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Das Ende der Sklaverei
ОглавлениеWäre die Idee, dass es Rassen von Menschen gibt, mit der Sklaverei untergegangen, hätte das Ende des amerikanischen Bürgerkriegs auch das Ende des rassischen Kastensystems in den USA bedeutet. Aber in vier Jahrhunderten Sklaverei hatte sich der Rassegedanke in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Und so überlebte die Ideologie ungleicher Rassen – und insbesondere die der grundsätzlichen Überlegenheit der weißen Rasse – die Institution, die sie überhaupt erst hervorgebracht hatte.
Die Behauptung der natürlichen Überlegenheit der Weißen wurde mit der Zeit zu einem quasi religiösen Glauben, der die Afrikaner eher auf der Stufe von Tieren sah. In diesem Denken war die Sklaverei letztlich eine Einrichtung zum Besten der Schwarzen. Das beruhigte das Gewissen der Sklavenhalter und löste den Widerspruch zwischen der Sklaverei und den demokratischen Idealen auf, die die Weißen in der sogenannten Neuen Welt propagierten. Wenn die Afrikaner eigentlich gar keine richtigen Menschen waren, geriet Thomas Jeffersons kühne These, dass »alle Menschen gleich geschaffen« seien, nicht in Widerspruch zur Sklaverei. Der Rassismus bildete ein tief verwurzeltes Glaubenssystem, das sich auf »Wahrheiten« stützte, die nicht hinterfragt oder angezweifelt wurden. Dieser Glaube rechtfertigte ein wirtschaftliches und politisches System, in dem die Plantagenbesitzer Land und Reichtümer durch Brutalität, Folter und Zwang erwarben. »Die Schranke zwischen den Rassen war eine Folge, nicht eine Bedingung der Sklaverei, aber sobald sie einmal etabliert war, löste sie sich von ihrer ursprünglichen Funktion ab und entfaltete ihre eigene gesellschaftliche Wirksamkeit.«10
Das Konstrukt der Rassen überlebte das Ende der Sklaverei.
Einer der aufschlussreichsten Berichte über die Zeit nach der Emanzipations-Proklamation ist The Strange Career of Jim Crow von C. Vann Woodward aus dem Jahr 1955.11 Martin Luther King bezeichnete das Buch, bis heute ein Standardwerk zu diesem Thema, als die »historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung«. Woodward zufolge stellte das Ende der Sklaverei die weiße Gesellschaft des Südens vor enorme Probleme. Ohne die Arbeitskraft der ehemaligen Sklaven drohte der Wirtschaft der Region der sichere Zusammenbruch, und ohne die Institution der Sklaverei gab es formell nichts mehr, was die rassische Hierarchie erhalten und die »Verschmelzung« der Weißen mit einer Gruppe verhindert hätte, die ihrem Verständnis nach minderwertig war. Diese Situation hatte fast anarchische Zustände und eine Stimmung an der Grenze zur Hysterie zur Folge, besonders unter der Elite der Plantagenbesitzer. Doch auch für die armen Weißen war der Zusammenbruch der Sklaverei eine bittere Pille. Selbst der Geringste unter ihnen besaß in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg immer noch seine weiße Haut – ein Zeichen der Überlegenheit auch gegenüber einem noch so qualifizierten Sklaven oder wohlhabenden freien Afroamerikaner.
Während die Weißen der Südstaaten, ob arm oder reich, zutiefst empört waren über die Emanzipations-Proklamation, gab es doch keine eindeutige Lösung für das Dilemma, mit dem sie sich konfrontiert sahen. Der Bürgerkrieg hatte die wirtschaftliche und politische Infrastruktur des Südens zerstört. Die Plantagenbesitzer standen auf einen Schlag mittellos da, die Südstaaten brachen unter der Last von Kriegsschulden zusammen. Zahllose Gebäude und andere Besitztümer waren durch den Krieg zerstört worden, die Industrie lag am Boden, Hunderttausende Männer waren gefallen oder kamen als Kriegsversehrte zurück. Zu all dem gesellte sich die depressive Stimmung eines verlorenen Kriegs und die ungeheure Herausforderung des Wiederaufbaus. Die vier Millionen auf einen Schlag befreiten Sklaven verkomplizierten die Lage zusätzlich. Die Weißen des Südens, so Woodward, waren fest davon überzeugt, dass ein neues System der Rassenkontrolle vonnöten war – aber es war nicht unmittelbar klar, wie es aussehen sollte.
Während der Sklaverei wurde die Rassenhierarchie sehr effektiv durch den engen Kontakt zwischen den Sklavenhaltern und den Sklaven aufrechterhalten. Damit wurde ein Höchstmaß an Überwachung und Disziplinierung gewährleistet und das Potenzial für aktiven Widerstand und Rebellion minimiert. Eine strikte Trennung der Rassen hatte weder im Interesse der Sklavenhalter gelegen, noch war sie nötig gewesen, um die soziale Distanz zu den Sklaven zu wahren.
Nach dem Bürgerkrieg wusste zunächst niemad, welche Institutionen, Gesetze oder Konventionen nötig waren, um die weiße Vorherrschaft auch ohne Sklaverei aufrechtzuerhalten. Doch dass die meisten Weißen in den Südstaaten leidenschaftlich nach einer neuen Rassenordnung suchten, darin sind sich die Historiker einig. Gerüchte über einen bevorstehenden großen Aufstand versetzten die Weißen in Schrecken, und Schwarze wurden zunehmend als bedrohlich und gefährlich gesehen. Das noch immer herrschende Stereotyp des schwarzen Mannes als aggressives und wildes Raubtier kann bis in diese Zeit zurückverfolgt werden, in der Weiße fürchteten, eine wütende Masse schwarzer Männer könnte rebellieren und sie angreifen oder ihre Frauen vergewaltigen.
Ebenso besorgniserregend war der Zustand der Wirtschaft. Die befreiten Sklaven verließen in Scharen die Plantagen, was unter den Pflanzern Empörung und Panik auslöste. In den ersten Nachkriegsjahren zogen Sklaven in großer Zahl über die Landstraßen. Manche ließen sich in den Städten nieder, andere schlossen sich den Milizen des Bundes an. Die meisten Weißen glaubten, dass es Afroamerikanern an Arbeitsmoral mangele, was die provisorischen Parlamente im Süden veranlasste, die berüchtigten »Black Codes« einzuführen, Gesetze auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene, die die Rechte der Schwarzen einschränkten. Ein Plantagenbesitzer aus Alabama formulierte es so: »Wir haben die Macht, strenge Kontrollgesetze zu erlassen, um die Neger zu regieren – das ist ein Segen –, denn irgendwie müssen sie kontrolliert werden, oder die Weißen können nicht unter ihnen leben.«12 Während einige dieser Gesetze darauf abzielten, Systeme der Leibeigenschaft ähnlich der Sklaverei zu errichten, handelte es sich bei anderen um Vorboten von Jim Crow. So wurden beispielsweise gemeinsame Abteile für Schwarze und Weiße in der ersten Klasse der Eisenbahn verboten und eine Rassentrennung in Schulen eingeführt.
Häufig wird übersehen, dass auch Bestimmungen für Strafgefangene, die in dieser Zeit erlassen wurden, als Teil der Black Codes betrachtet werden müssen. So meint der Historiker William Cohen: »Die Hauptaufgabe der Black Codes war es, die befreiten Sklaven unter Kontrolle zu bringen, und die Frage, wie man mit den verurteilten schwarzen Gesetzesbrechern verfahren sollte, stand ganz im Mittelpunkt dieser Kontrollbemühungen.«13 Neun Südstaaten erließen Gesetze gegen sogenanntes »Vagabundieren«, wonach es praktisch ein Straftatbestand war, keinen Arbeitsplatz zu haben. Diese Gesetze wurden ganz gezielt gegen Schwarze eingesetzt. Acht dieser Staaten erließen Gesetze, die es den Countys ermöglichten, Gefangene an Plantagenbesitzer und Privatunternehmer zu vermieten. Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit verrichten, für die sie keinen oder nur einen sehr geringen Lohn erhielten. Ein Gesetz gegen das Vagabundieren bestimmte, dass »alle freien Neger und Mulatten über 18 Jahre« alljährlich einen Beschäftigungsnachweis vorzulegen hatten. Wer das nicht konnte, wurde als Landstreicher angesehen und verurteilt. Ziel der Black Codes im Allgemeinen und der Gesetze gegen Landstreicherei im Besonderen war ganz eindeutig, ein neues System von Zwangsarbeit einzuführen. »Die Codes sprachen für sich selbst. … Kein Jurastudent, der sie unvoreingenommen liest, kann übersehen, dass sie nur auf Versklavung in tagtäglicher Plackerei hinausliefen.«14
Doch schließlich wurden die Black Codes aufgehoben, und in der relativ kurzen Phase des Fortschritts für die Schwarzen während der Ära der Reconstruction verabschiedete die Bundesregierung eine ganze Reihe von Bürgerrechtsgesetzen zum Schutz der befreiten Sklaven. Zu den beeindruckenden Leistungen dieser Zeit gehören der 13. Zusatzartikel zur Verfassung, mit dem die Sklaverei abgeschafft wurde; der Civil Rights Act von 1866, der allen Afroamerikanern die vollen Bürgerrechte zuerkennt; der 14. Zusatzartikel zur Verfassung, der es den Bundesstaaten verbietet, Personen ein ordentliches Gerichtsverfahren oder »den gleichen Schutz durch das Gesetz« zu versagen; der 15. Zusatzartikel, der bestimmt, dass das Wahlrecht nicht aufgrund der Rassenzugehörigkeit entzogen werden darf; und die Ku Klux Klan Acts, die unter anderem Wahlbehinderung zum Verstoß gegen Bundesrecht erklärten und gewaltsame Verstöße gegen Bürgerrechte unter Strafe stellten. Die neue Gesetzgebung führte auch eine Aufsicht des Bundes über die Wahlen ein und autorisierte den Präsidenten, sowohl bestimmte Gerichtsbeschlüsse auszusetzen als auch die Armee in Gebiete zu schicken, die die Bundesregierung als aufständisch deklariert hatte.
Außer der Bürgerrechtsgesetzgebung des Bundes wurde in der Zeit der Reconstruction auch die Arbeit des Freedmen’s Bureau ausgeweitet, einer Behörde, die an mittellose ehemalige Sklaven Nahrung, Kleidung, Brennmaterial und andere Hilfsgüter verteilte. Im Süden entwickelte sich ein öffentliches Schulsystem, womit viele Schwarze (und arme Weiße) zum ersten Mal Gelegenheit erhielten, lesen und schreiben zu lernen.
Doch obwohl die Zeit der Reconstruction von Korruption belastet und durch das Ausbleiben einer Bodenreform zum Scheitern verurteilt war, kam es trotzdem zu gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die das Potenzial hatten, das rassische Kastensystem im Süden ernsthaft zu unterhöhlen, wenn nicht ganz zum Verschwinden zu bringen. Unter dem Schutz von Bundessoldaten konnten die Afroamerikaner in großer Zahl wählen und hier und da auf lokaler Ebene auch die Kontrolle über den politischen Apparat gewinnen. Deutlich mehr Menschen lernten lesen und schreiben, und gebildete Schwarze übernahmen Positionen als Abgeordnete, eröffneten Schulen und betätigten sich erfolgreich als Geschäftsleute. Im Jahr 1867, zu Beginn der Reconstruction, bekleidete im Süden noch kein Schwarzer ein politisches Amt, doch drei Jahre später waren 15 Prozent aller Gewählten im Süden Schwarze. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass 15 Jahre nach Verabschiedung der Wahlrechtsgesetze von 1965 – dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – weniger als 8 Prozent der Volksvertreter im Süden Schwarze waren.15
Allerdings erwiesen sich viele der neuen Bürgerrechtsgesetze als weitgehend symbolisch.16 Besonders wirkte sich aus, dass der 15. Zusatzartikel den Bundesstaaten nicht untersagte, die Ausübung des Wahlrechts an Bedingungen wie Bildung, Wohnsitz oder andere Voraussetzungen zu knüpfen. Das ermöglichte ihnen, Wahlsteuern zu erheben, Lese- und Schreibtests einzuführen und andere Hürden zu errichten, um die Schwarzen von den Wahlurnen fernzuhalten. Andere Gesetze erwiesen sich eher als Absichtserklärungen, denn als direktes Eingreifen des Bundes in die Verhältnisse des Südens, weil Afroamerikaner ihre Fälle vor ein Bundesgerichte bringen mussten, damit sie durchgesetzt werden konnten – ein teures und zeitaufwendiges Verfahren und ein Ding der Unmöglichkeit für die große Mehrheit derer, die überhaupt Ansprüche hatten. Die Mehrzahl der Schwarzen war zu arm, um Bürgerrechte vor Gericht zu erstreiten, und eine Organisation wie die NAACP, die die Risiken und Kosten eines Rechtsstreits hätte auffangen können, existierte noch nicht. Hinzu kam, dass die Schwarzen durch Androhung von Gewalt von der Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen abgebracht wurden. Die »Bürgerrechte« existierten für die ehemaligen schwarzen Sklaven größtenteils nur auf dem Papier.
Inzwischen setzte sich im Süden die Rassentrennung zunehmend durch, vorangetrieben vor allem durch Plantagenbesitzer, die darauf hofften, ein neues Kontrollsystem errichten zu können, das ihnen billige, gefügige Arbeitskräfte sicherte. Tatsächlich hatte der Prozess der Rassentrennung schon Jahre zuvor im Norden eingesetzt, wo man sich bemüht hatte, jeder Rassenvermischung einen Riegel vorzuschieben und die Rassenhierarchie auch nach Abschaffung der Sklaverei aufrechtzuerhalten. Sie hatte sich hier allerdings nie zu einem umfassenden System entwickelt – sie funktionierte mehr oder weniger als alltägliche Selbstverständlichkeit und wurde mit unterschiedlicher Konsequenz durchgesetzt. Selbst die schärfsten Gegner der Reconstruction hätten kaum erwartet, dass sich die Rassentrennung bald zu einem derart umfassenden und repressiven rassischen Kastensystem auswachsen würde, wie es dann unter dem schlichten Namen Jim Crow bekannt wurde.