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Das Ende von Jim Crow

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Akademiker streiten sich seit langem darüber, wann die Reconstruction begann und endete, auch darüber, wann Jim Crow endete und die Bürgerrechtsbewegung oder »zweite Reconstruction« begann. Für die Ära der Reconstruction gibt man in der Regel den Zeitraum von 1863 bis 1877 an, in dem die Truppen der Nordstaaten den Süden besetzt hielten. Viel weniger klar ist, wann die Ära von Jim Crow begann und wann sie endete.

Die Öffentlichkeit verknüpft das Ende von Jim Crow gewöhnlich mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Brown v. Board of Education, die zum Verbot der Rassentrennung an den Schulen führte, obwohl das System schon Jahre vorher Schwächen zeigte. Um das Jahr 1945 kamen immer mehr Weiße im Norden zu der Überzeugung, dass sich das Jim-Crow-System dringend ändern müsse, wenn nicht gar ganz abgeschafft gehöre. Dieser Konsens hatte eine ganze Reihe von Gründen, darunter die gewachsene politische Macht der Schwarzen infolge einer starken Abwanderung nach Norden sowie die steigenden Mitgliedszahlen und den zunehmenden Einfluss des NAACP, insbesondere seine äußerst erfolgreiche Kampagne, vor Gerichten gegen die Jim-Crow-Gesetze zu Felde zu ziehen. Viele Forscher hielten jedoch den Einfluss des Zweiten Weltkriegs für viel bedeutender. Der offenbare Widerspruch zwischen dem Widerstand des Landes gegen die Verbrechen des Dritten Reichs an den europäischen Juden mit der andauernden Existenz eines rassischen Kastensystems in den Vereinigten Staaten war peinlich und beschädigte den Anspruch des Landes, Führer der »freien Welt« zu sein. Zudem befürchtete man, die Schwarzen könnten angesichts von Russlands Einsatz für rassische und wirtschaftliche Gleichheit empfänglich für den Einfluss der Kommunisten sein, wenn man nicht für größere Gleichheit sorgte. Gunnar Myrdal hielt 1944 in seinem einflussreichen Buch An American Dilemma ein leidenschaft liches Plädoyer für die Integration der Schwarzen. Der inhärente Wider spruch zwischen der »American Creed«, dem Glaubensgrundsatz der USA an Freiheit und Gleichheit, und der Behandlung der Afroamerikaner, so Myrdal, sei nicht nur unmoralisch und zutiefst ungerecht, sondern schade auch den wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen des Landes.30

Das schien auch der Oberste Gerichtshof so zu sehen. Im Jahr 1944 beendete er mit seinem Urteil im Fall Smith v. Allwright die Praxis, dass nur Weiße an den Vorwahlen der Parteien, in denen die Kandidaten für die eigentliche Wahl bestimmt wurden, teilnehmen durften; und im Jahr 1946 entschied dasselbe Gericht, dass die Gesetze der Bundesstaaten, die Rassentrennung im Fernbusverkehr vorschrieben, verfassungswidrig seien. Zwei Jahre später erklärte das Gericht alle Immobiliengeschäfte für nichtig, die Käufer wegen ihrer Hautfarbe diskriminierten, und 1949 verkündete es, dass das allein Schwarzen vorbehaltene Jurastudium in Texas grundsätzlich nicht dem der Weißen entspreche, sondern in jeder Hinsicht schlechter sei. 1950 verfügte es im Fall McLaurin v. Oklahoma, dass der Bundesstaat die Rassentrennung im Jurastudium aufheben müsse. Der Oberste Gerichtshof hatte also schon vor dem Brown-Urteil wichtige Schritte zur Aufhebung der Rassentrennung unternommen.

Trotzdem war der Fall Brown v. Board of Education von ganz besonderer Bedeutung. Er nahm dem Süden die Möglichkeit, in Rassenfragen seine eigene »Hausordnung« aufzustellen. Auch frühere Entscheidungen hatten bereits an der Devise »getrennt, aber gleich« gekratzt, doch immer wieder war es Jim Crow gelungen, sich an die jeweils neue Rechtslage anzupassen, und die meisten Menschen in den Südstaaten waren weiterhin zuversichtlich, dass die Institution als solche überleben würde. Die Brown-Entscheidung drohte nun nicht nur, die Rassentrennung in öffentlichen Schulen ganz zu Fall zu bringen, sondern mit ihr zugleich das gesamte System legalisierter Rassentrennung im Süden. Nach mehr als fünfzig Jahren der Duldung und Nichteinmischung in die Rassenangelegenheiten des Südens leitete dieses Grundsatzurteil einen neuen Kurs ein.

Der weiße Süden war in hellem Aufruhr, nicht unähnlich der Reaktion auf die Befreiung der Sklaven und die Reconstruction nach dem Bürgerkrieg. Wieder einmal wurde dem Süden die Rassengleichheit von der Bundesregierung aufgezwungen, und 1956 entlud sich die weiße Gegnerschaft in einer hässlichen Gegenreaktion. Sam Ervin, Senator von North Carolina, entwarf ein rassistisches Protestschreiben, das sogenannte »Southern Manifesto«, mit dem Schwur, dafür zu kämpfen, Jim Crow mit allen legalen Mitteln zu erhalten. Ervin konnte 101 von 128 Senatoren und Mitgliedern des Repräsentantenhauses der elf ehemaligen konföderierten Bundesstaaten als Unterstützer gewinnen.

Eine neue Welle weißen Terrors schwappte über die Gegner von Jim Crow. Überall im Süden bildeten sich sogenannte White Citizens’ Councils, deren Mitglieder zum größten Teil der Mittel- und Oberschicht aus weißen Geschäftsleuten und dem Klerus entstammten. In den Jahren nach der Entscheidung im Fall Brown v. Board verabschiedeten Parlamente in fünf Südstaaten an die fünfzig neue Gesetze im Geist von Jim Crow, eine Neuauflage der Black Codes, die einst als Reaktion auf die ersten Schritte der Reconstruction formuliert worden waren. Auf der Straße wurde der Widerstand auch gewaltsam. Der Ku-Klux-Klan meldete sich als mächtige Terrororganisation zurück. Menschen wurden kastriert und ermordet, Bomben in Häusern und Kirchen von Schwarzen gelegt. Führer des NAACP wurden attackiert, niedergeknüp pelt, erschossen. Kaum hatte die Aufhebung der Rassentrennung begonnen, kam sie im ganzen Süden schon wieder zum Stillstand. Im Jahr 1958 war die Rassentrennung in 13 Schulbezirken aufgehoben worden; 1960 war diese Zahl auf lediglich 17 gestiegen.31

Ohne eine breite Graswurzelbewegung wäre Jim Crow vielleicht heute noch quicklebendig. Doch in den 1950er Jahren entstand mit dem Rückenwind der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und eines Wandels im nationalen und internationalen politischen Klima eine Bürgerrechtsbewegung. Unter großem persönlichem Einsatz organisierten Bürgerrechtsaktivisten und progressive Geistliche Boykotte, Protestmärsche und Sit-ins gegen das System von Jim Crow. Sie trotzten Wasserwerfern, Polizeihunden, Bombenanschlägen und den Prügeln des weißen Mobs und der Polizei. Wieder einmal mussten im Süden Soldaten anrücken, um die Schwarzen zu schützen, die versuchten, ihre Bürgerrechte auszuüben. Im Norden löste die gewalttätige Reaktion der weißen Rassisten Entsetzen aus.

Der dramatische Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung ereignete sich 1963. Aus dem friedlichen Kampf einer kleinen Gruppe schwarzer Studenten war die größte Massenbewegung für eine Reform der Rassenbeziehungen und der Bürgerrechte des 20. Jahrhunderts erwachsen. Zwischen Herbst 1961 und Frühjahr 1963 waren 20.000 Männer, Frauen und Kinder verhaftet worden. Allein im Jahr 1963 landeten weitere 15.000 im Gefängnis, und es kam zu 1000 Protestkundgebungen in mehr als 100 Städten der Region.32

Am 12. Juni 1963 kündigte Präsident Kennedy an, dass er dem Kongress ein starkes Bürgerrechtsgesetz vorlegen werde. Mit dieser Erklärung wurde er über Nacht zum weithin anerkannten Verbündeten der Bewegung. Nach der Ermordung von Kennedy übernahm Präsident Johnson das Ziel der »vollen Gleichstellung von mehr als zwanzig Millionen Negern in das amerikanische Leben« und sorgte für die Annahme entsprechender umfassender Gesetze. Der Civil Rights Act von 1964 beendete formell das Diskriminierungssystem von Jim Crow in öffentlichen Einrichtungen, am Arbeitsplatz, bei Wahlen, in Schulen und Universitäten sowie sämtlichen mit Bundesmitteln finanzierten Einrichtungen. Von noch größerer Bedeutung war womöglich der Voting Rights Act von 1965, da er zahlreiche Schranken für illegal erklärte, die die Afroamerikaner an einer wirksamen politischen Beteiligung hinderten, und eine Überprüfung sämtlicher zukünftiger Wahlrechtsänderungen durch den Bund auf Wahlrechtsdiskriminierung vorschrieb.

Fünf Jahre später waren die Auswirkungen der Bürgerrechtsrevolution schon deutlich zu spüren. Zwischen 1964 und 1969 nahm die Zahl der Afroamerikaner, die sich als Wähler registrieren ließen, sprunghaft zu. In Alabama stieg die Rate von 19,3 Prozent auf 61,3 Prozent, in Georgia von 27,4 Prozent auf 60,4 Prozent, in Louisiana von 31,6 Prozent auf 60,8 Prozent und in Mississippi von 6,7 Prozent auf 66,5 Prozent.33 Plötzlich konnten Schwarze in Warenhäusern einkaufen, in Restaurants gehen, Wasserspender benutzen und Vergnügungsparks besuchen, die ihnen einst verwehrt waren. Gesetze, die sexuelle Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe verboten, wurden als verfassungswidrig erklärt, und die Zahl der Eheschließungen zwischen Weißen und Schwarzen stieg.

Auf dem politischen und gesellschaftlichen Feld waren also große Fortschritte zu verzeichnen. Doch die Führer der Bürgerrechtsbewegung fürchteten zunehmend, dass die große Mehrheit der Schwarzen ohne einschneidende Wirtschaftsreformen weiterhin in Armut leben würde. Folglich wandten sie die Aufmerksamkeit mehr und mehr den wirtschaftlichen Problemen zu. Die Wechselwirkung zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und Rassismus, so argumentierten sie, führe zu lähmender Armut und damit zusammenhängenden sozialen Schwierigkeiten. »Unter den Schwarzen wuchs die Unzufriedenheit mit ihrer Lage – nicht nur, weil sie eine unterdrückte ethnische Minderheit in einer weißen Gesellschaft, sondern auch, weil sie arm in einer wohlhabenden Gesellschaft waren.«34 Mit Boykotten, Streiks und Demonstrationen versuchte man auf die Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und die insgesamt schlechten wirtschaftlichen Chancen der Schwarzen aufmerksam zu machen.

Die größte Demonstration für mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit war sicherlich der Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit Ende August 1963. Die Welle des Protests veranlasste Präsident Kennedy, genauer auf Armut und schwarze Arbeitslosigkeit zu schauen. Im Sommer 1963 ließ er eine Reihe von Studien zu diesen Themen erstellen und erklärte die Beseitigung der Armut zu einem der Hauptziele des Jahres 1964.35 Nach Kennedys Ermordung übernahm Präsident Johnson mit großem Engagement diese Verpflichtung. In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 1964 rief er einen »bedingungslosen Krieg gegen die Armut« aus. Einige Wochen später schlug er dem Kongress die Economic Opportunities Bill vor.

Diese Schwerpunktverlagerung näherte die Ziele der Bürgerrechtsbewegung jenen der weißen Unterschicht an, die ebenfalls ökonomische Reformen forderte. Damit begann die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung zu einer »Bewegung der Armen«, die versprach, nicht nur gegen die Armut der Schwarzen, sondern auch gegen die der Weißen zu kämpfen – was das Gespenst einer Solidarisierung der Benachteiligten über alle Rassengrenzen hinweg heraufbeschwor. Martin Luther King und andere Führer der Bürgerrechtsbewegung erklärten die Beseitigung von Armut zum nächsten großen Ziel einer »Menschenrechtsbewegung«. Eine wirkliche Gleichberechtigung der Schwarzen erforderte nach King einen radikalen Umbau der Gesellschaft, der die Bedürfnisse der schwarzen und weißen Armen im ganzen Land berücksichtigte. Kurz vor seiner Ermordung arbeitete er noch an Plänen für eine Großdemonstration in Washington, zu der sich in einer alle Rassen übergreifenden Allianz Schwarze vom Land und aus den Gettos, Weiße aus den Appalachen, Amerikaner mexikanischer Herkunft und Puerto Ricaner sowie Ureinwohner zusammenschließen sollten, um Arbeit und Einkommen zu fordern – kurz, das Recht zu leben. In einer Rede im Jahr 1968 erkannte King an, dass das Bürgerrechtsgesetz von 1964 zu Fortschritten geführt habe, betonte aber, dass es weitere Herausforderungen gebe, die noch mehr Entschlossenheit verlangten, und sich die gesamte Nation wandeln müsse, wenn ökonomische Gerechtigkeit für Arme jeglicher Hautfarbe mehr als bloß ein Traum sein solle. »King verfolgte nicht weniger als eine radikale Umwandlung der Bürgerrechtsbewegung in einen Kreuzzug des Volkes zur Umverteilung der ökonomischen und politischen Macht. Amerikas einziger Bürgerrechtsführer konzentrierte sich nun auf die Klassenfragen und plante, mit einer Armee der Armen nach Washington zu marschieren, um die Fundamente der Macht zu erschüttern und die Regierung zu zwingen, auf die Bedürfnisse der vernachlässigten Unterschicht einzugehen.«36

Die Bürgerrechtsbewegung und der Start der Poor People’s Campaign hatten die tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft offensichtlich gemacht. Doch wieder einmal standen die Schwarzen nur einen »kurzen Augenblick in der Sonne«. Konservative Weiße begannen bald, nach einer neuen, an die Zeit angepassten Rassenordnung zu suchen. Klar war nur, dass diese Ordnung formal rassenneutral sein musste – die Rassendiskriminierung durfte weder explizit noch allzu durchsichtig sein. Da der ausdrückliche Bezug auf die Hautfarbe verboten war, mussten die Vertreter einer Rassenhierarchie nach Wegen suchen, die den neuen Spielregeln der amerikanischen Demokratie entsprachen.

Die Geschichte zeigt, dass die Grundlagen des neuen Kontrollsystems lange vor dem Ende der Bürgerrechtsbewegung geschaffen worden waren. Die neue rassenneutrale Sprache appellierte an die alten rassistischen Gefühle und wurde nun von einer politischen Bewegung aufgegriffen, der es schließlich gelang, die große Mehrheit der Schwarzen an ihren alten Platz zu verweisen. Die Verfechter einer Rassenhierarchie fanden heraus, wie sie ein neues rassisches Kastensystem etablieren konnten, ohne das Gesetz oder die neuen Grenzen des akzeptierten politischen Diskurses zu verletzen: Indem sie statt »Rassentrennung für immer« die neue Parole »Recht und Ordnung« ausriefen.

The New Jim Crow

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