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2. Kollisionsregeln

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Widerspricht eine rangniedere Rechtsnorm auch nach dem insofern zunächst durchzuführenden Versuch der sog. „rangkonformen Auslegung“[44] (Rn. 170) gleichwohl einer – ihrerseits wirksamen – ranghöheren Vorschrift (des innerstaatlichen Rechts),[45] so hat diese Normenkollision nach dem Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“ (lat. = „die höherrangige Norm verdrängt die niederrangige Norm“) i.d.R. zur Folge, dass die rangniedere Rechtsvorschrift nichtig, d.h. unwirksam (ungültig) ist.[46] Als allgemeine Rechtsregel ist dieser sog. Geltungsvorrang der ranghöheren vor der rangniederen Vorschrift auch dann zu befolgen, wenn er im betreffenden Gesetz nicht ausdrücklich positiviert ist (so aber z.B. in Art. 31 GG; Rn. 44).[47]

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Hinweis

Soweit zwei Vorschriften des nationalen Rechts zueinander in Widerspruch stehen, hat das Wort „derogat“ im Rahmen des lex superior-Grundsatzes die Bedeutung „vernichtet“. Kollidiert dagegen eine Vorschrift des deutschen Rechts mit dem EU-Recht, so ist die Derogationswirkung i.d.S. schwächer ausgeprägt, als dass sie lediglich den Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber dem widersprechenden nationalen Recht bezeichnet (Rn. 57 ff.). In Fortführung des von Schwacke bemühten Vergleichs, dass eine nach dem Anwendungsvorrang lediglich „verdrängte“ Rechtsnorm auf die „Reservebank“ muss und beim Ausfall der sie verdrängenden Vorschrift wieder zum Einsatz kommt,[48] hat das Eingreifen des Geltungsvorrangs zur Konsequenz, dass die hiervon betroffene Vorschrift auf Dauer für sämtliche Spiele ausfällt. Zur Frage, wer der „Schiedsrichter“ ist, der hierüber entscheidet, siehe Rn. 54 f.

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Betrifft der Widerspruch zum höherrangigen Recht nur einen Teil der niederrangigen Vorschrift, so ist grundsätzlich nur dieser Normteil nichtig, nicht aber die gesamte Rechtsnorm (vgl. auch den Rechtsgedanken des § 44 Abs. 1 VwVfG: „soweit“).[49] Diese sog. Teilnichtigkeit kann jedoch dann zur Nichtigkeit der gesamten Vorschrift und darüber hinaus sogar des gesamten Gesetzes, dem die betreffende Rechtsnorm angehört, führen (Gesamtnichtigkeit), wenn die übrigen – für sich betrachtet mit höherem Recht vereinbaren – Bestimmungen dann entweder keine selbstständige Bedeutung mehr haben oder aber die nichtige Vorschrift Teil einer Gesamtregelung ist, „die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verlöre, nähme man einen ihrer Bestandteile heraus, wenn also die nichtige Bestimmung mit den übrigen Bestimmungen so verflochten ist, dass sie eine untrennbare Einheit bilden, die nicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann“[50], vgl. auch § 139 BGB, § 44 Abs. 4 VwVfG.

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Hinweis

Von der Frage, ob eine Rechtsnorm wirksam (gültig/nicht nichtig) oder unwirksam (ungültig/nichtig) ist, ist das Begriffspaar „rechtmäßig/rechtswidrig“ zu unterscheiden, das sich auf die (Un-)Vereinbarkeit einer einzelnen Maßnahme (z.B. Verwaltungsakt) mit dem geltenden Recht bezieht.[51]

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Handelt es sich bei der einer höherrangigen innerstaatlichen Regelung (Bundes-/Landesverfassung) widersprechenden niederrangigen Vorschrift allerdings um ein nachkonstitutionelles (vgl. Art. 123 Abs. 1, Art. 145 Abs. 2 GG) formelles Bundes- oder Landesgesetz (Rn. 12), so ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit – sowie die damit i.d.R.[52] verbundene Nichtigkeitserklärung (siehe z.B. § 95 Abs. 3 S. 1, 2 BVerfGG) – gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundes- bzw. Landesverfassungsgericht vorbehalten, sog. Verwerfungsmonopol.[53] Bis zu einer solchen allgemeinverbindlichen Feststellung (siehe z.B. § 31 Abs. 2 BVerfGG) müssen die unter der Herrschaft des Grundgesetzes erlassenen Parlamentsgesetze daher befolgt werden.[54]

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Rechtsverordnungen und Satzungen werden als Gesetze nur im materiellen, nicht aber auch im formellen Sinn (Rn. 12, 14, 40 ff.), von Art. 100 Abs. 1 GG hingegen nicht erfasst, weshalb die Frage ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, d.h. ihrer Gültigkeit, von jedem Fachgericht in eigener Zuständigkeit zu prüfen ist, vgl. auch § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG.[55] Gelangt dieses hierbei zu der Auffassung, dass die betreffende Vorschrift mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, so ist diese Entscheidung („Die […] wird für unwirksam erklärt“) allerdings nur in den Fällen der abstrakten Normenkontrolle allgemein verbindlich, siehe § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO. Im Übrigen, d.h. sofern es sich bei der Gültigkeit des jeweiligen Gesetzes im nur-materiellen Sinn lediglich um eine Vorfrage zu der vom Gericht zu treffenden Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer auf ein solches Gesetz gestützten anderen staatlichen Maßnahme handelt (z.B. Steuerbescheid auf Grundlage einer kommunalen Hundesteuersatzung), ist die Frage nach der Gültigkeit der Rechtsverordnung bzw. Satzung selbst nicht Streitgegenstand, sog. inzidente Normenkontrolle. Hält das Gericht in einem derartigen Fall die jeweilige Vorschrift wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig, so wirkt diese Feststellung daher lediglich zwischen den Beteiligten des betreffenden Rechtsstreits, d.h. „inter partes“ (vgl. § 121 Nr. 1 VwGO; Rn. 20) – und gerade nicht „erga omnes“ (lat. = „zwischen allen“).[56] Im Ergebnis unterbleibt die Anwendung der betreffenden Bestimmung damit lediglich im konkreten Fall.[57] Andere Gerichte können die Gültigkeit derselben Rechtsnorm in anderen Verfahren mithin durchaus abweichend beurteilen.[58]

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Beispiel[59]

Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) hält sich A nicht an das Gesetz und gestattet seinen Gästen weiterhin das Rauchen. Daraufhin ergeht ein Bußgeldbescheid gegenüber A, den dieser vor dem zuständigen Gericht mit der Begründung angreift, dass das Gesetz, auf dessen Grundlage der Bescheid erlassen wurde, sein Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletze. Das Gericht teilt die Auffassung des A.

Handelt es sich bei dem Gesetz um

ein Parlamentsgesetz, muss das Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren aussetzen und dem BVerfG die Frage vorlegen, ob das Gesetz mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist. Nachdem das BVerfG hierüber verbindlich entschieden hat, setzt das Gericht das Verfahren fort. In diesem hat A nur dann Erfolg, wenn das BVerfG das Gesetz zuvor für nichtig erklärt haben sollte;
eine Rechtsverordnung/Satzung und hält das Gericht diese wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG für (verfassungs-)rechtswidrig, so ist sie nichtig. In diesem Fall fehlt es an der notwendigen Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Bußgeldbescheids. A hat ohne Weiteres Erfolg.

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Abweichend vom Vorstehenden hat die Unvereinbarkeit einer Vorschrift des deutschen Rechts mit dem diesem gegenüber höherrangigen EU-Recht (Rn. 45) dagegen nicht zur Konsequenz, dass Ersteres nichtig wäre (kein Geltungsvorrang des EU-Rechts; Rn. 51). Vielmehr lässt auch in einer solchen Situation der Vorrang des EU-Rechts vor dem innerstaatlichen Recht der EU-Mitgliedstaaten dieses in seinem Geltungsanspruch unberührt und führt, falls eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist (Rn. 170), „nur“ dazu, dass Letzteres auf den konkreten Fall insoweit nicht anwendbar ist, als es die entsprechende unionsrechtliche Regelung verlangt, sog. Anwendungsvorrang des EU-Rechts (siehe auch das Beispiel in Rn. 171). Im Übrigen, d.h. außerhalb der vom EU-Recht erfassten Fallgestaltungen (so z.B. regelmäßig in Bezug auf Drittstaatsangehörige; „Nicht-Kollisionsfälle“[60]), ist das ungeachtet seiner Unionsrechtswidrigkeit fortgeltende nationale Recht dagegen weiterhin anwendbar.[61]

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Hinweis

Bildlich gesprochen verhindert das EU-Recht die Anwendung einer ihm widersprechenden nationalen Vorschrift dadurch, dass es sich im konkreten Fall vor diese schiebt. Derart verdeckt ist der Rechtsanwender daran gehindert, auf sie zur Lösung der jeweiligen Fragestellung zuzugreifen (Behandlung des Symptoms „Normwiderspruch“). Demgegenüber führt eine Normenkollision innerhalb der deutschen Rechtsordnung i.d.R. dazu, dass die unterrangige Rechtsnorm, die im Widerspruch zu einer höherrangigen steht, vernichtet wird und somit auf gar keinen Sachverhalt mehr Anwendung findet (Beseitigung der Ursache des Normwiderspruchs; Rn. 50). Im Alltag der Rechtsanwendung führt diese Differenzierung zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang freilich häufig nicht zu praktischen Unterschieden.[62]

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Beispiel[63]

Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) erwägt A, den – äußerst preisgünstig tätigen – niederländischen Staatsangehörigen N mit Sitz in Venlo (NL) damit zu beauftragen, das Dach der in Düsseldorf belegenen Gaststätte zu erneuern. Allerdings hat A rechtliche Bedenken, das Angebot des N anzunehmen. Denn zwar führt dieser in den Niederlanden zulässigerweise Dachdeckerarbeiten aus; doch ist er in Deutschland nicht in die Handwerksrolle eingetragen, weil er die hierfür nach § 7 Abs. 1a HwO notwendige, mit hohem Aufwand verbundene Meisterprüfung nicht absolviert hat. Gem. § 1 Abs. 1 S. 1 HwO ist „der selbständige Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks als stehendes Gewerbe“, zu dem u.a. das des Dachdeckers gehört (§ 1 Abs. 2 S. 1 HwO i.V.m. Anlage A Nr. 4), jedoch gerade „nur den in der Handwerksrolle eingetragenen […] Personen […] gestattet.“ Sind die Zweifel des A berechtigt, wenn Art. 56 Abs. 1 AEUV „die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind“, verbietet? Auf EU-Sekundärrecht ist ebenso wenig einzugehen wie auf die nationalen Bestimmungen betreffend die Erteilung einer Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle für EU-Ausländer.

Die Bedenken des A sind nicht berechtigt, weil es nach der Rechtsprechung des EuGH einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Grundfreiheit des Art. 56 Abs. 1 AEUV darstellt, wenn ein Unternehmen, das in einem EU-Mitgliedstaat ansässig ist und in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Dienstleistender eine handwerkliche Tätigkeit ausüben möchte, zur Eintragung in die Handwerksrolle des letztgenannten Mitgliedstaats verpflichtet ist. Stehen die o.g. Vorschriften des (niederrangigen) deutschen Rechts danach also in Widerspruch zum (höherrangigen) EU-Recht, so sind Erstere im konkreten Fall (hier: in Bezug auf N) unanwendbar. Da dieser Anwendungsvorrang allerdings nicht auch zur Ungültigkeit des entgegenstehenden nationalen Rechts führt, ist dieses auf Sachverhalte, die von der betreffenden europarechtlichen Rechtsnorm nicht erfasst werden, weiterhin anwendbar. Daher sind dann, wenn ein im Inland ansässiger Deutscher dort das Dachdeckergewerbe ausüben möchte, die o.g. Vorschriften der HwO zum sog. Meisterzwang weiterhin anwendbar. Im Gegensatz zu dem in Venlo ansässigen Niederländer N vermögen sich nämlich deutsche Staatsangehörige mit Sitz im Inland von vornherein nicht mit Erfolg auf die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 Abs. 1 AEUV zu berufen, die nur grenzüberschreitende Sachverhalte zwischen den EU-Mitgliedstaaten erfasst („innerhalb der Union“). Die sich hieraus ergebende Schlechterstellung der eigenen Staatsangehörigen im Verhältnis zu solchen anderer EU-Mitgliedstaaten (sog. umgekehrte bzw. [Inländer-]Diskriminierung) ist nicht anhand des EU-Rechts, sondern am Maßstab des nationalen (Verfassungs-)Rechts zu messen, v.a. an Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG.[64]


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JURIQ-Klausurtipp

In der Fallbearbeitung kann die Normenhierarchie in zweifacher Hinsicht Bedeutung erlangen:

1. Bei der Frage, ob die niederrangige Vorschrift wegen Verstoßes gegen eine höherrangige unwirksam bzw. – bei Kollision des nationalen Rechts mit dem EU-Recht – unanwendbar ist (Rn. 50 ff.).
2. Bei der „rangkonformen Auslegung“ der (wirksamen und anwendbaren) niederrangigen Vorschrift (Rn. 170).[65]

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Steht die zur Lösung der jeweiligen Fallfrage aufgefundene niederrangige Rechtsnorm mit dem höherrangigen Recht in Einklang, d.h. ist sie gültig (wirksam) und verstößt sie auch nicht gegen das EU-Recht, so vollzieht sich die praktische Rechtsanwendung allein anhand dieser rangniederen Vorschrift.[66] Ein Rückgriff auf eine höherrangige Rechtsnorm – etwa, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der rangniederen Vorschrift im konkreten Fall nicht erfüllt sind – ist dagegen grundsätzlich nicht zulässig.[67] Das höherrangige, typischerweise von einem sehr hohen Abstraktionsgrad gekennzeichnete Recht spielt demnach also nur als Prüfungsmaßstab und als Auslegungsdirektive für die ihm untergeordneten, vergleichsweise detaillierter formulierten Rechtssätze eine Rolle (vgl. Rn. 166 ff.), wird aber durch diese im Hinblick auf die konkrete Falllösung gesperrt.[68] „Bei der Anwendung von Gesetzen ist also – bezogen auf die Normenpyramide –, von unten (,konkretere Norm‘) nach oben‚ (abstraktere Norm) vorzugehen“, sog. „Anwendungsvorrang der (wirksamen und EU-rechtskonformen) rangniederen vor der ranghöheren Rechtsnorm.“[69]

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Beispiel[70]

Sollte es im weitergeführten „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 59) zwischen A und N zu einem Rechtsstreit bzgl. der gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem zwischen ihnen geschlossenen Werkvertrag kommen, so gelangen insoweit die §§ 631 ff. BGB zur Anwendung, nicht dagegen etwa Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG (Vertragsfreiheit). Bedeutung kommt Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang allein dahingehend zu, dass die insofern nachrangigen §§ 631 ff. BGB keine Regelungen treffen dürfen, die inhaltlich in Widerspruch zu den aus Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG resultierenden Vorgaben stehen bzw. die §§ 631 ff. BGB im Lichte dieser Verfassungsbestimmung zu interpretieren sind.

1. Teil EinführungC. Wirksamkeit und Anwendbarkeit einer Rechtsnorm › II. Konkurrenzregeln

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