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Die Entstehung der Masseninhaftierung

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Die Rhetorik von »Recht und Ordnung« wurde zuerst in den 1950er Jahren bemüht, als in den Südstaaten Gouverneure und Gesetzeshüter versuchten, den Widerstand der Weißen gegen die Bürgerrechtsbewegung zu mobilisieren. In den Jahren nach der Grundsatzentscheidung Brown v. Board of Education übte die Bürgerrechtsbewegung im Süden durch direkte Aktionen Druck aus, um die Aufhebung der Rassentrennung durchzusetzen. Ihre Gegner bezeichneten diese Aktionen als kriminell und behaupteten, der Erfolg der Bürgerrechtbewegung sei ein Indiz für den Verfall von Recht und Ordnung. Jegliche Unterstützung der Bürgerrechtsgesetzgebung galt den Konservativen im Süden als »Belohnung von Gesetzesbrechern«.

Mehr als ein Jahrzehnt lang – von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre – verbargen die Konservativen ihren Widerstand gegen die Bürgerrechtsgesetzgebung hinter der Rhetorik von Recht und Ordnung und diskriminierten Martin Luther Kings Philosophie des zivilen Ungehorsams als einen der wichtigsten Gründe für Kriminalität. Bürgerrechtsproteste wurden häufig als kriminelle und nicht als politische Handlungen dargestellt, die Bundesgerichte als zu lasch gegeißelt. Der damalige Vizepräsident Richard Nixon erklärte, die steigende Kriminalität könne »direkt mit der zersetzenden Idee in Zusammenhang gebracht werden, dass jeder Bürger ein angeborenes Recht hat, selbst zu entscheiden, welchen Gesetzen er gehorchen und wann er ihnen nicht gehorchen will«.37 Einige Befürworter der Rassentrennung gingen so weit, zu behaupten, dass die Integration Kriminalität verursache. Die geringeren Krimina litätsraten in den Südstaaten nahmen sie als Beweis für die Notwendigkeit einer Rassentrennung. Der Kongressabgeordnete John Bell Williams sagte dazu dies: »Dieser Exodus der Neger aus dem Süden und ihre Zuwanderung in die großen urbanen Zentren in anderen Regionen des Landes führte zu einer Welle von Verbrechen. … Was haben die Bürgerrechte diesen Regionen gebracht? … Die Rassentrennung ist die einzige Antwort, und die meisten Amerikaner – freilich nicht die Politiker – wissen dies auch schon seit Jahrhunderten.«38

Ungünstig war, dass das FBI gerade zu der Zeit, in der die Bürgerrechte als Bedrohung von Recht und Ordnung ausgemacht wurden, einen dramatischen Anstieg der landesweiten Kriminalitätsrate vermeldete. Tatsächlich stieg in den 1960er Jahren die Zahl der Verbrechen in den USA von Jahr zu Jahr. Die angezeigten Fälle von Straßenkriminalität vervierfachten sich, die Zahl der Morde verdoppelte sich beinahe. Auch wenn die Exaktheit dieser Statistiken umstritten ist (die Methoden des FBI zur Erfassung von Verbrechen änderten sich ständig), waren sich Soziologen und Kriminologen einig, dass die Gesamtzahl der Verbrechen stieg, in einigen Kategorien sogar ganz erheblich. Die Gründe dafür sind komplex, aber zum großen Teil lässt sich das Phänomen durch den »Babyboom« erklären – die Zahl der jungen Männer zwischen 15 und 24, schon immer für die größte Zahl der Verbrechen verantwortlich, war enorm gewachsen. Gleichzeitig nahm die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Männern dramatisch zu. Doch in den Medien spielten diese demografischen und ökonomischen Faktoren keine Rolle. Sie brachten Kriminalitätsstatistiken als Sensationsmeldungen und als Beleg, dass es in der Folge der Bürgerrechtsbewegung mit Gesetzestreue, Moral und gesellschaftlicher Stabilität bergab ging.39

Dann brachen im Sommer 1964 Straßenschlachten in Harlem und Rochester aus, und nach der Ermordung von Martin Luther King 1968 kam es zu Unruhen im ganzen Land. Die Bilder von aufständischen Schwarzen gossen Öl ins Feuer der Bürgerrechtsgegner. Städte wie Philadelphia und Rochester wurden als Opfer ihrer eigenen Großzügigkeit hingestellt. Nachdem sie die Schwarzen aus dem Süden willkommen geheißen hätten, seien sie »rasch mit Slums voller Kriminalität und schwarzem Unmut belohnt worden«, so die Konservativen.40

Barry Goldwater schlachtete 1964 in seiner Präsidentschaftskampagne die Unruhen und die Angst vor kriminellen Schwarzen aus und legte damit den Grundstein einer Bewegung, die Härte gegen Kriminalität versprach. In einer oft zitierten Rede warnte Goldwater die Wähler: »Wer den Weg der Regierung [Johnson] geht, der bahnt dem Mob den Weg auf den Straßen.«41 Bürgerrechtsaktivisten, die argumentierten, die Unruhen seien eine direkte Folge der Schikanen und Übergriffe der Polizei, wurden von den Konservativen kurzerhand abgetan. »Wenn sich [die Schwarzen] ordentlich benehmen, dann müssen sie sich über Polizeibrutalität keine Sorgen machen«, meinte Robert Byrd, Senator von West Virginia.42

Viele Bürgerrechtler kämpften gegen den Versuch der Konservativen, die steigende Kriminalitätsrate als Vorwand für eine harte Politik gegenüber den Schwarzen auszuschlachten, doch es gab sogar schwarze Aktivisten, die sich dem Ruf nach »Recht und Ordnung« anschlossen und ebenfalls ein hartes Vorgehen gegen Gesetzesbrecher forderten. So machten sich schwarze Bürgerrechtler in Harlem, aufgeschreckt durch die steigenden Kriminalitätsraten, für das drastische »Rockefeller-Drogengesetz« und andere harsche Maßnahmen stark.43 Unbewusst trugen sie damit zur Entstehung eines Strafverfolgungssystems bei, das in der Welt seinesgleichen sucht. Dass auch Schwarze, angesichts der Unsicherheit auf den Straßen, eine harte Linie gegen die Kriminalität in den Städten befürworteten, war konservativen Politikern sehr willkommen. Sie witterten eine Chance, die Uhren der Rassenpolitik in den USA zurückzudrehen, und führten die Unterstützung dieser Schwarzen als »Beweis« dafür an, dass ihre Forderungen nach mehr »Recht und Ordnung« nichts mit der Hautfarbe zu tun hatten.

Anfangs gab man sich wenig Mühe, die Rassenmotive hinter der Rhetorik von Recht und Ordnung und den harschen Gesetzesvorlagen zum Strafrecht zu verbergen. Die schärfsten Gegner der Bürgerrechtsgesetzgebung und der Aufhebung der Rassentrennung waren zugleich die aktivsten Befürworter dieser Strafrechtsreform. Einer der bekanntesten Befürworter der Rassentrennung, George Wallace, klagte beispielsweise, dass »derselbe Oberste Gerichtshof, der die Aufhebung der Klassentrennung angeordnet und die Bürgerrechtsgesetzgebung gefördert hat«, sich nun »ein Bein ausreißt, um Kriminellen zu helfen«.44 Drei weitere prominente Befürworter der Rassentrennung – die Senatoren McClellan, Ervin und Thurmond – versuchten unterdessen, die Rechte von Angeklagten einzuschränken.45

Nachdem sich die Regeln des akzeptablen Diskurses geändert hatten, bestritten die Befürworter der Rassentrennung explizit rassistische Absichten. Stattdessen entwickelten sie eine von allen Rassenbegriffen gereinigte Rhetorik des »harten Durchgreifens« gegen das Verbrechen, die mittlerweile Politiker jeglicher Couleur im Munde führen. Konservative Politiker, die sich dieser Sprache bedienten, machten ganz bewusst keinen Unterschied zwischen der Strategie der direkten Aktion der Bürgerrechtsbewegung, den Unruhen in den Städten und ganz gewöhnlicher Kriminalität. Stattdessen wurden »alle diese Phänomene nun unter der Überschrift ›Straßenkriminalität‹ eingeordnet«, wie Marc Mauer vom Sentencing Project feststellt.46

Nach der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze war in der öffentlichen Debatte denn auch nicht mehr von der Segregation die Rede, vielmehr ging es nun nur noch um Kriminalität. Die Frontlinien blieben allerdings weitgehend dieselben. Die Positionen zur Kriminalpolitik deckten sich typischerweise mit den Standpunkten in der Rassenfrage. Die Politikwissenschaftlerin Vesla Weaver erklärt dazu: »Abstimmungen, in denen es um das Verbot der Rassentrennung auf dem Wohnungsmarkt (open housing), die Förderung der Rassenintegration durch Transport von Schulkindern in andere Bezirke (busing), die Bürgerrechtsgesetze und andere Maßnahmen ging, zeigten stets dieselben Trennlinien auf wie die Abstimmungen über Erweiterungen der Strafgesetze. … Kongressabgeordnete, die gegen die Bürgerrechtsgesetze gestimmt hatten, setzten sich nun energisch für neue Strafgesetze ein.«47

Obwohl es mit der Rhetorik von Recht und Ordnung formell nicht gelang, die Zerschlagung des Systems von Jim Crow zu verhindern, fand sie doch sehr viel Anklang bei den armen Weißen der Arbeiterklasse, insbesondere im Süden, die gegen die Aufhebung der Rassentrennung waren und sich von der Demokratischen Partei im Stich gelassen fühlten. Weaver schreibt dazu: »Die Verknüpfung von Verbrechen und Hautfarbe, die die Befürworter der Rassentrennung vorgenommen hatten, löste sich nicht, sie wurde nur neu gefasst und mit einem leicht anderen Anstrich versehen.« In dieser neuen Form wurde sie dann zum Fundament des konservativen Programms zur Verbrechensbekämpfung.48 Schließlich trug die Idee von Recht und Ordnung, die zuerst die Befürworter der Rassentrennung vorgetragen hatten, zu einer breiten Neuausrichtung der Parteien in den Vereinigten Staaten bei.

Nach dem Bürgerkrieg war das Land parteipolitisch zweigeteilt. Der Süden war fest in der Hand der Demokraten. Sie vertraten jene, die vom Ausgang des Kriegs verbittert waren, und taten alles, um das rassische Kastensystem aufrechtzuerhalten. Vehement lehnten sie jede Unterstützung der Bundesregierung für die Sache der Afroamerikaner ab. Der Norden hingegen war weitgehend republikanisch gesinnt. Zwar hatten auch die Republikaner eine zwiespältige Haltung zur Gleichheit der Afroamerikaner, aber sie waren eher geneigt, eine Reform der Rassengesetze in Angriff zu nehmen als ihre demokratischen Kollegen südlich der Mason-Dixon-Linie, der Grenzlinie zwischen Nord-und Südstaaten.

Die Große Depression führte zu einem grundlegenden Wandel in den amerikanischen Rassenbeziehungen und der Orientierung der Parteien. Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte, mit seinem New Deal die Not der Armen in der Wirtschaftskrise zu lindern, wovon die Schwarzen, die Ärmsten der Armen, überproportional profitierten. Trotz vieler Beispiele von Diskriminierung bei der Ausführung der Programme wurden die Schwarzen doch zumindest dem Kreis der Begünstigten zugerechnet – allein das schon ließ »die Hoffnungen und Erwartungen der Schwarzen nach Jahrzehnten der bewussten Vernachlässigung durch Washington steigen«.49 Die armen Weißen der Arbeiterklasse im Norden und Süden nahmen den New Deal ebenso positiv auf wie die Afroamerikaner. So entwickelte sich die Koalition des demokratischen New Deal zu einer Allianz urbaner ethnischer Gruppen mit dem weißen Süden, die in den Wahlen zwischen 1932 und 1960 eine beherrschende Rolle spielte.

Dies fand ein jähes Ende mit der Entwicklung der sogenannten »Southern Strategy«. Die große Wirkung der rhetorischen Floskel von Recht und Ordnung bei der weißen Arbeiterklasse und die besonders im Süden anhaltend massiven Vorbehalte gegenüber einer Reform der Rassenbeziehungen ließ bei den Parteistrategen der Republikaner die Idee reifen, ihrer Partei zu einer »New Majority«, einer neuen Mehrheit, zu verhelfen – mit der traditionellen Basis der Republikaner, dem weißen Süden und der Hälfte der katholischen Arbeiterschaft in den großen Städten.50 Einige von ihnen gaben offen zu, ein wesentlicher Bestandteil dieser Strategie bestehe darin, an die Ängste und die Feindseligkeit der Weißen gegen die Schwarzen zu appellieren, freilich nur verdeckt. H. R. Haldeman, einer der engsten Berater Nixons, erinnert sich, dass sein Chef selbst ganz bewusst eine rassistische Linie im Sinne der Southern Strategy verfolgte: »Er [Präsident Nixon] betonte die Notwendigkeit, sich der Tatsache zu stellen, dass die Schwarzen das große Problem seien. Es kommt nur darauf an, ein System zu finden, das dies anerkennt, ohne dass es offensichtlich wird.«51 Ähnlich erklärte John Ehrlichman, Sonderberater des Präsidenten, Nixons Wahlstrategie von 1968 mit den Worten: »Wir holen uns die Rassisten.«52 Laut Ehrlichman war »dieser unterschwellige Appell an die schwarzenfeindlichen Wähler in Nixons Verlautbarungen und Reden ständig präsent«.53

Kevin Phillips, Wahlkampfstratege der Republikaner, gilt als einer der Erfinder dieser Strategie. In The Emerging Republican Majority, erschienen 1969, legte er dar, dass Nixons erfolgreicher Präsidentschaftswahlkampf den Weg zu einer langfristigen politischen Neuausrichtung und zur Bildung einer neuen republikanischen Mehrheit weisen könne, wenn die Republikaner ihren Wahlkampf weiterhin in erster Linie mit Rassenthemen unter Verwendung einer verschleierten schwarzenfeindlichen Rhetorik führten.54 Die weiße Wählerschaft der Demokraten im Süden habe sich durch deren Engagement für Bürgerrechtsreformen von ihrer Partei entfremdet und könne leicht für die Republikaner gewonnen werden, wenn sie sich dort mit ihren Rassenressentiments aufgehoben fühle. Warren Weaver, der das Buch für die New York Times rezensierte, wies darauf hin, dass der Erfolg von Phillips’ Strategie vor allem davon abhinge, ob es den Republikanern gelänge, die Politik mit dem Thema Rasse zu polarisieren. »Totale rassische Polarisierung ist ein wesentlicher Bestandteil von Phillips’ politischem Pragmatismus. Er wünscht sich eine schwarze demokratische Partei, besonders im Süden, weil das der Republikanischen Partei genau jene schwarzenfeindlichen Wähler in die Arme treibt, die ihr helfen können, eine neue Mehrheit zu gewinnen. Zu diesem Zweck unterstützt er sogar gewisse Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung.«55 Ende des 19. Jahrhunderts hatte man die Populistische Partei aus dem Feld geschlagen, indem man den Rassismus und die Sorgen und Nöte der weißen Arbeiterklasse aufgriff, und jetzt war eine wachsende Zahl von Konservativen dafür, genau dies zu wiederholen, nur etwas versteckter.

So bildeten sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zwei Denkrichtungen über Rasse, Armut und Gesellschaftsordnung aus. Konservative argumentierten, dass die Gründe für Armut nicht in strukturellen Faktoren, die mit Klasse oder Hautfarbe zu tun hatten, liegen, sondern mehr mit der Kultur zu tun hätten – insbesondere der schwarzen Kultur. Diese Sicht der Dinge wurde vom mittlerweile berühmt-berüchtigtem Moynihan Report über die schwarze Familie unterstützt, in dem die schwarze Armut einer mit vielen Problemen behafteten schwarzen »Subkultur« zugeschrieben wurde. Die Soziologin Katherine Beckett meint dazu: »Das (angebliche) Fehlverhalten der Armen wurde nicht mehr als Anpassungsleistung an die Bedingungen der Armut angesehen, die sie im Ergebnis unglücklicherweise reproduzierte, sondern als Charaktermangel, der die Armut überhaupt erst verursachte.«56 Die Gründe für die »Sozialpathologie« der Armen, insbesondere Straßenkriminalität, Drogenkonsum und Kleinkriminalität, wurden von den Konservativen nun vor allem in zu großzügigen Hilfsprogrammen gesehen. Schwarzer »Sozialbetrug« und seine gefährlichen Folgen wurden erstmals Thema im politischen Diskurs und in den Medien.

Liberale hingegen hielten daran fest, dass Reformen wie der Krieg gegen die Armut und die Bürgerrechtsgesetze die Ursachen der Kriminalität an den Wurzeln packen würden, und verwiesen auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die zwangsläufig Kriminalität förderten. So stellte Lyndon Johnson beispielsweise 1964 im Präsidentschaftswahlkampf gegen Barry Goldwater Programme gegen die Armut letztlich als Programme gegen Kriminalität dar: »Es ist grundverkehrt, wenn ein Kandidat für das höchste Amt die Gewalt auf den Straßen beklagt, aber gegen den Krieg gegen die Armut, gegen den Civil Rights Act und gegen wichtige Bildungsreformen stimmt, die ihm als Abgeordnetem vorgelegt werden.«57

In den Debatten wurde das Bild »unverschuldeter« gegen das »selbst verschuldeter« Armut gesetzt. Mit rassischen Untertönen versehen wurde dieses Bild zu einem entscheidenden Argument der Konservativen. Es diente ihnen dazu, ihre Ideen von Recht und Ordnung mit den Ressentiments in der weißen Arbeiterschaft zu verknüpfen, von denen sich viele durch den Aufstieg der Afroamerikaner bedroht fühlten. Wie Thomas und Mary Edsall in ihrem aufschlussreichen Buch Chain Reaction darlegen, trugen die Unterschicht und die untere Mittelschicht der Weißen einen überproportional großen Teil der Kosten der Integration und der Rassengleichheit, da sie auf einmal mit den Schwarzen unter denselben Bedingungen um Arbeitsstellen und Status konkurrieren mussten und in Vierteln wohnten, die an die Gettos der Schwarzen grenzten.

Ihre Kinder – und nicht die Kinder der Wohlhabenden – besuchten die Schulen, die am ehesten vom »Busing«, der staatlich angeordneten Integration durch Schülertransporte, betroffen waren. Die wohlhabenden weißen Liberalen, die sich für die Forderungen von Schwarzen und anderen Minderheiten starkmachten, »waren in ihrem Privatleben großenteils abgesichert und meist nicht betroffen von den Kosten, die die Umsetzung der Forderungen von Minderheiten mit sich brachte«.58 So konnten die Konservativen vom »liberalen demokratischen Establishment« reden, dem sie vorwarfen, den Kontakt zu den arbeitenden Menschen verloren zu haben – was eines der zentralen Probleme löste, mit denen sich die Konservativen konfrontiert sahen: Wie die Armen und die Arbeiterklasse davon überzeugen, dass die Interessen der Konzerne und der konservativen Elite auch die ihren waren? Im Jahr 1968 stimmten laut einer Gallup-Umfrage 81 Prozent der Einschätzung zu, »Recht und Ordnung haben in den USA keine Geltung mehr«, und die Mehrheit machte dafür »aufrührerische Neger« und »Kommunisten« verantwortlich.59

In der Präsidentschaftswahl jenes Jahres machten sowohl der Kandidat der Republikanischen Partei, Richard Nixon, als auch George Wallace, der für Rassentrennung eintrat und als Unabhängiger kandidierte, »Recht und Ordnung« zum zentralen Thema ihres Wahlkampfs. Damit erhielten sie zusammengenommen 57 Prozent der Stimmen.60 Nixon widmete 17 Reden ausschließlich dem Thema Recht und Ordnung, und in einem Wahlkampfspot forderte er die Wähler explizit auf, der Gesetzlosigkeit der Bürgerrechtsaktivisten eine Absage zu erteilen und für die »Ordnung« in den Vereinigten Staaten zu stimmen.61 Der Spot zeigte in rascher Bilderfolge und dramatischer Musikuntermalung Demonstranten, blutüberströmte Opfer und Krawalle. Eine tiefe Stimme sprach dazu den Kommentar:

Es ist Zeit für einen ehrlichen Blick auf das Problem der Ordnung in den Vereinigten Staaten. Meinungsverschiedenheiten gehören notwendig zu jedem Wandel, aber in einem Regierungssystem, das friedlichen Wandel ermöglicht, ist Gewalt durch nichts zu rechtfertigen. Bedenken wir, dass das wichtigste Recht eines jeden Amerikaners ist, im eigenen Land keine Gewalt fürchten zu müssen. Ich versichere Ihnen, für Ordnung in den Vereinigten Staaten zu sorgen.

Am Ende des Wahlspots wurde der Text eingeblendet: »Wählen Sie diesmal … als würde Ihre ganze Welt davon abhängen … NIXON.« Nixon soll die Vorführung des Spots mit den Worten kommentiert haben: »Das sitzt. Das haben diese verdammten Neger und Puerto Ricaner da draußen davon.«62

Rasse war wieder zu einem starken Keil geworden, getrieben in die solide liberale Koalition, die sich aus den ökonomischen Interessen der Armen und Arbeitenden und der unteren Mittelschicht gebildet hatte. In der Präsidentschaftswahl von 1968 wurden Rassenfragen wichtiger als Klassenzugehörigkeit, und 1972 definierten sich die Wähler eher über ihre Einstellung zu Rassenproblemen als über ihren sozioökonomischen Status. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren nahm die Überzeugung der weißen Arbeiterklasse, dass Armut und wirtschaftliche Erfolglosigkeit das Ergebnis eines verfehlten politischen Systems waren, das verändert werden musste, rapide ab. »Die Art, wie am unteren Ende der Einkommensskala die Weißen gegen die Schwarzen ausgespielt wurden, verstärkte die ohnehin bei vielen Weißen verbreitete Ansicht, dass die Benachteiligten – insbesondere die Schwarzen – selbst die Verantwortung für ihre Lebensbedingungen trugen und nicht die Gesellschaft«, erklären die Edsalls.63 So wie die Eliten des Südens bei der Wende zum 20. Jahrhundert das Thema Rasse eingesetzt hatten, um die Klassensolidarität unter den Armen zu zerstören, so hatte nun die landesweite Problematisierung von Rassenfragen die Koalition der Mittel- mit den Unterschichten zerstört, die der New Deal der Demokraten geschmiedet hatte.

Die konservative Revolution, die in den 1960er Jahren in der Republikanischen Partei Wurzeln schlug, erreichte ihre volle Ausprägung erst mit der Präsidentschaftswahl von 1980. Das Jahrzehnt vor Ronald Reagans Kandidatur war geprägt von politischen und gesellschaftlichen Krisen. Der Bürgerrechtsbewegung folgten eine erbitterte Auseinandersetzung über die Umsetzung des Gleichheitsprinzips – Streitpunkte waren insbesondere Busing und Affirmative Action – sowie dramatische politische Auseinandersetzungen um den Vietnamkrieg und Watergate. Auch die Konservativen legten in dieser Zeit Lippenbekenntnisse zur Rassengleichstellung ab, tatsächlich aber widersetzten sie sich aktiv der Integration, dem Busing und der Durchsetzung der Bürgerrechte. Immer wieder stellten sie Sozialhilfe in Frage und setzten dabei geschickt das Bild einer sich nach Kräften abmühenden weißen Arbeiterschaft in Gegensatz zu dem der armen Schwarzen, die sich angeblich vor der Arbeit drückten. Die Botschaft an die weiße Arbeiterklasse war klar: Eure Steuergelder fließen in Unterstützungsprogramme für Schwarze, die sie in aller Regel nicht verdient haben. Während dieser Zeit rief Nixon auch den »Krieg gegen die Drogen« aus – eine Ankündigung, die mehr oder weniger reine Rhetorik blieb, da sich an der Drogenpolitik wenig änderte, außer dass Drogen zum »Staatsfeind Nummer eins« erklärt wurden. Den Schwarzen blies also wieder einmal der Wind ins Gesicht, aber es hatte sich noch kein Konsens darüber herausgebildet, welche neue Rassen- und Gesellschaftsordnung diese turbulente Zeit hervorbringen sollte.

Reagan erwies sich im Wahlkampf als Meister darin, »die Sprache der Rasse aus dem öffentlichen Diskurs der Konservativen zu streichen«. Damit konnte er auf dem Erfolg früherer Konservativer aufbauen, die es verstanden hatten, die Feindseligkeit und die Ressentiments zwischen den Rassen politisch auszuschlachten, ohne sich explizit auf das Thema Rasse zu beziehen.64 Er wetterte gegen sogenannte »Welfare Queens«, zumeist alleinerziehende Mütter, die sich angeblich mithilfe von Sozialleistungen ein schönes Leben machten, und zog gegen kriminelle »Raubtiere« zu Felde. So errang er die Präsidentschaft mit Unterstützung der unzufriedenen weißen Arbeiterklasse, die sich von der Befürwortung der Bürgerrechte durch die Demokratische Partei verraten fühlte. Wie ein Insider bemerkte, beruhte Reagans Anziehungskraft vor allem auf dem ideologischen Eifer des rechten Flügels der Republikanischen Partei und »der Nöte jener, die Angst oder Abneigung gegenüber den Negern empfanden und die von Reagan erwarteten, sie ›an ihrem Platz‹ zu halten oder zumindest ihrer eigenen Wut und Enttäuschung eine Stimme zu geben«.65 Reagan verstand es, die Frustration der Weißen in rassenneutraler Sprache unterschwellig anzusprechen. Weiße (und schwarze) Wähler hörten aus seinen oberflächlich »farbenblinden« Sätzen über Verbrechen, Sozialleistungen und die Rechte der Bundesstaaten sehr deutlich die rassistischen Untertöne heraus, auch wenn sich dies nirgends konkret festmachen ließ. Ein Beispiel: Als Reagan seine Kandidatur für das Präsidentenamt auf der jährlich stattfindenden Neshoba County Fair bei Philadelphia im Bundesstaat Mississippi verkündete – in einer Stadt, in der 1964 drei Bürgerrechtsaktivisten ermordet worden waren –, versicherte er der Menge: »Ich glaube an die Rechte der Bundesstaaten«, und versprach, ihren Einfluss zusammen mit dem der Kommunalverwaltungen zu stärken.66 Seine Kritiker warfen ihm sofort vor, dies sei eine rassistische Botschaft, mit der Reagan bei den Gegnern der Bürgerrechte anzukommen versuche, doch Reagan bestritt dies entschieden und zwang damit die Liberalen in eine Position, die bald vertraut werden sollte – sie behaupteten, etwas sei rassistisch gemeint, konnten es aber nicht nachweisen, da keinerlei explizit rassistische Äußerungen gefallen waren.

Verbrechen und Sozialprogramme waren die beherrschenden Themen in Reagans Wahlkampf. Gerne erzählte er die Geschichte von einer »Welfare Queen« aus Chicago, mit »80 Namen, 30 Adressen, 12 Sozialkarten«, deren »steuerfreies Einkommen 150.000 Dollar übersteigt«. 67 Der Ausdruck »Welfare Queen« war ein nicht besonders subtiler Code für eine angeblich »faule, habgierige schwarze Mutter aus dem Getto«. Lebensmittelmarken würden es bloß ermöglichen, dass sich »irgendjemand vor einem ein Steak kauft«, während man »mit seiner Packung Hackfleisch an der Kasse steht«.68 Solche stark rassistisch gefärbten Geschichten, die sich gezielt an die weiße Arbeiterklasse wendeten, waren gewöhnlich von vollmundigen Versprechen begleitet, auf Ebene der Bundesregierung härter gegen Verbrechen vorzugehen. Reagan charakterisierte den Kriminellen als »ein glotzendes Gesicht – ein Gesicht, das der beängstigenden Realität unserer Zeit gehört: das Gesicht des menschlichen Raubtiers«.69 Reagans rassistisch codierte Rhetorik und Strategie erwiesen sich als außerordentlich effektiv: 22 Prozent der Demokraten ließen ihre Partei im Stich und gaben ihm ihre Stimme. Von den Demokraten, die fanden, dass die Führer der Bürgerrechtsbewegung »zu stark« drängten, liefen sogar 34 Prozent zu ihm über.70

Nach Reagans Wahl zeigte sich, dass sich sein Wahlversprechen, den Kampf gegen die Straßenkriminalität zu verstärken, nicht ohne Weiteres umsetzen ließ, da diese Aufgabe traditionell den Vollzugsorganen der Bundesstaaten und Gemeinden zufiel. Nach anfänglicher Konfusion und einigen Kontroversen darum, ob nun die öffentliche Sicherheit in die Verantwortung des FBI und der Bundesregierung fallen sollten, kündigte das Justizministerium an, die Zahl seiner Spezialisten für Wirtschaftskriminalität um die Hälfte zu reduzieren und sich von jetzt an mehr auf die Straßen- und insbesondere die Drogenkriminalität zu konzentrieren.71 Im Oktober 1982 erklärte Präsident Reagan offiziell seinen Krieg gegen die Drogen. Zu diesem Zeitpunkt betrachteten lediglich 2 Prozent der Amerikaner Drogen als das größte Problem des Landes.72 Davon ließ sich Reagan nicht aufhalten, hatte doch der Drogenkrieg von Anfang an wenig mit Drogen, aber viel mit Rasse zu tun ge habt. Mit seinem Krieg gegen die Drogenkonsumenten und Dealer löste Reagan sein Versprechen ein, gegen die »Anderen« – vorzugehen – jene, die es nicht besser verdient hatten.

Die Budgets der Vollzugsbehörden des Bundes schossen praktisch über Nacht in die Höhe. Zwischen 1980 und 1984 stiegen die Mittel des FBI für den Kampf gegen die Drogen von 8 Millionen Dollar auf 95 Millionen Dollar. 73 Die Gelder, die das Verteidigungsministerium für den Drogenkrieg bereitstellte, nahmen von 33 Millionen Dollar im Jahr 1981 auf 1,042 Milliarden Dollar im Jahr 1991 zu. Während dieser Zeit kletterten die Ausgaben der Antidrogenbehörde DEA von 86 Millionen Dollar auf 1,026 Milliarden Dollar und die des FBI für den Kampf gegen die Drogen von 38 auf 181 Millionen Dollar.74 Im Gegensatz dazu wurde die Finanzierung von Einrichtungen, die sich mit der Behandlung von Süchtigen, der Prävention und Aufklärung beschäftigten, drastisch zusammengestrichen. Das Budget des National Institute of Drug Abuse beispielsweise fiel von 1981 bis 1984 von 274 Millionen Dollar auf 57 Millionen Dollar, und die Gelder des Bildungsministeriums für diese Zwecke wurden von 14 Millionen Dollar auf 3 Millionen Dollar gekürzt.75

Um sicherzustellen, dass die »neue republikanische Mehrheit« weiterhin die aussergewöhnliche Expansion der bundesstaatlichen Aktivitäten unterstützte und der Kongress diese weiterhin finanzierte, lancierte die Regierung unter Reagan eine Medienkampagne, die den Krieg gegen die Drogen rechtfertigen sollte.76 Darin wurde vor allem der Konsum der neuen Droge Crack in den Innenstädten dramatisiert, die aufgrund der Deindustrialisierung unter rasant steigenden Arbeitslosenzahlen litten. Der Medienrummel, den die Kampagne auslöste, hätte für die Afroamerikaner kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können.

Anfang der 1980er Jahre, als der Krieg gegen Drogen seinen Anfang nahm, standen viele amerikanische Innenstädte vor dem ökonomischen Kollaps. Die einfachen Arbeitsplätze in der Industrie, die es in den Städten während der 1950er und 1960er Jahre noch in Hülle und Fülle gegeben hatte, waren verschwunden.77 Vor 1970 konnten auch gering qualifizierte, in der Stadt lebende Arbeiter unweit ihres Wohnorts eine Stelle in der Industrie finden. Mit der Globalisierung war dies zu Ende. Die Konzerne verlagerten die Produktion in Länder, in denen es keine Gewerkschaften gab und wo die Arbeiter nur einen Bruchteil dessen verdienten, was in den USA als anständiger Lohn galt. Weitere Jobs für Geringqualifizierte fielen dem technologischen Fortschritt zum Opfer. Gut ausgebildete Arbeiter konnten vom technologischen Wandel und dem Einzug der Computertechnik profitieren, aber die einfachen Arbeiter hatten beim rasanten Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft das Nachsehen.

Die Globalisierung und der mit ihr verbundene industrielle Niedergang wirkten sich am stärksten in den von Schwarzen bewohnten Stadtvierteln aus. William Julius Wilson beschreibt in seinem Buch When Work Disappears, dass in den 1970er Jahren die überwiegende Mehrheit der Afroamerikaner über keinen College-Abschluss verfügte und segregierte, miserabel ausgestattete Schulen besucht hatte. Diese Menschen, die in den Gettos lebten, waren denkbar schlecht auf den gewaltigen Umbruch vorbereitet, den die Wirtschaft der USA erfuhr; sie wurden arbeitslos und im Stich gelassen. Laut einer Studie hatte noch Ende der 1970er Jahre mehr als 70 Prozent der Schwarzen, die in städtischen Gebieten berufstätig waren, einen Job als einfache Arbeiter.78 Doch schon 1987, als der Krieg gegen die Drogen so richtig in Fahrt gekommen war, waren nur noch 28 Prozent aller schwarzen Männer in der Industrie beschäftigt.79

Wenn in der Industrie in dieser Zeit Arbeitsplätze entstanden, dann zumeist in den Außenbezirken der Städte. Die wachsende räumliche Entfernung traf wiederum vor allem die Afroamerikaner: Nur 28 Prozent der schwarzen Väter in den Städten verfügten über ein Auto, von jenen, die in den Gettos lebten, nur 18 Prozent.80

Den Frauen erging es in dieser Zeit etwas besser, weil die Sozialdienste in den städtischen Gebieten – die hauptsächlich Frauen beschäftigen – zur selben Zeit, in der Industriearbeitsplätze verschwanden, einen Aufschwung erlebten. Der Anteil schwarzer Männer, die eine Stelle im Dienstleistungssektor ergatterten, etwa in Pflegeeinrichtungen oder in Büros, war hingegen vernachlässigbar.81

Der Rückgang an legalen Verdienstmöglichkeiten verstärkte bei den Bewohnern der Innenstädte den Anreiz, Drogen zu verkaufen. Das war meist Crack, pharmakologisch gesehen dasselbe wie Kokain, aber so aufbereitet, dass es verdampft und inhaliert werden kann, was zu einem intensiveren (und kürzeren) Rausch bei geringerem Verbrauch führt. So können kleinere Dosen zu einem attraktiveren Preis verkauft werden. Crack eroberte 1985 die Straßen, wenige Jahre, nachdem Reagan seinen Krieg gegen die Drogen verkündet hatte. Die neue Droge mischte den Markt völlig auf, was zu einer Welle von Gewalt führte. Hinzu kam die Frustration über die mangelnden Arbeitsplätze. Arbeitslosigkeit und Crack suchten die Innenstädte genau in dem Augenblick heim, als sich die erbitterte Gegenreaktion auf die Bürgerrechtsbewegung im Krieg gegen die Drogen formiert hatte.

Man sollte den Schaden, den Crack und die mit der Droge verbundene Gewalt anrichteten, gewiss nicht verharmlosen. David Kennedy bemerkte dazu ganz richtig: »Crack fegte durch die Viertel der armen Schwarzen wie die vier apokalyptischen Reiter«, die Droge hinterließ unaussprechliche Verheerung und Leid.82 Doch ein Land hat auch eine Wahl, wie es auf ein solches Problem reagiert. Anderswo setzte man eher auf Behandlung der Süchtigen, Prävention und Beratung oder half den vom Verbrechen geplagten Gemeinden durch Investitionen auf die Beine. In Portugal beispielsweise entschied man sich dafür, der Drogenproblematik durch Entkriminalisierung sämtlicher Drogen die Grundlage zu entziehen, und steckte das Geld, das man für die Inhaftierung der Drogenkonsumenten ausgegeben hätte, in Drogenbehandlung und Prävention. Zehn Jahre später konnte Portugal vermelden, dass sowohl der Drogenmissbrauch und die Zahl der Drogenkonsumenten als auch die Drogenkriminalität rückläufig waren.83

Viele Wege standen uns als Nation offen, der Crack-Krise zu begegnen. Doch aus Gründen der Rassenpolitik und weil sich damit besser Ängste schüren lassen, wählten wir Krieg. Die Konservativen hatten endlich einen Grund gefunden, hemmungslos gegen einen »Feind« zu Felde zu ziehen, den sie schon Jahre zuvor rassisch definiert hatten.

Und so ergriff die Regierung Reagan die Gelegenheit beim Schopf. Im Oktober 1985 ernannte die DEA Robert Stutman zum Direktor ihres New Yorker Büros und beauftragte ihn damit, die Unterstützung der Öffentlichkeit für den neuen Krieg der Regierung zu gewinnen. Stutman entwickelte eine Medienkampagne, um Journalisten für das Thema Crack in den Innenstädten zu interessieren. Jahre später berichtete Stutman so darüber:

Die Agenten sahen mich unzählige Male mit Medienvertretern sprechen, um ihre Aufmerksamkeit auf die Drogenplage zu lenken. Ich ließ keine Gelegenheit aus, die von ihr [der DEA] erzielten Fortschritte im Kampf gegen den Drogenhandel hervorzuheben. … Wenn ich Washington überzeugen wollte, dann musste ich sie [die Drogen] zu einem Problem nationaler Tragweite machen, und zwar schnell. Ich stürzte mich in Lobbyarbeit und nutzte die Medien. Die waren nur allzu bereit, mit mir zusammenzuarbeiten, denn zumindest in New York lieferte Crack die heißesten Frontberichte seit dem Ende des Vietnamkriegs.84

Diese Strategie trug Früchte. Im Juni 1986 erklärte Newsweek Crack zur größten Sache seit dem Vietnamkrieg und Watergate, und im August desselben Jahres nannte die Zeitschrift Time Crack »das Problem des Jahres«. Tausende Berichte über die Crack-Krise füllten den Äther und die Zeitungskioske, alle mit einem deutlich rassistischen Unterton. Die Artikel handelten üblicherweise von »Crack-Huren«, »Crack-Babys« und Bandenkriminalität und verstärkten das schon bestehende Klischee einer kriminellen schwarzen Subkultur, in der die Frauen als verantwortungslose, egoistische »Welfare Queens« und die Männer schlicht als »Raubtiere« dargestellt wurden.85 Als im Juni 1986 Len Bias und Don Rogers, zwei populäre Sportler, an einer Überdosis Kokain starben, brachten Journalisten ihren Tod zunächst irrtümlich mit Crack in Zusammenhang, was den Sturm in den Medien weiter anfachte, eine Welle politischer Aktionen auslöste und die Angst der Öffentlichkeit vor der neuen »Teufelsdroge« verstärkte. Bis 1989 schlachteten die Medien das Thema Crack aus, sprachen von einer »Epidemie« und »Seuche«, von einer Droge, die »unmittelbar süchtig« mache und außerordentlich gefährlich sei – irreführende, inzwischen längst widerlegte Behauptungen. Zwischen Oktober 1988 und Oktober 1989 brachte allein die Washington Post 1565 Artikel über die »Teufelsdroge«. Richard Harwood, der Ombudsmann der Washington Post, räumte schließlich ein, die »aufgeheizte Stimmung« hätte dazu geführt, dass sein Blatt »die Verhältnismäßigkeit« aus den Augen verloren hätte. »Politiker bescheißen die Menschen«, so sein Fazit.86 Ähnlich äußerten sich später die Soziologen Craig Reinarman und Harry Levine: »Crack war ein Geschenk des Himmels für die Rechte. … Politisch gesehen hätte es zu keinem günstigeren Zeitpunkt auftauchen können.«87

Im September 1986, als der Medienrummel in vollem Gange war, billigte das Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf, der zwei Milliarden Dollar für den Kreuzzug gegen die Drogen bereitstellte, die Teilnahme des Militärs an Drogenbekämpfungsmaßnahmen vorsah, die Todesstrafe für gewisse Drogenverbrechen genehmigte und in Drogenprozessen auch mit illegalen Mitteln beschaffte Informationen als Beweise zuließ. Noch im selben Monat schlug der Senat noch schärfere Gesetze vor. Kurz darauf unterzeichnete der Präsident den Anti-Drug Abuse Act von 1986. Neben anderen harten Maßnahmen sah das Gesetz Mindesthaftstrafen für den Handel mit Kokain vor, und zwar deutlich schärfere für das vor allem mit Schwarzen assoziierte Crack als für das klassische Kokain, das hauptsächlich von Weißen konsumiert wurde.

Während des Gesetzgebungsprozesses waren nur vereinzelt kritische Stimmen zu hören. Ein Senator äußerte die Ansicht, Crack sei ein Sündenbock, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wahren Ursachen der sozialen Missstände ablenken solle: »Wenn wir Crack die Schuld an den Verbrechen geben, sind die Politiker aus dem Schneider. Vergessen sind dann die nicht funktionierenden Schulen, die miserablen Sozialprogramme, die heruntergekommenen Stadtviertel, die vergeudeten Jahre. An all dem soll nun Crack schuld sein. Fast schleicht sich der Gedanke ein, wenn es kein Crack gegeben hätte, dann hätte die Bundesregierung sicher ein Forschungsstipendium gestiftet, um es zu entwickeln.«88

1988 nahm sich der Kongress die Drogenpolitik erneut vor. Heraus kam eine noch einmal erheblich verschärfte Gesetzgebung, die nun weit über das traditionelle Strafrecht hinausgriff und ganz neue Strafen für Drogenvergehen einführte. Der erweiterte Anti-Drug Abuse Act sah vor, dass Mietern ihre Sozialwohnungen gekündigt werden konnten, wenn sie dort oder in der Nähe Drogenaktivitäten auch nur wissentlich geduldet hatten, und strich verurteilten Drogentätern zahlreiche Sozialleistungen des Bundes, darunter Studentendarlehen. Das Gesetz erweiter te auch die Möglichkeiten, für besonders schwerwiegende Drogendelikte die Todesstrafe zu verhängen, und bestimmte neue Mindeststrafen für Drogenvergehen, darunter eine Mindesthaftstrafe von fünf Jahren für den einfachen Besitz von Crack – auch wenn keine Verkaufsabsicht nachgewiesen werden konnte. Besonders bemerkenswert ist, dass diese Strafe auch für Ersttäter vorgesehen war. Derart drakonische Strafen waren im Strafrecht des Bundes ohne Beispiel. Bis 1988 hatte die Höchststrafe für Drogenbesitz, unabhängig von der Menge und der Droge, ein Jahr betragen. Die Mitglieder des Congressional Black Caucus (CBC), der Gruppierung der afroamerikanischen Kongressabgeordneten, waren geteilter Meinung – einige hielten die harten Gesetze für unumgänglich, andere meinten, sie seien so zugeschnitten, dass sie hauptsächlich Schwarze träfen. Am Ende wurde der Gesetzentwurf mit der überwältigenden Mehrheit von 346 zu 11 Stimmen gebilligt. Sechs der ablehnenden Stimmen kamen von Mitgliedern des CBC.89

Der Krieg gegen die Drogen erwies sich als zugkräftiges Thema bei entscheidenden weißen Wählergruppen, insbesondere bei solchen, denen die Emanzipation der Schwarzen ein Dorn im Auge war. Seit den 1970er Jahren zeigen Studien immer wieder, dass hauptsächlich rassistisches Denken – und nicht die Kriminalitätsrate oder die tatsächliche persönliche Bedrohung – Weiße dazu bringt, eine harte Linie gegen Kriminalität und Maßnahmen zum Abbau von Sozialleistungen zu unterstützen.90 Die Weißen, die sich am meisten Sorgen über Verbrechen machten, waren zugleich jene, die sich gegen Reformen in den Rassebeziehungen sperrten, und ihre Befürwortung harter Strafen steht in keinerlei Verhältnis zu der Wahrscheinlichkeit, dass gerade sie Opfer von Verbrechen werden könnten.91 Im Schnitt tendieren Weiße zu härteren Strafen als Schwarze, trotz der Tatsache, dass Schwarze viel öfter Opfer von Verbrechen werden. Und auf dem Land, wo die Kriminalitätsrate am niedrigsten ist, fordern die Weißen die höchsten Strafen.92 Der in einer rassenneutralen Sprache gekleidete Krieg gegen Drogen bot Weißen eine einmalige Gelegenheit, ihre feindselige Haltung gegenüber Schwarzen und deren gesellschaftlichen Erfolgen zum Ausdruck zu bringen, ohne sich dem Vorwurf des Rassismus auszusetzen.

Reagans Nachfolger, Präsident George H.W. Bush, wusste bereits aufgrund des Erfolgs anderer konservativer Politiker, dass sich mit negativen Rassenanspielungen Wähler von der Demokratischen Partei zu den Republikanern locken ließen, und zögerte nicht, diese subtilen implizit rassistischen Anspielungen einzusetzen. Bushs bekanntester Einsatz des Rassenthemas war der Wahlspot für William Horton. Darin war ein dunkelhäutiger verurteilter Mörder zu sehen, der während eines Hafturlaubs eine weiße Frau in ihrer Wohnung vergewaltigt hatte. Der Wahlspot machte Bushs demokratischen Konkurrenten, den Gouverneur von Massachusetts Michael Dukakis, dafür verantwortlich, weil er das Hafturlaubsprogramm, das die Tat ermöglichte, gebilligt hatte. Der Spot lief über Monate auf allen Sendern und wurde Gegenstand zahlloser politischer Kommentare. So kontrovers der Spot war, so wirkungsvoll war er auch: Er machte Dukakis’ Hoffnungen auf die Präsidentschaft zunichte.

Nach seinem Einzug ins Oval Office blieb Bush seiner Linie treu und bremste die Affirmative Action und die strikte Umsetzung der Bürgerrechtsgesetze. Mit umso größerem Enthusiasmus führte er den Krieg gegen die Drogen. Im August 1989 bezeichnete Präsident Bush den Drogenkonsum als »das drängendste Problem des Landes«.93 Kurz danach ergab eine von der New York Times und CBS News in Auftrag gegebene Meinungsumfrage, dass 64 Prozent der Befragten – der höchste jemals ermittelte Prozentsatz –nun tatsächlich glaubten, Drogen seien das größte Problem der Vereinigten Staaten.94 Diese Ängste in der Bevölkerung waren nicht einem tatsächlichen Anstieg der Drogenkriminalität geschuldet, sondern vielmehr das Ergebnis einer sorgfältig orchestrierten politischen Kampagne.95

Die Haltung, dass man den Problemen in den Wohnquartieren der Schwarzen mit »Härte« begegnen müsse, geht auf die 1960er Jahre zurück. Damals forderten die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung echte Opfer auf Seiten der weißen Amerikaner, und konservative Politiker erkannten, dass sie die Ressentiments der Weißen gegen die Schwarzen für sich nutzen konnten, indem sie gelobten, rigide gegen Kriminalität durchzugreifen. Ende der 1980er Jahre waren es jedoch nicht mehr nur die Konservativen, die Härte gegen das Verbrechen zeigen wollten und sich dabei einer Sprache bedienten, die den Befürwortern der Rassentrennung kaum nachstand. Politiker und Parteistrategen auf demokratischer Seite bemühten sich nun, ihren politischen Gegnern die Vorherrschaft auf dem Feld der Kriminalitäts- und Drogenbekämpfung durch die Befürwortung strengerer Gesetze streitig zu machen, um die Wechselwähler zurückzugewinnen, die zur Republikanischen Partei abgewandert waren. Pikanterweise wurden diese sogenannten »neuen Demokraten« von notorischen Rassisten unterstützt, allen voran vom Ku-Klux-Klan, der 1990 erklärte, sich »dem Kampf gegen Drogen« anschließen zu wollen, und sich als »die Augen und Ohren der Polizei« andiente.96 Progressive Kräfte, die sich im Kampf gegen Diskriminierung engagierten, schwiegen großenteils, wenn es um den Krieg gegen die Drogen ging, und verwendeten ihre Energie lieber auf die Verteidigung der Affirmative Action und anderer Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung.

Anfang der 1990er Jahre brach der Widerstand gegen ein neues System rassistisch ausgerichteter Sozialkontrolle quer durch das gesamte politische Spektrum zusammen. Eine ähnliche politische Dynamik hatte ein Jahrhundert zuvor Jim Crow entstehen lassen. In den 1890er Jahren gaben die Populisten dem politischen Druck der sogenannten Redeemer nach, der konservativen Gegenreaktion, die mit ihren offen rassistischen und teilweise geradezu grotesken Jim-Crow-Gesetzen bei der weißen Unterschicht und Arbeiterklasse Anklang fand. Jetzt entstand ein neues rassistisch ausgerichtetes Kastensystem – die massenhafte Inhaftierung. Politiker jedweder Couleur wetteiferten miteinander um die Stimmen der weißen Unterschicht und der Arbeiterklasse, deren wirtschaftliche Lage prekär, wenn nicht desolat war und die sich von den Antidiskriminierungsmaßnahmen bedroht fühlten. Nicht zum ersten Mal wählten frühere Verbündete der Afroamerikaner – neben vielen Konservativen – eine politische Strategie, die zeigte, wie »hart« sie gegen »die Anderen«, die dunkelhäutigen Parias, vorgehen konnten.

Das hatte direkte Auswirkungen. Mit dem rasanten Anstieg der Budgets der Strafverfolgungsbehörden schoss die Zahl der Gefängnisinsassen in die Höhe. Schon im Jahr 1991 stellte die Gefangenenhilfsorganisation Sentencing Project fest, dass in der gesamten Weltgeschichte noch nie in einem Land so viele Menschen hinter Gittern gesessen hätten wie in den USA und sich mittlerweile einer von vier jungen männlichen Afroamerikanern in den Fängen des Justizapparats befinde. Doch weder Demokraten noch Republikaner zeigten trotz der erschreckenden Auswirkungen ihrer drakonischen Politik auf die afroamerikanische Bevölkerung die geringste Neigung, die Inhaftierungswelle zu stoppen.

Im Gegenteil. Im Jahr 1992 schwor der Präsidentschaftskandidat Bill Clinton, kein Republikaner werde sich im Vergleich mit ihm als der härtere Kämpfer gegen das Verbrechen profilieren können. Getreu dieser Devise flog Clinton nur wenige Woche vor der wichtigen Vorwahl in New Hampshire zurück nach Arkansas, um die Hinrichtung von Ricky Ray Rector zu überwachen, einem Schwarzen mit einem Gehirnschaden, der so wenig von dem begriff, was mit ihm geschah, dass er sich den Nachtisch seiner Henkersmahlzeit für den nächsten Tag aufheben wollte. Nach der Hinrichtung meinte Clinton: »Was immer man über mich sagt, niemand kann behaupten, dass ich nachsichtig gegenüber Verbrechern bin.«97

Nach seinem Wahlsieg unterstützte Clinton die »Three Strikes«-Regel, die bei der dritten Verurteilung eine drakonische Haftstrafe vorsieht. Als er sich 1994 in der Ansprache zur Lage der Nation dafür starkmachte, applaudierten ihm demokratische wie republikanische Abgeordnete. Ein 30 Milliarden Dollar schwerer Gesetzesvorschlag zur Kriminalitätsbekämpfung, der im August 1994 Clinton zur Unterzeichnung vorlag, wurde als Sieg der Demokraten gefeiert, weil es ihnen gelungen war, »den Republikanern das Thema Verbrechensbekämpfung zu entreißen und zu ihrem eigenen zu machen«.98 Der Gesetzesvorschlag definierte eine Vielzahl neuer Kapitalverbrechen, sah für gewisse Taten bei der dritten Wiederholung automatisch die lebenslange Freiheitsstrafe sowie ein Budget von 16 Milliarden Dollar für den Bau von Gefängnissen und die Aufstockung der Polizei vor. Weit davon entfernt, der Entstehung eines neuen Kastensystems entgegenzuarbeiten, weitete Clinton den Krieg gegen die Drogen stärker aus, als es ein Jahrzehnt zuvor selbst die Konservativen für möglich gehalten hatten. Das Justice Policy Institute erklärte hierzu: »Die harte Linie der Regierung Clinton in der Kriminalpolitik hatte den stärksten Anstieg der Zahl der Inhaftierten in den Gefängnissen des Bundes und der Bundesstaaten zur Folge, die je ein Präsident in der amerikanischen Geschichte zu verantworten hatte.«99

Schließlich übernahm Clinton auch die diskriminierenden Pläne der Konservativen zur Sozialpolitik. Zusammen mit der Politik der »Härte« war dies Teil einer groß angelegten, von den »neuen Demokraten« entwickelten Strategie, die heftig umkämpften weißen Wechselwähler zu gewinnen. Mehr als jeder andere Präsident trug Clinton damit zur Entstehung der gegenwärtigen Unterschicht-Kaste bei. Er unterzeichnete den Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act, der »das Ende der Sozialleistungen, wie wir sie kennen« bedeutete. Das Programm »Familien in Not« (Aid to Families with Dependent Children, AFDC) ersetzte er durch einen pauschalen Zuschuss an Bundesstaaten für eine Beihilfe mit zeitlicher Begrenzung (Temporary Assistance for Needy Families, TANF). Diese staatliche Beihilfe war auf fünf Jahre begrenzt und schloss lebenslang alle von Sozialleistungen und Lebensmittelmarken aus, die sich eines Drogenvergehens schuldig gemacht hatten – darunter fiel auch der schlichte Besitz von Marihuana.

Entgegen Versicherungen, dieser radikale Politikwechsel sei lediglich Ausdruck einer konservativen Finanzpolitik, diene also dem Bestreben, den ausufernden Staatsapparat einzudämmen und das Haushaltsdefizit zu reduzieren, gab der Staat damit keineswegs weniger Geld für das Armutsmanagement in den Städten aus. Es handelte sich lediglich um eine radikale Umschichtung der Ausgaben. Im Jahr 1996 war das Budget des Strafsystems doppelt so hoch wie die Gelder, die für Familienbeihilfen oder Lebensmittelmarken vorgesehen waren,100 und Geld, das früher in den sozialen Wohnungsbau investiert worden war, floss nun in den Bau von Gefängnissen. In der Amtszeit von Präsident Clinton kürzte Washington die Programme für sozialen Wohnungsbau um 17 Milliarden Dollar(61 Prozent), steckte dafür aber 19 Milliarden Dollar mehr in den Strafvollzug, eine Steigerung um 171 Prozent. Damit wurde der »Bau von Gefängnissen praktisch zum größten Wohnungsbauprogramm für die armen Stadtbewohner«.101

Und Clinton ließ es dabei nicht bewenden. Fest entschlossen, Härte zu zeigen, machte er es möglich, jedem, der irgendwie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, eine mit Mitteln des Bundes geförderte Sozialwohnung zu verweigern – eine ungewöhnlich drastische Maßnahme mitten in einem Drogenkrieg, der sich gegen Minderheiten anderer Hautfarbe und Herkunft richtete. Clinton kündigte eine neue Strategie an: »Von nun soll es für Bewohner [von Sozialwohnungen], die Straftaten begehen oder mit Drogen handeln, heißen: Ein Fehltritt, und du fliegst raus.«102 Die neue Politik versprach »die strengsten Vergabe- und Kündigungsregeln, die es je im sozialen Wohnungsbau gegeben hat.«103 Dies traf vor allem die ärmere Bevölkerung und die ethnischen Minderheiten, gegen die der Krieg gegen die Drogen gerichtet war. Viele wurden obdachlos – sie wurden nicht nur aus der normalen Gesellschaft ausgeschlossen, sondern auch aus ihren Wohnungen.

Die Idee von Recht und Ordnung, zuerst propagiert von fanatischen Anhängern der Rassentrennung auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung, war zwei Jahrzehnte später zur fast alles beherrschenden Gesellschaftsperspektive geworden. Mitte der 1990er Jahre galten der Krieg gegen Drogen und der Kurs der »Härte« im politischen Diskurs des Mainstreams als alternativlos. Wieder einmal hatte die Störung der herrschenden Rassenordnung – die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre – dazu geführt, dass unter Ausnutzung der prekären Lage und der Ressentiments der weißen Unterschicht ein neues, an der Rassenzugehörigkeit orientiertes soziales Kontrollsystem entwickelt wurde. Mehr als zwei Millionen Menschen saßen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA hinter Gittern, Millionen weitere waren an den Rand der Gesellschaft gedrängt, verbannt in einen politischen und sozialen Raum, der Jim Crow nicht unähnlich war. Diskriminierung bei der Beschäftigung und Wohnungssuche sowie beim Zugang zu Bildung waren wieder völlig legal, und auch das Wahlrecht konnte ihnen verwehrt werden. Das System funktionierte reibungslos, und die ihm zugrunde liegende Ideologie schien quasi naturgegeben. In vielen Bundesstaaten waren 90 Prozent derer, die aufgrund von Drogenvergehen Gefängnisstrafen verbüßten, Schwarze oder Latinos. Doch die Masseninhaftierung so vieler People of Color wurde in rassenneutralen Termini erklärt, eine Anpassung an die Bedürfnisse und Anforderungen des gegenwärtigen politischen Klimas. Das neue Jim Crow war entstanden.

The New Jim Crow

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