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VORWORT

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von Cornel West

Michelle Alexanders The New Jim Crow ist die säkulare Bibel für eine neue soziale Bewegung im Amerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie mit C. Vann Woodwards The Strange Career of Jim Crow – dem Buch, das Martin Luther King als »die historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung« bezeichnete – liegt uns hier ein kraftvoller, eindringlicher Text vor, zugleich eine einzigartige demokratische Erweckung, die die Aufmerksamkeit auf die Armen und Benachteiligten in der amerikanischen Gesellschaft richtet. The New Jim Crow ist schon jetzt ein Klassiker, weil das Buch den neuen Geist unseres Zeitalters erfasst. Schon viel zu lange warten wir darauf, dass sich die Massen gegen die vielfache Benachteiligung zur Wehr setzen, unter der arme und unter prekären Verhältnissen lebende Menschen trotz der aufopfernden Arbeit intellektueller Freiheitskämpfer wie Marian Wright Edelman, Angela Davis, Loïc Wacquant, Glenn Loury und Marc Mauer zu leiden haben. Doch langsam, aber sicher erwachen die Menschen aus dem Schlaf, und mehr und mehr Mitbürger erkennen, dass sie in einem Käfig gefangen sind – der für die Wohlhabenden vielleicht auch ein goldener sein mag. The New Jim Crow ist ein lautstarker Weckruf aus dem Schlummer der Gleichgültigkeit gegenüber den Armen und Schwachen. Diese Gleichgültigkeit fördert ein oberflächliches Erfolgsethos – Geld, Ruhm und Vergnügen –, das viel zu viele dazu bringt, sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden. Kurz, im verwirrenden Zeitalter Obamas feiert der Geist Martin Luther Kings mit diesem Buch seine Wiederauferstehung.

Während die Ära Obama historische Durchbrüche auf der Ebene der symbolischen Rassengleichheit und politischer Sichtbarkeit gebracht hat, führt uns Michelle Alexanders meisterhaftes Werk den systembedingten Zusammenbruch schwarzer und armer Gemeinden vor Augen, die durch Massenarbeitslosigkeit, soziale Vernachlässigung, Abwanderung von Betrieben und intensive Polizeiüberwachung verwüstet sind. Die Autorin lenkt mit ihrer tiefgreifenden Analyse unsere Aufmerksamkeit vom Symbol des Fortschritts in der Rassenfrage auf Amerikas größten Schandfleck: den massiven Missbrauch staatlicher Macht zum Zweck der Inhaftierung Hunderttausender wertvoller armer, schwarzer, männlicher (und zunehmend auch weiblicher) junger Menschen im Namen eines heuchlerischen »Kriegs gegen die Drogen«. Michelle Alexanders differenzierte Analyse der skrupellosen Behandlung und der brutalen Überwachung Schwarzer im Lauf der amerikanischen Geschichte – in Form der Sklaverei, von Jim Crow und der Masseninhaftierung – gewährt uns einen Blick unter die politische Oberfläche und legt die Strukturen eines reibungslos funktionierenden auf Rasse basierenden Kastensystems im Zeitalter der Farbenblindheit bloß. Gerade die Ideologie der Farbenblindheit, propagiert von Neokonservativen und Neoliberalen mit dem Ziel, die Ausmaße des Leidens Schwarzer in den 1980er und 1990er Jahren zu banalisieren und zu verschleiern, hat Amerika die Augen vor dem Neuen Jim Crow verschlossen. Es ist einfach traurig, dass sich diese Blindheit unter jeder Regierung erhalten hat und bis heute im öffentlichen Diskurs unseres Landes kaum thematisiert oder in Frage gestellt wird.

The New Jim Crow durchbricht dieses Schweigen. Wer das Buch liest, kann nicht mehr gleichgültig bleiben. Er wird nicht mehr wie ein Schlafwandler an der dunklen und hässlichen Realität vorbeigehen können, die seit Jahrzehnten existiert und nahtlos an den seit der Zeit der Sklaverei in Amerika bestehenden Rassismus anknüpft. Zweifellos würde der nationale Notstand ausgerufen, wenn weiße Jugendliche in derselben Zahl inhaftiert würden wie junge Schwarze. Wahr ist aber auch: Würden junge Schwarze aus der Mittel- und Oberschicht im selben Maße inhaftiert wie junge arme Schwarze, würden die schwarzen Anführer der Bürgerrechtsbewegung dem gefängnisindustriellen Komplex mehr Aufmerksamkeit widmen. Michelle Alexander deckt ihre Voreingenommenheit genauso auf wie die rassistischen Vorurteile der politischen Führung Amerikas, für die Arme und Benachteiligte jeder Hautfarbe ganz unten auf der Tagesordnung stehen. Die Autorin bringt dies in ihrem mutigen letzten Kapitel, in dem sie sich auf den großen James Baldwin beruft, deutlich zum Ausdruck, indem sie schreibt: »Die Gleichgültigkeit, die Weigerung, Menschen über alle Grenzen der Hautfarbe hinweg Mitgefühl entgegenzubringen, bildet den Kern des heutigen Kontrollsystems und jedes anderen rassische Kastensystems in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf der Welt.«

Martin Luther King hat uns dazu aufgefordert, einander zu lieben, nicht dazu, einander farbenblind gegenüberzutreten. Einander zu lieben aber heißt, sich um alle zu kümmern, allen tiefes Mitgefühl entgegenzubringen und Anteil an allen zu nehmen, auch an den Armen und Schwachen. Die soziale Bewegung, die das vorliegende historische Werk anfachen und speisen wird, wird einer demokratischen Erweckungsbewegung gleichkommen, die zeigt, dass wir nicht gleichgültig sind, dass das rassische Kastensystem abgeschafft werden muss, dass wir eine Revolution unserer falschen Prioritätenliste brauchen, einen Machtwechsel von den Oligarchen zum Volk – und dass wir bereit sind, dafür zu leben und zu sterben!

The New Jim Crow

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