleme mit manchmal tödlichen Folgen dar, denen unser aller Sorge gelten sollte und die sofortiges Handeln erfordern. Aber in den Vereinigten Staaten ist der Umgang mit diesen schwerwiegenden Problemen von einer durch Rassismus und Spaltung geprägten Politik bestimmt, die selten offen diskutiert wird, aber als mächtige Grundströmung alle Maßnahmen und Praktiken beeinflusst und in eine gefährliche Richtung lenkt, oft mit tödlichen Folgen. Es ist eine große Tragödie, dass unser rassistischer Krieg gegen Drogen exportiert wurde und überall auf der Welt zu viel überflüssigem Leid, zu Tod und Verzweiflung führt. Ethan Nadelmann, Gründer der Drug Policy Alliance, fasst diese Entwicklung so zusammen: »Auf die Vereinigten Staaten als Modell für die Eindämmung des Drogenkonsums zu schauen, ist so, als würde man sich das Südafrika der Apartheid zum Vorbild nehmen, um das Rassenproblem zu bewältigen.« Ich hoffe, dieses Buch regt Menschen in anderen Ländern an, zu prüfen, ob ihre Regierung nicht einen drastischen Kurswechsel vornehmen sollte.

Schließlich hoffe ich zutiefst, dass dieses Buch zu einem internationalen Dialog darüber beiträgt, was ein Land, das eine egalitäre, multirassische, multiethnische Demokratie aufbauen will, wirklich tun muss. Oft blickt man in dieser Frage auf die Vereinigten Staaten, um dort Anregungen und Leitlinien zu bekommen, doch die zyklische Wiederauferstehung des auf Rasse basierenden Kastensystems in unserem Land sollte allen zu denken geben, bevor sie ihre Demokratie nach unserem Vorbild formen. Ich hoffe, dass andere Länder aus unserer Geschichte und unseren Erfahrungen Lehren ziehen und etwas Besseres schaffen als unser Politik- und Rechtssystem, statt es einfach zu übernehmen. Wir sind weit, sehr weit vom Aufbau einer inklusiven, egalitären Demokratie entfernt, in der »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« mehr als nur eine Floskel ist. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, wie schwer es für ein Land und dessen Bewohner ist, Denk- und Lebensgewohnheiten aufzugeben – vor allem die Gewohnheit, den rassisch »Anderen« auszuschließen und zu unterdrücken. Die Länder mit den härtesten Strafgesetzen sind nachweislich jene mit einer stark gemischten Bevölkerung. Die Länder, in denen man Delinquenten mit dem meisten Mitgefühl und mit größter Milde behandelt, sind hingegen die homogensten. Es scheint geradezu ein Zug der menschlichen Natur zu sein, den »Anderen« gegenüber kein Erbarmen zu zeigen. Doch da die Länder der Welt immer stärker miteinander verbunden sind und Klimawandel, Kriege, Globalisierung und wirtschaftliche Konkurrenz zu großen Einwanderungs- und Migra tionsbewegungen führen, besteht die Herausforderung zunehmend darin, unsere Herzen und Köpfe für jene zu öffnen, die wir jetzt noch als »Andere« zu betrachten pflegen. Und wir werden unausweichlich dazu gezwungen werden, uns mit dem Erbe von Sklaverei, Unterdrückung und Kolonialismus auseinanderzusetzen, zu überlegen, wie wir den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutmachen und Demokratien schaffen können, in denen jedes Leben, jede Stimme und jedes Votum wirklich zählen. Schließlich soll The New Jim Crow auch eine Warnung sein – dieses Buch berichtet darüber, wie Millionen armer People of Color in den Vereinigten Staaten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, und das auch unter einem schwarzen Präsidenten. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir uns mit aller Kraft der Politik der Angst, der Spaltung, Exklusion und Kontrolle widersetzen. Wir dürfen es nicht dabei belassen, uns eine andere Welt vorzustellen und von ihrer Verwirklichung zu träumen, vielmehr »müssen wir so handeln, als wäre es möglich, eine Revolution herbeizuführen und die Welt radikal zu verändern«, wie Angela Davis einmal sagte. Ich lege dieses Buch in der Hoffnung vor, dass es einen Beitrag zu einer gerechteren, alle sozialen Aspekte berücksichtigenden Justiz auf dieser Welt leistet.

Michelle Alexander, Juni 2016

* Anmerkung der Übersetzer: In der Übersetzung wird die englische Bezeichnung People of Color verwendet, da die Autorin diese im Original verwendet und es sich um eine selbstbestimmte Bezeichnung von und für Menschen handelt, die nicht weiß sind. Der Ausdruck ist im Englischen eine gängige Bezeichnung und wird auch in Deutschland in akademischen und politischen Publikationen vermehrt genutzt, da viele andere Bezeichnungen – etwa »Farbige« – eine koloniale und rassistische Dimension haben. Des weiteren wird im Text auch die Bezeichnung »schwarz« oder »braun« verwendet, um gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten die aus dem Konstrukt des Rassismus entstanden sind, zu benennen. Auf die Großschreibung dieser Begriffe, wie teils in der akademischen Literatur zum Thema üblich, wurde jedoch aufgrund der Lesbarkeit verzichtet.

The New Jim Crow

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