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1.1.2Warum Lerntherapie systemisch?

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Die systemische Therapie ist aus der Familientherapie entstanden und entwickelt sich fortlaufend weiter. Wir möchten kurz ihre theoretische Basis und die wichtigsten Prinzipien ihrer Arbeit skizzieren. Sie beruht auf systemtheoretischen Ansätzen, der philosophischen Position des Konstruktivismus und kommunikationstheoretischen Erkenntnissen.

Systemtheorien beschreiben den Menschen und das menschliche Zusammenleben bis hin zur Gesellschaft unter dem Blickwinkel eines ständigen Austausches und des permanenten In-Beziehung-Seins der einzelnen Elemente des jeweiligen Systems. Die Elemente, die ein System bilden, haben also dauernd wechselseitig miteinander zu tun und reagieren aufeinander. Gleichzeitig sind sie eine nach außen hin abgrenzbare Einheit, das heißt, man kann klar zwischen dem System als Bündel von Elementen einerseits und seiner Umwelt andererseits unterscheiden. Das System »Familie« zum Beispiel besteht aus den Familienmitgliedern (Eltern/Kindern), die miteinander sprechen, Dinge zusammen tun, miteinander streiten usw. und die eine wahrnehmbare Einheit gegenüber ihrer Umwelt, also Nachbarn, Verwandten, Freunden, Schule etc. bilden. Menschen sind immer Elemente verschiedener Systeme, ein Kind gehört zum Beispiel nicht nur zu einer Familie, sondern auch zu den Systemen »Schulklasse«, »Clique«, »Sportklub« usw. In jedem System gelten andere »Spielregeln«, sodass ein Mensch sich immer etwas unterschiedlich verhält und unterschiedlich fühlt, je nachdem, in welchem System er sich gerade aufhält. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin die Eigenschaft von Systemen, sich selbst am Leben zu erhalten. Zwar können sie auch zerfallen, aber in der Regel ist ihre natürliche Tendenz, sich selbst zu erhalten. Die fortwährende innere Dynamik von Systemen macht dies möglich.

Der Konstruktivismus hat als eine wesentliche Aussage, dass es keine Rolle spielt, ob es eine »wirkliche Welt«, also objektive Gegebenheiten, gibt oder nicht. Entscheidend ist, wie wir die Welt individuell (subjektiv) wahrnehmen. Wir konstruieren uns unsere Welt. Die Volksweisheit »Schönheit liegt im Auge des Betrachters« ist ein Beispiel dafür: Eine Blume ist nicht objektiv schön. Der Mensch, der sie wahrnimmt, schreibt ihr Schönheit zu. Oder er tut es nicht, wenn er sie nicht leiden mag. Für jeden Menschen sieht die Welt anders aus, abhängig von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Werthaltungen usw. Das heißt auch, dass es kein objektives »Richtig« oder »Falsch« gibt. Was für mich gilt und richtig ist, muss deshalb nicht unbedingt auch für mein Gegenüber gelten. Vielleicht sieht der andere die Dinge anders, daher ist für ihn etwas anderes richtig.

Kommunikationstheorien beschäftigen sich damit, wie Menschen kommunizieren. Kommunikation ist wesentliche Voraussetzung für das Fortbestehen eines Systems. Damit das System erhalten bleibt, müssen die Elemente in Austausch miteinander sein. Zwischen Menschen geschieht das durch Kommunikation, im Wesentlichen durch die gesprochene Sprache, aber auch durch Schriftsprache, Körpersprache, Körperkontakt, Übergabe von Gegenständen und anderes mehr. Im therapeutischen Zusammenhang sind zum Beispiel eingefahrene Kommunikationsmuster, Missverständnisse, Tabus, Schwierigkeiten, etwas auszudrücken, Fragetechniken usw. von Bedeutung.

Die systemische Therapie zeichnet sich durch ein humanistisch orientiertes Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen weder als eine Reiz-Reaktions-Maschine, wie der Behaviorismus dies tut, noch als hauptsächlich von unbewussten Kräften gesteuert, worauf psychodynamische Theorien ihren Fokus legen. Unter vielleicht manchmal zu starker Ausblendung dieser Aspekte, besonders der Wirkkraft unbewusster Dynamiken, wird der Blick auf die Möglichkeit der bewussten und aktiven Selbststeuerung gelegt, die den Menschen befähigt, sich Ziele zu setzen, zu entscheiden, welche Dinge er in seinem Leben ändern möchte, und dies auch in Angriff zu nehmen. Die eigene Entwicklung und die Beseitigung von Problemen werden als grundlegende Ziele im menschlichen Leben angesehen. Im Prinzip besitzt jeder Mensch auch die dafür notwendigen Ressourcen. In den Fällen, in denen sie nicht genügend zugänglich sind, kann ein Therapeut behilflich sein, eine neue Sichtweise zu gewinnen, Kräfte zu aktivieren, die bisher nicht wirksam werden konnten, oder eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie das Leben ohne das jeweilige Problem aussehen kann, und Maßnahmen einzuleiten, dorthin zu gelangen.

Der systemische Therapeut ist nicht derjenige, der eine Lösung für das Problem anzubieten hat. Er weiß nicht besser, was für den Klienten gut oder richtig ist, als dieser selbst. Er zielt meist auch nicht darauf ab, die Ursache des Problems zu finden. Wer als Klient eine Therapie beginnt, steckt in der Regel schon längere Zeit in einer schwierigen Situation. An ihr sind fast immer auch andere Menschen beteiligt (da jeder Mensch sich in Systemen befindet). Aufgrund vielfältiger Kommunikationen, der Selbsterhaltungstendenz von Systemen auch dann, wenn Probleme vorhanden sind, und einer Reihe von erfolglosen Problemlösungsversuchen ist die Entstehung des Problems oft nicht mehr klar nachvollziehbar. Die Situation erscheint festgefahren. Der systemische Therapeut kann neue Impulse geben, neue Erfahrungen ermöglichen, irritierende Fragen stellen und somit neue Perspektiven generieren. Ziel ist dabei oft, statt des problembehafteten Verhaltens ein alternatives Verhalten auszuprobieren. Oftmals lösen sich dadurch Konflikte, wenn man Dinge anders macht oder andere Dinge macht als bisher.

Dabei befindet sich der Therapeut, nicht nur der systemische, in einem Dilemma, denn er kann vorher nicht sicher wissen, was es genau bewirken wird, wenn er etwas tut (eine bestimmte Frage stellt, einen Vorschlag äußert, eine körperliche Berührung ausführt usw.). Der Klient, wie jeder Mensch, steckt nicht nur in Systemen, er ist auch selbst ein System, also ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Elementen: dem Körper mit seinen Teilen wie Organen, Blutkreislauf, Gehirn, Stoffwechsel, Hormonsystem, Botenstoffen etc., dem Geist mit allen Erfahrungen, die er mit anderen Menschen und der Welt gemacht hat, den individuellen Vorlieben und Abneigungen, den Werten und Wünschen, den Gefühlen usw. und der Seele mit ihren Kräften, Erfahrungen und unbewussten Dynamiken. Eine der Folgerungen aus der systemtheoretischen Sichtweise ist die der Unmöglichkeit einer kausalen Intervention: Ich kann nicht sicher sein, was ich für eine Intervention machen muss, um eine bestimmte gewünschte Wirkung zu erzielen. Und auch andersherum weiß ich nicht sicher, was geschehen wird, wenn ich etwas Bestimmtes tue. Ich kann als Therapeut einen Input in das System »Klient« geben, aber was sich als Effekt ergibt, hängt vom Klienten ab.

Folglich muss sich der systemische Therapeut immer sehr individuell auf seine Klienten einstellen. Was als Intervention bei dem einen Klienten hilfreich war, kann bei einem anderen wirkungslos oder nachteilig sein. Der Achtung des Klienten als einzigartigen, eigenständigen, selbst entscheidenden und für sich verantwortlichen Wesens kommt daher eine sehr hohe Bedeutung zu.

Systemische Lerntherapie

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