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B. Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes
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Nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG[1] verankerten Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes muss sich die Verwaltung – positiv gewendet – den Gesetzen (inkl. der Grundrechte, siehe Art. 1 Abs. 3 GG) entsprechend verhalten bzw. darf – negativ formuliert – „nicht gegen das Gesetz“ verstoßen. Hieraus wiederum ergibt sich zum einen die Handlungspflicht der Verwaltung, die bestehenden Gesetze anwenden zu müssen (Anwendungsgebot) und die Unterlassungspflicht, vom Inhalt der bestehenden Gesetze nicht abweichen zu dürfen, d.h. diese „richtig“ anwenden zu müssen (Abweichungsverbot).[2]
Beispiel[3]
Auf die Petition des Straßenanliegers A beim zuständigen Landtagsausschuss hin sprach dieser sich für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h im Bereich einer bestimmten Straßenstrecke aus. Nachfolgend hat der Landtag diesen Beschluss bestätigt, woraufhin das Landesverkehrsministerium dem A mitteilte, dass – obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen des § 45 StVO nicht erfüllt seien – man sich dennoch der Maßgabe des Petitionsausschusses nicht verschließen wolle und daher die von diesem vorgeschlagene Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet werde. Der um die Vornahme einer entsprechenden Ausschilderung gebetene Landrat nahm diese sodann vor. Berufspendler B meint, dass die straßenverkehrsrechtliche Anordnung, die durch die Aufstellung des Verkehrszeichens 274 bekannt gegeben wurde, rechtswidrig sei. Stimmt das?
Ja. Die in § 45 StVO normierten gesetzlichen Voraussetzungen für eine Geschwindigkeitsbeschränkung liegen hier nicht vor. Dann aber durfte die gem. Art. 20 Abs. 3 GG an diese (bundes-)gesetzliche Vorschrift gebundene Behörde diese Rechtsfolge nicht anordnen. Abweichendes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Petitionsausschuss die Anordnung einer derartigen Beschränkung befürwortet und der Landtag diesen Beschluss bestätigt hat. Denn eine Petition (auf Bundesebene vgl. Art. 17 GG), die ein rechtlich nicht erlaubtes Ziel verfolgt, darf nicht befürwortet werden in dem Sinne, dass eine Umsetzung gegen geltendes Recht empfohlen wird. Vielmehr ist der Petent in einem solchen Fall über die Rechtslage aufzuklären. Ggf. kann aus Anlass der Petition auch gegenüber dem zuständigen Gesetzgeber die Empfehlung ausgesprochen werden, die Rechtslage für die Zukunft zu ändern. Doch darf in keinem Fall dem Begehren des Petenten wider geltendes Recht zur Durchsetzung verholfen werden. Entspricht aber die Umsetzung des Begehrens nicht dem geltenden Recht, so kann die Exekutive auch gegenüber dem Petitionsausschuss und dem Landtag nicht dazu verpflichtet sein, eine derartige Anordnung zu erlassen. Im Übrigen ist der Landtag aus Gründen der Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) in Bezug auf Petitionen generell nur dazu befugt, Empfehlungen zu geben, nicht jedoch verbindliche Anweisungen für die Behandlung eines Einzelfalles. Andernfalls wären nämlich die Funktionsbereiche der übrigen Verfassungsorgane (hier: der Landesregierung) beeinträchtigt.
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Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes gilt ohne Ausnahme sowohl für belastende als auch für begünstigende Tätigkeiten der Exekutive und unabhängig davon, ob die Verwaltung in öffentlich- oder privatrechtlicher Form handelt. Soweit im konkreten Fall eine bestimmte Norm (Gesetz im formellen oder materiellen Sinn; Rn. 8) anwendbar ist, muss die Verwaltung daher die in ihr enthaltenen Vorgaben befolgen.[4]
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Die vom Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes vorausgesetzte grundsätzliche Anwendbarkeit einer Norm kann im Einzelfall allerdings zweifelhaft sein (näher Rn. 135 ff.; zur Wirksamkeit siehe Rn. 129 ff.). So bejaht die Rechtsprechung beispielsweise zwar die Geltung der Grundrechte (v.a. Art. 3 Abs. 1 GG) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Verwaltungsprivatrechts, in dem ein Träger öffentlicher Verwaltung eine öffentliche Aufgabe (z.B. öffentlicher Personennahverkehr) in Privatrechtsform (z.B. AG, GmbH) wahrnimmt (Argument: „keine Flucht ins Privatrecht“; Rn. 53), verneinte sie aber mitunter – entgegen dem Schrifttum – unter Hinweis auf das Fehlen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses bei der Vornahme von fiskalischen Hilfsgeschäften zur Bedarfsdeckung („Staat als Kunde“, z.B. Behörde kauft Büromaterial) oder der erwerbswirtschaftlichen Betätigung des Staates („Staat als Unternehmer“, z.B. Beteiligung an Unternehmen);[5] Entsprechendes galt für die Verwaltung von Vermögensgegenständen durch den „Staat als Eigentümer“ (z.B. Vermietung von öffentlichen [Werbe-]Flächen).[6] Diese ältere Judikatur der Instanzgerichte hat das BVerfG jedoch mit dem zutreffenden Hinweis darauf ausdrücklich zurückgewiesen, dass die Grundrechte nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung gelten, sondern die öffentliche Gewalt umfassend und insgesamt binden. Deren unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt weder von der Organisations-[7] noch von der Handlungsform[8] ab. „Für die früher verbreitete Auffassung, wonach die ,fiskalische‘, das heißt die privatrechtlich handelnde Verwaltung jenseits des sogenannten Verwaltungsprivatrechts grundsätzlich keiner Grundrechtsbindung unterliege, ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG […] kein Raum.“[9]
Beispiel[10]
Die radikale Partei P unterhält bei der Stadtsparkasse S (Anstalt des öffentlichen Rechts gem. § 1 L-SpkG) ein Girokonto. Nach einem bundesweit ausgestrahlten Fernsehbericht über die Aktivitäten von P kündigt S unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach verfassungsfeindliche Zielsetzung von P die Geschäftsbeziehung mit dieser. Mit der Begründung, dass die Kündigung gesetzwidrig und damit unwirksam sei, klagt P gem. § 256 Abs. 1 ZPO vor dem zuständigen Zivilgericht auf Feststellung, dass der Girovertrag durch die Kündigung nicht beendet worden ist. Hat P in der Sache Erfolg?
Ja. Denn die Kündigung verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher gem. § 134 BGB nichtig. Als Anstalt des öffentlichen Rechts (§ 1 L-SpkG) im Bereich staatlicher Daseinsvorsorge, nämlich der Versorgung mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen inkl. der Eröffnung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr, ist S Teil der vollziehenden Gewalt und damit gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Dass S diese Aufgaben mit Mitteln des Privatrechts erfüllt und der Girovertrag zwischen den Parteien privatrechtlicher Natur ist, ändert nichts an der unmittelbaren Grundrechtsbindung von S. Vielmehr ist die öffentliche Hand auch dann unmittelbar an die Grundrechte gebunden, wenn sie öffentliche Aufgaben in privatrechtlichen Rechtsformen wahrnimmt. Die vorliegend mithin anwendbare Grundrechtsbestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG ist in ihrer Ausprägung als Willkürverbot dann verletzt, wenn sich ein sachgerechter Grund für die betreffende Maßnahme der öffentlichen Gewalt nicht finden lässt. Als derartigen Sachgrund für die Kündigung hat S die verfassungsfeindliche Zielsetzung von P angeführt. Hierauf kann sich S wegen der Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 4 GG allerdings nicht berufen. Nach dieser Vorschrift entscheidet über die Verfassungswidrigkeit einer Partei allein das BVerfG. Hierbei handelt es sich i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG um eine Privilegierung der politischen Parteien gegenüber allen anderen Vereinigungen und Verbänden (vgl. Art. 9 Abs. 2 GG). Bis zu einer entsprechenden Entscheidung des BVerfG kann niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei rechtlich geltend machen. Die Partei soll in ihren politischen Aktivitäten von jeder rechtlichen Behinderung frei sein, solange sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet. Die Kündigung stellt eine solche unzulässige rechtliche Behinderung dar. Sie greift zwar nicht unmittelbar in die politische Tätigkeit von P ein, beeinträchtigt aber deren Betätigungsfreiheit wesentlich. P ist bei ihrer Arbeit auf die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr angewiesen. Anders kann sie Zahlungen von existenzieller Bedeutung, nämlich die staatliche Teilfinanzierung (§ 18 Abs. 1 S. 1 ParteiG), nicht entgegennehmen. Auch die Begleichung von Mieten, Telefongebühren oder von Rechnungen im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen ist in weitem Umfang ohne Girokonto praktisch nicht durchführbar.
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Abhängig von der jeweiligen Handlungsform der Verwaltung sowie der Schwere der Rechtsverletzung hat ein Verstoß gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes zumindest die Rechtswidrigkeit, ggf. aber sogar die Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsmaßnahme zur Folge (zum Verwaltungsakt: Rn. 212 ff., 246 f.; zum öffentlich-rechtlichen Vertrag: Rn. 112 ff.; zu Rechtsverordnungen und Satzungen: Rn. 132).
Hinweis
Namentlich die Prüfungspunkte „formelle Rechtmäßigkeit“ (Rn. 139 ff.) und „materielle Rechtmäßigkeit“ (Rn. 215 ff.) des Verwaltungsakts sind Ausfluss des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes.