Читать книгу Ein ganz böser Fehler? - Mike Scholz - Страница 7
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Freitag, 18. Januar. Nach 16:00 Uhr.
Auf dem Weg, meine neue Brille zu holen.
Dann endlich wieder Durchblick. Auch wenn Brille bei mir Scheiße ist. Aber wie sagte Mike Krüger schon: »Sie ist zwar nicht schön, aber man hat Platz.« Damit meinte er allerdings seine Latzhose, nu nu, aber ist eben das gleiche Prinzip.
Allerdings der Weg hier – Gnade!!! Zwar ist er nicht weit, ich schätze mal hundert Meter, denn Saskia und Manolo haben mich vorhin abgeholt und bis zur Post gefahren, aber Fritzl auf einer abschüssigen Seifenbahn ist nichts dagegen. Die Seifenbahn hochzu wäre mir lieber. Nur – ich muss da durch!
Obendrein sehen Saskia und Manolo auch noch zu, dass sie Abstand zu mir gewinnen.
»Ieh, wenn das einer sieht, dass ich mit diesem Krüppel verwandt bin, mein Gott, was da meine Bekannten dazu sagen würden! Nicht auszudenken!«
Hat aber auch seinen Vorteil: Ich fliege allein. Niemand kommt mir in die Quere dabei. Erhöht das meine Überlebenschancen? Ich glaube ja!
Also vorwärts, langsam, unsicher, entschlossen. Und auch meine Eitelkeit dürfte ihr großes-oder-noch-größeres unbrauchbares Kraftpaket wer-weiß-wohin geschnallt haben: Schließlich sähe das diffam aus, wenn man von zwei auf der Straße aufgelesen und fortgetragen werden muss. Und es ist kein Geheimnis, dass ich in Zittau nicht unbekannt bin.
Stöhn, da wäre es fast passiert. Instinktiv mache ich das Richtige, setze die Krücken vor mich hin. Und dazu auch noch mit dem nötigen Abstand. Hätte ich sie näher an mich herangesetzt, wäre wiedermal Krüppel–Stabhochsprung mit garantiert unsanfter Landung angesagt gewesen. Aber so konnte ich mich zurückhalten.
Nachdem ich mich wieder fixiert habe, laufe ich weiter. Vorher noch schnell registriert, dass Saskia und Manolo nichts bemerkt haben. Und dass ich ungefähr die Hälfte des Weges geschafft habe.
Und die zweite Hälfte – die auch noch!
Eine Weile später – wieder: stöhn. Also mein Instinkt ist noch okay, er hat wieder richtig gehandelt. Diesmal ließ er meine Füße einen Viertelkreis rumrutschen, so dass es ausgesehen haben dürfte, als wenn ein gehfähiger Roboter noch Orientierungsprobleme hat.
»Geht es noch, Mike?«, höre ich plötzlich Manolo. Saskia und er haben diesmal mein Taumeln bemerkt und sich zu einem Herspurt aufgerafft.
»Na ja, außer dassmei Glei-Gleichgewich nochab undu Labitität zeit un meie Beene vonner unewohntn Be-Be-Belasung alles andreals begeisert sind, gehsnoch.«
»Willst Du mal eine kurze Pause machen?«
»Hmmmh, okay.«
Saskia schaltet sich ein: «Wir hätten vielleicht doch den Rollstuhl mitnehmen sollen!«
Aggressivität – schnell nach oben – Meine Finger an ihren Hals, langsam zudrücken, dabei immer wieder fragen: 'Was willst du? Was willst du?' – »Wennich de Krücken nizum Stähn bräuchte, würdch miden dei Gesicht eener Scheenheitsopation unterziehn! Dann dürftstals lendendes Eiterfacegom rumloufn!« – Sie ist nicht mehr in der Lage was zu antworten, ihre Zunge sonnt sich soeben, wird dabei aber nicht braun, sondern blau – na ja, vielleicht ist das ja die Zungenbräune – wie auch die Nase, die Lippen, die Wangen, ihr Körper verfällt in arrhythmisches Zucken – blitzschnell (na ja, vielleicht auch weniger blitzschnell) löst sich meine Hand wieder, lässt ihren Körper auf den Boden fallen und ein Dankeslied krächzen.
Eine schwarze Wand zieht vor ihr Gesicht. »Ich gehe schon immer zum Optiker, stelle mich an, damit wir gleich dran sind, wenn ihr kommt.« Hops, weg ist sie.
»Offde Idee midem beim Opiker schonimmer hinstelln hättsouch scho früher komm könn. Wennch michichtg einnen kann, muste madortimmer langoarten!«, beschwere ich mich bei Manolo.
»Na ja, wir haben eben gedacht, dass du schneller bist. Das war ein Fehler von uns, sehe ich ein.«
»Ich bin doch kee Rennpferd!«, knurre ich ihn an. Und weiß nicht so recht, was ich jetzt machen soll – lachen oder heulen?
Eeh, Riesenfrechheit zu denken, dass einer, der sich gerade vom Rollstuhl gelöst hat, so behende ist, wie ich früher wurde, wenn ich eine schnuckelige Mieze sah. Die müssen doch echt denken, ich brauche nur mit dem Finger zu schnipsen, und schon wäre wieder alles okay!
»Können wir wieder?«, fragt Manolo an.
»Ja!«, habe ich mich noch nicht ganz ausgeknurrt.
*
Drinnen, während ich sitze und warte, beobachte ich die Leute und sehe bei ihnen alle Stufen von Mitgefühl bis Verachtung.
Aber was soll's? Mitleid finde ich beschissen, meinen jetzigen Zustand verachte ich selber. Vor allem, wenn ich in den Spiegel gucke, erfasst mich das kalte Grausen. Ergo – nicht darauf achten. Und ein Stückchen weg kann ich jetzt sowieso nicht viel erkennen, denn ich tappe in verschwommener Dämmerung. Denn nicht einmal die Brille, die sich bei meinem Tiefflug nach Silvester zwischen Fußboden und meine Nase drängte, habe ich zurück. Unklar, dass das so lange dauert, bis sie die wieder ganzgekriegt haben. – Wenn überhaupt.
Nach einer endlos langen Zeit sind wir endlich dran. Ich erhebe mich, um zur Brillenlady zu laufen. Da kommt mir ein junger Mann in die Quere. – Will der Trottel etwa mit mir kollidieren? Scheinbar! Der hat wohl Tomaten auf den Augen, wa?!
Ich bleibe stehen, lehne mich auf die rechte Krücke, stelle die linke in seine Richtung.
Er läuft voll dagegen.
»Au!«, schreit er, »Kannst du nicht aufpassen?«
Ich muss mich erst mal wieder fixieren. Lasse dazu den linken Fuß nach hinten gleiten – doch dann stützt mich schon Manolo. Sofort ist wieder der junge Mann mein Zielpunkt: »Nee, kannichni! Aer wie siehsn aus, wennde mal deie Brille putzt?!«
Er will etwas entgegnen, doch die Proteste der anderen halten ihn stumm.
»Kannich jetz durch?«, tue ich superhöflich zu ihm.
Er tritt gezwungenermaßen einen Schritt zurück; ich dafür schreite zum Martyrium meiner zukünftigen Brille.
*
Zu Hause dann erzählt mir Saskia, dass meine Mutter laufend auf ihr rumhacke, sie mache nichts für mich.
»Dassoll wohln Lacher sein«, tröste ich sie. »Wer hat mir denn zumeispiel de Fingernägel verschittn, de Haare gewaschen, mich rasiert?!«
»Sie will das aber nicht einsehen!«
»Weilse doof is.«
»Genauso hetzt sie immer über den, der gerade nicht da ist. In der Woche bist du ihr Opfer, am Wochenende bin ich dran. Frag sie doch mal, was es diese Woche gab!« – Saskia weiß, dass ich mir da keine Platte mache.
Meine Mutter kommt gerade in die Stube.
»Mamuschka«, tröpfle ich ein bisschen Re-Ata – sogenannter Klebeschmalz – um sie drumrum, um danach besser zupacken zu können, »ich habe gehört, du hättst mir was zu sagn?«
Misstrauisch guckt sie um die Kurve: »Ich wüsste nicht was!«
»Letze Woche haste done Rede über mich geschwungn. Ich würd ouch gern wissn, worumsich da handelte.«
Ein vorwurfsvoller Blick wandert in Richtung meiner Schwester. Die hat sich jedoch in ihr Kreuzworträtsel verzogen und grinst vor sich hin. Und meine Mutter ist stocksauer, in höchstem Maße wütend, bläulich flimmernde Wellen fließen stockend schon über ihre kleine Stirn. Sie kann es wohl nicht leiden, wenn man auf die Schliche ihrer Hetzdemagogien kommt. Jetzt bleibt ihr aber nichts mehr anderes übrig: Sie muss mir ins Gesicht sagen, was sie ausgebrütet hat. (Premiere! Denn ich wage zu bezweifeln, dass sie das jemals tun musste!)
»Es geht um Fritz«, bringt sie zögerlich hervor. »Du bist doch genauso gegen ihn wie deine Schwester.« Und steigert sie sich mehr und mehr hinein in das Thema. »Erst wolltest du, dass ich keinen Schwarzen, sondern einen Weißen habe, jetzt habe ich einen, du bist aber wieder dagegen! Wahrscheinlich bist du der Meinung, ich sei schon zu alt dafür!«
Saskia und ich grinsen im Duett. Denn Fritz ist zwar weiß, aber die Schwarzen sind auf Garantie klüger und sauberer als er. Und was ihr Alter betrifft: Eigentlich ist man ja dazu nie zu alt und die Sache hat auch nichts mit ihrem Alter zu tun. Aber Selbsteinsicht ist bekanntlich der erste Weg zur Besserung.
»Ich hanischt gegn Fritz asich, nur scheint Waschn fürn een Femdwort zu sein.«
»Das geht dich aber nichts an!«
Nein, ich schlafe ja – zum Glück – nicht mit ihm.
Ich grinse breit und fröhlich. Plötzlich fällt mir was anderes ein: »Samal, wasisn ei-ei-ei-eigentlich mider Wohnung?«
»Ich bin nicht dazu gekommen! Und ich werde auch in der nächsten Zeit nicht dazu kommen!«
Die Angelegenheit ist zwar nicht zum Lachen, ich finde sie aber trotzdem lustig.
Vielleicht gerate ich jetzt ins Stadium des ewigen Grinsens.
»Aja, un warum ni?«
Das war das auslösende Zeichen für einen ihrer Heulkrämpfe. »Für dich muss man überall hinrennen«, kreischt sie schniefend, »zum Gericht, zur AOK, zur Kasse; irgendwann reicht es mir dann mal.«
»Du kannst dir ganz sicher sein, dassich, wenni könnte, es selbst machn würde!«
»Du kannst aber nicht, und ich mache es auch nicht mehr! Lass dir doch was einfallen, wie du es machst!«
Amen.
Aber so enttäuscht bin ich gar nicht.
Mit ihr in einem Haus zu wohnen, stelle ich mir nicht sehr amüsant vor! Ständig den Moloch ihres Daseins im Nacken … habe ich schon 21 Jahre ertragen müssen! Nein, danke!