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Die Entstehung von Jim Crow
ОглавлениеNach den anfänglichen Fortschritten für die Afroamerikaner in der Zeit der Reconstruction kam der Gegenschlag rasch und heftig. Die Weißen reagierten mit Panik und Entsetzen, als die Afroamerikaner politische Macht errangen und sich auf den langen Marsch zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gleichheit machten. Bald schworen die konservativen Kräfte im Süden, die Reconstruction ungeschehen zu machen, und strebten nichts weniger als die »Abschaffung des Freedmen’s Bureau und aller politischen Einrichtungen an, die dazu gedacht sind, die Vorherrschaft der Neger zu sichern«.17 Ihre Kampagne zur »Erlösung« des Südens, die sogenannte Redemption, wurde durch den wieder auflebenden Ku-Klux-Klan unterstützt, der eine Terrorkampagne gegen die Bundesvertreter und Lokalpolitiker der Reconstruction startete. Dazu gehörten Bombenanschläge, Lynchmorde und gewaltsame Ausschreitungen.
Die Terrorkampagne erwies sich als äußerst erfolgreich. Das Ergebnis der »Erlösung« war, dass sich die Bundessoldaten aus dem Süden zurückzogen und die Afroamerikaner sowie alle, die sich für die Gleichberechtigung der Rassen eingesetzt hatten, ihrem Schicksal überließen. Die US-Regierung stellte ihre Bemühungen ein, die Bürgerrechtsgesetze des Bundes durchzusetzen, und die Finanzierung des Freedmen’s Bureau wurde so stark zurückgeschraubt, dass die Behörde ihre Aufgaben praktisch nicht mehr erfüllen konnte.
Nun wurden auch wieder Gesetze gegen Landstreicherei und andere zu Straftatbeständen hochgeschraubte Dinge wie »unbotmäßiges Verhalten« und »beleidigende Gesten« mit aller Härte gegen Schwarze angewandt. Die aggressive Verfolgung dieser Vergehen eröffnete einen riesigen Markt für die Leiharbeit von Strafgefangenen, die an den Höchstbietenden vermietet wurden. Douglas Blackmon beschreibt in Slavery by Another Name, wie Zehntausende Afroamerikaner in dieser Zeit willkürlich verhaftet wurden. Häufig wurden ihnen dabei Gerichtskosten und Bußgelder auferlegt, die sie abarbeiten mussten, um ihre Freilassung zu erreichen.18 Strafgefangene, die keine Möglichkeiten hatten, ihre »Schulden« zu begleichen, verpflichtete man zu Zwangsarbeit als Holzfäller, Ziegeleiarbeiter, im Eisenbahnbau, auf Farmen, Plantagen und in Dutzenden Unternehmen überall im Süden. Die Sterblichkeitsrate war erschreckend hoch, denn den privaten Unternehmen waren Gesundheit und Wohlergehen dieser Zwangsarbeiter gleichgültig. Die Sklavenhalter hatten wenigstens noch ein Interesse daran gehabt, die Gesundheit ihrer Sklaven zumindest so weit zu erhalten, dass sie zu harter Arbeit fähig waren. Jetzt aber waren Peitschenhiebe an der Tagesordnung, und wer verletzt oder erschöpft zusammenbrach, wurde nicht selten einfach dem Tod überlassen.
Die Strafgefangenen hatten zu dieser Zeit keinerlei rechtlichen Schutz und galten buchstäblich als Sklaven in Staatseigentum. Der 13. Zusatzartikel zur Verfassung der USA hatte bei der Abschaffung der Sklaverei eine entscheidende Ausnahme zugelassen: Versklavung blieb als Bestrafung für Verbrechen zulässig. Auf dem Höhepunkt der Redemption traf der Oberste Gerichtshof von Virginia im Fall Ruffin v. Commonwealth die Grundsatzentscheidung, dass Strafgefangene rechtlich nicht von Sklaven zu unterscheiden seien:
Während der Zeit im Strafvollzug befindet er sich im Zustand der strafrechtlichen Knechtschaft gegenüber dem Staat. Er hat, als Folge seines Verbrechens, nicht nur seine Freiheit verwirkt, sondern all seine persönlichen Rechte außer jenen, die ihm das Gesetz in seiner Menschlichkeit gewährt. Für diese Zeit ist er ein Sklave des Staates. Er ist im bürgerlichen Sinne tot; und sein Eigentum, sofern er welches hat, wird behandelt wie das eines toten Mannes.19
Der Bundesstaat Mississippi verzichtete schließlich darauf, Strafgefangene als Leiharbeiter zu vermieten, und richtete sein eigenes Arbeitslager ein, die Parchman Farm. Das war kein Einzelfall. In dem Jahrzehnt, das auf die Redemption folgte, stieg die Zahl der Strafgefangenen zehnmal stärker an als die der Allgemeinbevölkerung: »Die Gefängnisinsassen wurden immer jünger, es waren immer mehr Schwarze unter ihnen, und die Länge der Strafen stieg drastisch an.«20 Das war der erste Gefängnisboom des Landes, und genau wie heute waren überproportional viele Strafgefangene schwarz. Nach einer kurzen Periode des Fortschritts während der Reconstruction waren die Afroamerikaner wieder nahezu so schutzlos wie zuvor. Das Strafrecht wurde systematisch und strategisch genutzt, um sie wieder in ein System extremer Unterdrückung und Kontrolle zu zwingen. Eine Taktik, die sich über Generationen als erfolgreich erweisen sollte. Die Leiharbeit von Strafgefangenen verlor schließlich an Bedeutung, dafür tauchten neue systematische Formen von Ausbeutung und Unterdrückung auf. »Das offensichtliche Ende … der Leiharbeit von Gefangenen schien der Vorbote einer besseren Zeit. Aber die harte Realität im Süden war, dass sich die nach dem Bürgerkrieg entstandene neue Sklaverei weiterentwickelte – nicht dass sie verschwand«, schreibt Blackmon.21
Die Redemption markierte einen Wendepunkt in der Suche der Weißen nach einem neuen Verhältnis zwischen den Rassen, das ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Vorteile auch in einer Welt ohne Sklaverei wahrte. Allerdings war man sich nicht einig, wie dieses neue Rassenverhältnis aussehen sollte. Die Protagonisten der Redemption, die gegen die Reconstruction gekämpft hatten, neigten dazu, die Praktiken der Rassentrennung so zu erhalten, wie sie bereits existierten, versuchten aber nicht, das System auszudehnen oder zu generalisieren.
Schließlich schälten sich drei alternative Denkrichtungen über die Rassenbeziehungen heraus, die miteinander um die Vorherrschaft in der Region konkurrierten: Liberalismus, Konservativismus und Radikalismus. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des extremen Rassismus, den einige Vertreter der Redemption verfolgten.22 Die liberale Denkrichtung stellte das Stigma der Segregation und die Heuchelei einer Regierung in den Vordergrund, die Freiheit und Gleichheit huldigte, sie jedoch Menschen einer bestimmten Rasse verweigerte. Diese Schule, im Norden entstanden, fasste im Süden weder unter den Weißen noch den Schwarzen richtig Fuß.
Die konservative Denkrichtung hingegen fand weithin Zustimmung und wurde in verschiedenen Bereichen über eine beträchtliche Zeit umgesetzt. Konservative warfen den Liberalen vor, die Schwarzen über ihre Möglichkeiten zu fördern und sie damit in Positionen zu bringen, die sie nicht ausfüllen könnten, was ihnen letztlich nur Nachteile einbringe. Sie warnten die Schwarzen, dass sich einige Verfechter der Redemption nicht damit zufrieden geben würden, die Reconstruction ungeschehen zu machen, sondern bereit seien, einen Krieg gegen die Schwarzen im gesamten Süden zu führen. Damit hatten die Konservativen sogar bei einigen schwarzen Wählern Erfolg: Sie erklärten ihnen, sie hätten nicht nur etwas zu gewinnen, sondern auch zu verlieren, und die Fokussierung der Liberalen auf die politische und wirtschaftliche Gleichheit gefährde nur, was die Schwarzen bislang erreicht hätten.
Für viele Afroamerikaner war die radikale Philosophie am vielversprechendsten. Sie beruhte auf einer scharfen Kritik an Großunternehmen, insbesondere den Eisenbahngesellschaften, sowie den reichen Eliten im Norden und Süden. Die Radikalen des späten 19. Jahrhunderts, die dann die Populist Party oder People’s Party, wie sie offiziell hieß, bildeten, vertraten die Ansicht, die privilegierten Klassen hätten sich verschworen, um die armen Weißen und Schwarzen politisch und ökonomisch zu unterdrücken. Viele afroamerikanische Wähler überzeugten die Argumente der Populisten mehr als die der Liberalen, die sie als paternalistisch empfanden. Die Populisten sprachen von einem »Egalitarismus in Mangel und Armut, der Verwandschaft in einem gemeinsamen Missstand unter einem gemeinsamen Unterdrücker«.23 Tom Watson, ein prominenter Politiker der Populisten, argumentierte in einer Rede, in der er zu einem Zusammenschluss von schwarzen und weißen Farmern aufforderte: »Man bringt euch auseinander, damit man euch getrennt um euren Verdienst bringen kann. Sie säen Hass zwischen euch, weil auf diesem Hass der finanzielle Despotismus errichtet wird, der euch alle versklavt. Ihr werdet getäuscht und geblendet, damit ihr nicht seht, wie dieser Rassenantagonismus ein finanzielles System verewigt, das euch alle zu Bettlern macht.«24
Um zu zeigen, dass sie wirklich eine multirassische Arbeiterbewegung gegen die weißen Eliten auf die Beine stellen wollten, bemühten sich die Populisten um die Integration der Rassen, für sie ein Symbol des Zusammenschlusses auf Grundlage der gemeinsamen Klassenzugehörigkeit. Bei den Afroamerikanern im gesamten Süden weckte dies große Hoffnungen, und so engagierten sie sich begeistert als Partner im Kampf für soziale Gerechtigkeit. Wie Woodward schreibt: »Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass während der kurzen Zeit in den 1890er Jahren, in der die Bewegung der Populisten blühte, die Neger und die Weißen eine größere Annäherung und Übereinstimmung in der politischen Zielsetzung entwickelten, als es sie jemals zuvor oder danach im Süden gegeben hatte.«25
Die von den Populisten anvisierte Allianz stellte eine große Herausforderung dar, waren doch gerade bei den Weißen der unteren Einkommensschicht die Rassenvorurteile besonders ausgeprägt. Trotzdem erzielte die populistische Bewegung, beflügelt durch die Unzufriedenheit, die die schwere Krise in der Landwirtschaft in den 1880er und 1890er Jahren hervorrief, anfangs beachtliche Erfolge im Süden. Die Populisten griffen schonungslos die als Partei der Privilegierten geltenden Konservativen an und erzielten in der gesamten Region beachtliche Wahlerfolge. Aufgeschreckt durch den Erfolg der Populisten und die offensichtliche Stärke einer Allianz zwischen armen Weißen und Afroamerikanern, appellierten die Konservativen wieder an die weiße Überlegenheit und griffen zu den altbewährten Taktiken der Redemption: Betrug, Einschüchterung, Bestechung und Terror.
Mit Segregationsgesetzen versuchte man ganz bewusst einen Keil zwischen die armen Weißen und die Afroamerikaner zu treiben. Diese Diskriminierung legte es darauf an, bei den Weißen der unteren Klassen ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Schwarzen zu wecken, was es sehr viel unwahrscheinlicher machte, dass sie sich mit ihnen politisch gegen die weiße Elite verbündeten. Das war wieder eine »Racial Bribe«, eine bereits bewährte Taktik. »Solange die armen Weißen ihren Hass und ihre Enttäuschung auf die schwarzen Konkurrenten richteten, blieb den Pflanzern eine gegen sie gerichtete Klassenfeindschaft erspart«, schrieb William Julius Wilson.26 Um die wohlbegründeten Befürchtungen der armen und ungebildeten Weißen zu zerstreuen, dass auch sie, nicht anders als die Schwarzen, ihr Wahlrecht verlieren könnten, führten die Führer der Bewegung vor der Rechtsenteignung der Schwarzen zunächst in allen Bundesstaaten eine aggressive Kampagne durch, in der sie die Überlegenheit der weißen Rasse zum Thema machten.
Am Ende gaben die Populisten dem Druck nach und ließen ihre früheren Verbündeten im Stich. »Auf dem Höhepunkt der Bewegung [der Populisten] hatten die beiden Rassen einander und ihre Gegner mit ihrer Eintracht und guten Zusammenarbeit überrascht«, bemerkte Woodward.27 Aber als klar wurde, dass die Konservativen vor nichts zurückschreckten, um dieses Bündnis zu zerstören, löste sich die rassenübergreifende Partnerschaft auf, und die Führer der Populisten reihten sich bei den Konservativen ein. Selbst Tom Watson, einer der stärksten Befürworter einer Allianz der Farmer gleich welcher Hautfarbe, kam zu dem Schluss, dass die Prinzipien der Populisten vom Süden nur angenommen würden, wenn die Schwarzen aus der Politik ausgeschlossen wurden.
Die Krise der Landwirtschaft sowie eine Reihe gescheiterter Reformen und gebrochener politischer Versprechen hatten zu einem starken Anstieg der sozialen Spannungen geführt. Die herrschenden Weißen sahen nun, dass es in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse lag, die Schwarzen zu Sündenböcken zu erklären. So wurde die »Erlaubnis zum Hass« gegeben. Ihr schlossen sich auch Kräfte an, die sich zuvor einer solchen Politik verweigert hatten, darunter die Liberalen aus dem Norden, die sich mit dem Süden aussöhnen wollten, die Konservativen aus dem Süden, die einst den Schwarzen versprochen hatten, sie vor rassistischen Extremisten zu schützen, und die Populisten, die ihre dunkelhäutigen Verbündeten im Stich ließen, als die Partnerschaft mit ihnen unter Beschuss geriet.28
Die Geschichte schien sich zu wiederholen. So wie die weiße Elite nach Bacons Rebellion erfolgreich einen Keil zwischen die armen Weißen und Schwarzen getrieben hatte, indem sie die Institution der schwarzen Sklaverei erfand, tauchte beinahe zwei Jahrhunderte später ein neues rassisches Kastensystem auf, teilweise aufgrund der Bemühungen der weißen Eliten, eine multirassische Allianz der Armen zu verhindern. Um 1900 hatten sämtliche Staaten des Südens Gesetze erlassen, die die Schwarzen entrechteten und sie in praktisch allen Bereichen des Lebens diskriminierten. Die rassistische Ausgrenzung erfasste Schulen, Kirchen, das Wohnungswesen, den Arbeitsplatz, Toiletten, Hotels, Restaurants, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Gefängnisse, Beerdigungsinstitute, Leichenhallen und Friedhöfe. Politiker wetteiferten miteinander um immer strengere Diskriminierungsmaßnahmen und erließen manchmal geradezu lächerliche Gesetze (beispielsweise ein Verbot für Schwarze und Weiße, miteinander Schach zu spielen). Über das gesamte politische Spektrum hinweg unterstützten die Weißen öffentliche Symbole, die ständig an die Unterjochung der Schwarzen erinnerten. An den Nöten der armen Weißen änderte sich unterdessen nichts. Die »Racial Bribe« zahlte sich für sie allenfalls psychologisch aus.
Die neue Rassenordnung, die unter dem Namen Jim Crow bekannt wurde – der Ausdruck stammt von der Karikatur eines Schwarzen aus einer Minstrel Show – wurde als »abschließende Lösung«, »Rückkehr zur Vernunft« oder als »das dauerhafte System« betrachtet.29 Natürlich hatte auch das vorherige System auf Rasse gegründeter Gesellschaftskontrolle – die Sklaverei – bei seinen Unterstützern als unabänderlich, vernünftig und ewig gegolten. So wie das vorherige System schien auch Jim Crow »natürlich«, und man konnte sich kaum noch daran erinnern, dass Alternativen nicht nur schon einmal möglich gewesen, sondern beinahe sogar umgesetzt worden waren.