Читать книгу Juristische Methodenlehre - Mike Wienbracke - Страница 43

II. Rechtsfolge

Оглавление

94

Ebenso wie auf der Tatbestandsseite der Fall, wo zum Teil sämtliche Bedingungen für den Eintritt der betreffenden Rechtsfolge vollständig in einer Rechtsnorm benannt werden, diese mitunter aber auch noch aus anderen Vorschriften folgen,[41] sind diese ebenfalls auf ihrer Rechtsfolgenseite nur teilweise i.d.S. vollständig (leges perfecta), dass sich aus ihnen unmittelbar die Antwort auf die jeweilige Fallfrage ergibt (z.B. Anspruchsgrundlagen wie § 433 Abs. 1 BGB, Straftatbestände wie § 212 Abs. 1 StGB und Ermächtigungsgrundlagen wie § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG).[42] Innerhalb der Gruppe dieser sog. Antwortnormen lässt sich weiter differenzieren zwischen einerseits Verhaltens- bzw. Primärnormen, aus denen sich selbstständige Rechte und Pflichten ergeben (z.B. Leistungspflicht, vgl. § 241 Abs. 1 BGB), und andererseits Sanktions- bzw. Sekundärnormen, welche die Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Primärnormen regeln (z.B. Schadensersatzpflicht nach § 280 Abs. 1 BGB).[43]

95

Doch auch sofern sich eine Vorschrift im vorstehenden Sinn als vollständig erweisen sollte, hat die Verwirklichung ihres Tatbestands nur dann ohne Weiteres den Eintritt der in ihr vorgesehenen Rechtsfolge zur Konsequenz, wenn beide darin zwingend (i.S.v. „muss“) miteinander verknüpft sind, sog. gebundene Entscheidung (Signalwort v.a. „ist“; z.B. § 28 Abs. 1 VwVfG: „Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu […] äußern“).[44]

96

Demgegenüber existieren gerade – aber nicht nur (siehe z.B. § 315 Abs. 1 BGB) – im Öffentlichen Recht zahlreiche Vorschriften, nach denen bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Normanwender über Ermessen dahingehend verfügt, aus dem gesetzlich jeweils vorgegebenen Kreis möglicher Rechtsfolgen eine bestimmte auszuwählen (Signalwort v.a. „kann“; z.B. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG: „Ein […] Verwaltungsakt kann […] zurückgenommen werden […]“). Sofern das Gesetz insoweit keine Einschränkungen macht, bezieht sich dieses Ermessen sowohl auf die Frage, „ob“ im konkreten Fall überhaupt eine dieser Rechtsfolgen gesetzt wird oder nicht (sog. Entschließungsermessen) und bejahendenfalls, „wie“ genau diese Rechtsfolge im Einzelnen ausgestaltet ist (sog. Auswahlermessen). Dabei ist jedwede Ermessensausübung im grundgesetzlichen Rechtsstaat nicht etwa „frei“ i.S.v. „beliebig“ bzw. „willkürlich“, sondern unterliegt bestimmten gesetzlichen Vorgaben (z.B. § 40 VwVfG), auf deren Einhaltung sie gerichtlich überprüft werden kann, siehe z.B. § 114 S. 1 VwGO. Nur dann, wenn hiernach bis auf eine sämtliche der nach der jeweiligen Ermessensvorschrift abstrakt in Betracht kommenden Verhaltensvarianten im konkreten Fall ermessensfehlerhaft wären, ist in diesem das Ermessen auf die eine ermessensfehlerfreie Entscheidung reduziert, welche dann in Ermangelung einer rechtmäßigen Alternative getroffen werden muss, sog. Ermessensreduzierung auf Null.[45]

97


[Bild vergrößern]

98

Mitunter wirkt die von einer Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge allerdings nicht unmittelbar auf ein Lebensverhältnis ein, sondern steht dem Eintritt der von einer Antwortnorm grundsätzlich angeordneten Rechtsfolge entgegen (sog. Gegennormen[46]; z.B. die rechtshindernden, -vernichtenden und -hemmenden Einwendungen bzw. Einreden der §§ 134, 362 Abs. 1 bzw. 214 Abs. 1 BGB sowie die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der §§ 32, 34 bzw. 33, 35 StGB) oder hilft bei der Anwendung einer anderen Rechtsnorm, sog. unvollständiger Rechtssatz (lex imperfecta).[47]

99

Hinweis

Namentlich im Zivilprozess ist die Unterscheidung zwischen Antwort- und Gegennormen von großer Bedeutung: Denn nach der sog. Normbegünstigungstheorie trägt der Anspruchsteller „nur“ die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der anspruchsbegründenden (Antwort-)Norm. Demgegenüber obliegt es dem Anspruchsgegner zu beweisen, dass der Tatbestand einer Gegennorm erfüllt ist, so dass der ihm gegenüber geltend gemachte Anspruch nicht entstanden, wieder vernichtet oder aber zumindest nicht durchsetzbar ist.[48]

100

Zur letztgenannten Gruppe der sog. Hilfsnormen zählen

101

Legaldefinitionen (z.B. § 12 Abs. 1 StGB: „Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind“), mit denen der Gesetzgeber die Bedeutung eines in einem anderen Rechtssatz (z.B. § 23 Abs. 1 StGB) verwendeten Begriffs (z.B. „Verbrechen“) verbindlich festlegt.[49]

102

Hinweis

Legaldefinitionen sind entweder in einer separaten Vorschrift enthalten, die einen ganzen Katalog von gesetzlichen Begriffsbestimmungen enthält (z.B. § 11 Abs. 1 StGB: „Im Sinne dieses Gesetzes ist […]“), oder aber über das jeweilige Gesetz verstreut (siehe z.B. § 13 BGB: „Verbraucher ist […]“), wobei der Gesetzgeber sich dann nicht selten der sog. „Klammertechnik“ bedient (z.B. § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG: „Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) […].“).[50]

103

Beispiel[51]

Im „Restaurant-Fall“ (Rn. 2) ist A dem I u.a. nur dann nach § 823 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er dessen Eigentum „vorsätzlich oder fahrlässig“ verletzt hat. Was dabei unter dem Begriff „fahrlässig“ zu verstehen ist, ergibt sich aus der Legaldefinition des § 276 Abs. 2 BGB: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“

104

Hierbei ist der Gesetzgeber nicht etwa an eine außerrechtliche Terminologie gebunden, sondern verfügt über eine eigenständige Definitionshoheit („Definierfreiheit“).[52] Plastisch insoweit Rüthers/Fischer/Birk: „Ein schönes Beispiel dafür, dass Legaldefinitionen nichts anderes als vom Gesetzgeber festgelegte Sprachgebrauchsvereinbarungen sind, ist die Bestimmung einer ,Reichsschokoladenverordnung‘ der dreißiger Jahre, in der angeordnet wurde: ,Weihnachtsmänner im Sinne dieser Regelung sind auch Osterhasen‘.“[53]

105

Um dem Rechtsanwender die Handhabung eines unbestimmten Rechtsbegriffs (z.B. § 28 Abs. 2 VwVfG: „Anhörung […] nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten“) oder einer Generalklausel (z.B. § 138 Abs. 1 BGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig“) zu erleichtern, enthält das Gesetz mitunter eine beispielhafte Aufzählung von Fällen, in denen diese(r) „insbesondere“ erfüllt ist (siehe z.B. § 28 Abs. 2 Nr. 1-5 VwVfG, § 138 Abs. 2 BGB). Zwar bringt der Gesetzgeber durch diese Formulierung deutlich zum Ausdruck, dass der unbestimmte Rechtsbegriff bzw. die Generalklausel auch in anderen als den gesetzlich aufgeführten Fällen vorliegen kann (Voraussetzung: Vergleichbarkeit mit diesen). Doch gilt umgekehrt, dass falls eine von diesen Konkretisierungen gegeben ist (z.B. § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG bzw. § 138 Abs. 2 Var. 1 BGB), die betreffende Vorschrift ohne Weiteres eingreift.[54] Zur rechtlichen Lösung des konkreten Falles bedarf es dann keines weiteren Eingehens mehr auf den betreffenden unbestimmten Rechtsbegriff (z.B. § 28 Abs. 2 VwVfG: Wann ist die Anhörung „nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten“?) bzw. die jeweilige Generalklausel (z.B. § 138 Abs. 1 BGB: Wann verstößt ein Rechtsgeschäft gegen die „guten Sitten“?).[55]

106

Beispiel[56]

Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) wurde A die nach § 2 Abs. 1 S. 1 GastG notwendige Gaststättenerlaubnis ursprünglich erteilt, obwohl er bereits zu diesem Zeitpunkt trunksüchtig gewesen ist. Als die zuständige Behörde hiervon nunmehr erfährt, beabsichtigt sie, die Erlaubnis wegen „Unzuverlässigkeit“ des A nach § 15 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG zurückzunehmen. Ist A „unzuverlässig“?

„Unzuverlässig“ ist ein Gewerbetreibender nach einhelliger Auffassung dann, wenn er nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe zukünftig ordnungsgemäß betreibt. Welche Fälle im Allgemeinen genau hiervon erfasst werden, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Denn § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG enthält eine beispielhafte Aufzählung von Umständen, bei denen die erforderliche Zuverlässigkeit stets fehlt („insbesondere“). Einer von diesen („dem Trunke ergeben“) ist in Bezug auf den trunksüchtigen A gegeben, so dass die ihm zunächst erteilte Erlaubnis wegen „Unzuverlässigkeit“ nach § 15 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG zurückgenommen werden muss.

107

Hiervon wiederum zu unterscheiden sind schließlich die zur Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen (z.B. „besonders schwerer Fall“ des Diebstahls, § 243 Abs. 1 StGB) im Gesetz mitunter verwendeten sog. Regelbeispiele.[57] Wenngleich diese weder zwingend noch abschließend sind, so entfalten sie doch zumindest eine starke Indizwirkung: Sind die Voraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, so bedarf es einer eingehenden Begründung, um darzutun, dass abweichend von der gesetzlichen Annahme („in der Regel“) im konkreten Fall – vorliegend bezogen auf § 243 Abs. 1 StGB – dennoch kein „besonders schwerer Fall“ gegeben ist. Umgekehrt kommt auch der Nichterfüllung eines Regelbeispiels Indizwirkung zu, nämlich i.d.S., dass der hier beispielhaft genannte „besonders schwere Fall“ nach § 243 Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht vorliegt. Nur wenn festgestellt werden kann, dass Umstände vorliegen, die zwar nicht vom Wortlaut eines benannten Regelbeispiels erfasst werden, aber mit dem zugrundliegenden Leitbild eines solchen vergleichbar sind, kann im Beispiel des § 243 Abs. 1 StGB ausnahmsweise auf einen sog. unbenannten „besonders schweren Fall“ erkannt werden (z.B. Entwendung eines Kleidungsstücks nach Zerstörung des Sicherungsetiketts, vgl. § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB);[58]

108

Verweisungsnormen. Um Wiederholungen in der Rechtsordnung zu vermeiden, ordnet der Gesetzgeber als Rechtsfolge der Erfüllung des Tatbestands einer Vorschrift nicht selten die Anwendung derjenigen Rechtsfolge an, die in einer anderen Rechtsnorm an die Verwirklichung des dortigen Tatbestands geknüpft ist („gesetzgeberische Abkürzung“; typische Formulierung: „das Gleiche gilt“).[59] Dies kann sowohl ausdrücklich (z.B. § 131 Abs. 2 S. 1 BGB) als auch konkludent erfolgen (z.B. richtet sich die Antwort auf die Frage, ob eine Sache für den Täter i.S.v. § 242 Abs. 1 StGB „fremd“ ist, nach der zivilrechtlichen Eigentumslage, welche sich aus der Anwendung der diesbezüglichen Vorschriften des BGB ergibt, etwa dessen §§ 929 ff.).[60] Soweit das Gesetz (z.B. § 68 Abs. 2 VwGO) nur die „entsprechende“ Anwendung einer anderen Vorschrift (z.B. § 68 Abs. 1 VwGO) anordnet, ist zu prüfen, ob sich aus der Eigenart das Sachverhalts, bzgl. dessen die Inbezugnahme erfolgt, gewisse Modifikationen der nicht direkt, sondern eben nur entsprechend anwendbaren Rechtsnorm geboten sind (z.B. ist beim Verpflichtungswiderspruch nach § 68 Abs. 2 VwVfG abweichend vom Anfechtungswiderspruch gem. § 68 Abs. 1 VwGO nicht die Rechtmäßigkeit des erlassenen Verwaltungsakts, sondern die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des beantragten Verwaltungsakts zu prüfen, d.h. letztlich, ob der Widerspruchsführer einen Anspruch auf diesen hat).[61] In Abhängigkeit von der jeweils verwendeten Regelungstechnik kann insoweit weiter differenziert werden zwischen

109

– einerseits Rechtsgrund- bzw. Tatbestandsverweisungen, wonach die Rechtsfolge derjenigen Rechtsnorm, auf die verwiesen wird (§ B), nur dann eintritt, wenn zusätzlich zu den Tatbestandsmerkmalen der verweisenden Vorschrift (§ A) auch noch diejenigen der verwiesenen Rechtsnorm (§ B) erfüllt sind (so z.B. nach h.M. § 951 Abs. 1 S. 1 BGB bzgl. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB: „Wer infolge der Vorschriften der §§ 946 bis 950 einen Rechtsverlust erleidet, kann von demjenigen, zu dessen Gunsten die Rechtsänderung eintritt, Vergütung in Geld nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung fordern“)[62] und

110


[Bild vergrößern]

111

– andererseits Rechtsfolgenverweisungen, wonach nur bzgl. der Rechtsfolgen auf eine andere Vorschrift (§ D) verwiesen wird, die tatbestandlichen Voraussetzungen aber allein der verweisenden Rechtsnorm (§ C) zu entnehmen sind (so z.B. in Bezug auf § 303 Abs. 1 StGB die Vorschrift des § 303 Abs. 2 StGB: „Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“);[63]

112


[Bild vergrößern]

113

– zum einen zwischen statischen Verweisungen. Eine solche liegt dann vor, wenn eine Vorschrift auf eine andere Rechtsnorm in einer ganz bestimmten (zeitlichen) Fassung verweist (z.B. § 1 Abs. 1 nds. VwVfG a.F.: „Für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden des Landes […] gelten die Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes [des Bundes] in der Fassung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102) […]“)[64] und

114

– zum anderen dynamischen Verweisungen, bei der eine Rechtsnorm auf eine andere Vorschrift in ihrer jeweils geltenden Fassung verweist (z.B. § 1 Abs. 1 VwVfG RhPf.: „Für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden des Landes […] gelten […] die Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) [des Bundes] in der Fassung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102) in der jeweils geltenden Fassung […]“).[65] Während also bei der statischen Verweisung auf diejenige Fassung der verwiesenen Rechtsnorm Bezug genommen wird, welche diese im Zeitpunkt des Inkrafttretens der verweisenden Vorschrift hatte, ist bei der dynamischen Verweisung diejenige Fassung der verwiesenen Rechtsnorm maßgeblich, welche diese zum Zeitpunkt der jeweiligen Rechtsanwendung hat, d.h. eine zwischenzeitliche Änderung der verwiesenen Vorschrift kommt nur bei der dynamischen, nicht aber auch der statischen Verweisung zum Tragen.[66] Ob es sich bei einer Verweisung um eine statische oder dynamische handelt, vermag mitunter erst nach eingehender Auslegung der betreffenden Vorschrift beantwortet zu werden;[67]

115

die häufig – freilich nicht immer (siehe z.B. Art. 20 Abs. 1 GG: Demokratieprinzip) – ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzipien, in denen übergeordnete Rechtsgrundsätze zusammengefasst sind und die den einzelnen Rechtsregeln zugrunde liegen (z.B. der Schuldgrundsatz im Strafrecht).[68] Anders als diese haben Rechtsprinzipien typischerweise weder einen subsumtionsfähigen Tatbestand noch treffen sie eine konkrete Rechtsfolgenbestimmung, sondern bedürfen vielmehr der Konkretisierung durch den Gesetzgeber bzw. die Rechtsprechung (Bildung von Fallgruppen).[69] Sollten sie sich hiernach nicht zu einem jeweils „rechtssatzförmigen Prinzip“ verdichten lassen und damit unmittelbar der Einzelfallentscheidung zugrunde gelegt werden können (so aber z.B. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz[70] als Konkretisierung namentlich des Rechtsstaatsprinzips), geben die sog. „offenen Prinzipien“ als leitende Rechtsgedanken (Direktiven) die Richtung bei der Auslegung und Anwendung anderer Vorschriften vor, indem sie auf die Verwirklichung bestimmter Ziele hinwirken, sog. Finalprogramm (z.B. Umweltschutz, siehe Art. 20a GG).[71] Insoweit, als diese miteinander kollidieren (z.B. das Prinzip der Privatautonomie und das Sozialstaatsprinzip), sind sie derart auszugleichen, dass alle möglichst optimale Geltung entfalten („Optimierungsgebote“[72]).[73] Demgegenüber sind Rechtsregeln entweder erfüllt oder nicht erfüllt;[74]

116

JURIQ-Klausurtipp

Bei der Falllösung hat die Anwendung der (präziseren Rechts-)„Regeln“ (Rn. 79) Vorrang vor den (allgemeinen) Rechtsgrundsätzen.[75]

117

gesetzliche Vermutungen und Fiktionen, mit denen der Gesetzgeber Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung Rechnung trägt.[76] Kommt es nach dem Tatbestand der jeweils einschlägigen Rechtsnorm für das Eingreifen der in dieser vorgesehenen Rechtsfolge auf das Vorliegen einer bestimmten Tatsache an, kann diese aber nicht aufgeklärt werden, so ist gleichwohl von ihrem Vorliegen auszugehen, sofern das Gesetz eine entsprechende Vermutungsregelung aufstellt und die Voraussetzungen für deren Eingreifen, die sog. Vermutungsbasis, gegeben sind.[77] Entspricht die gesetzliche Vermutung nicht den wirklichen Tatsachen, so ist gem. § 292 S. 1 ZPO der Beweis des Gegenteils zulässig (sog. widerlegliche Vermutung; z.B. § 477 BGB: „Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war […]“; Signalwort im Übrigen: „im Zweifel“), sofern es sich nicht um eine unwiderlegliche Vermutung handelt (so z.B. § 1566 Abs. 2 BGB: „Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben“).[78] Während eine widerlegliche Vermutung (ferner z.B. § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB) mithin demjenigen die Darlegungs- und Beweislast auferlegt, der die Vermutung widerlegen will, unterscheidet sich eine unwiderlegliche Vermutung von einer gesetzlichen Fiktion („Sachverhaltsunterstellung“, Signalwort: „gilt“; z.B. § 1923 Abs. 2 BGB: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren“) dadurch, dass bei Letzterer der fingierte Tatbestand mit Sicherheit nicht vorliegt, während bei Ersterer der vermutete Tatbestand möglicherweise auch tatsächlich gegeben ist.[79] Im praktischen Ergebnis unterscheiden sich beide freilich nicht, ist doch sowohl bei der Fiktion als auch bei der unwiderleglichen Vermutung – selbst falls diese tatsächlich falsch sein sollte – der Beweis des Gegenteils jeweils ausgeschlossen.[80]

118

Beispiel[81]

Nachdem die zuständige Behörde im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) von wiederholten Verstößen des A gegen das Nichtraucherschutzgesetz erfahren hatte, hob sie die diesem gegenüber zunächst nach § 2 Abs. 1 S. 1 GastG erteilte Gaststättenerlaubnis mit Bescheid vom 23. Mai wieder auf. Gegen diesen noch am selben Tag zur Post gegebenen und dem A bereits am 24. Mai zugegangenen Aufhebungsbescheid erhebt dieser am 25. Juni desselben Jahres Anfechtungsklage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Ist die insoweit einschlägige Frist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO („die Klage [muss] innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden“) gewahrt, wenn der 26. Juni des Jahres weder ein Samstag, Sonntag noch ein Feiertag ist und § 41 Abs. 2 S. 1 L-VwVfG lautet: „Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben“?

Ja, A hat die Monatsfrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO gewahrt, die nach dieser Vorschrift mit der „Bekanntgabe des Verwaltungsakts“, d.h. hier des Aufhebungsbescheids vom 23. Mai, begann. Unabhängig vom tatsächlichen Zugangszeitpunkt (vorliegend: 24. Mai) „gilt“ ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, nach § 41 Abs. 2 S. 1 L-VwVfG „am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben“ (ein Ausnahmefall des § 41 Abs. 2 S. 3 L-VwVfG liegt hier nicht vor). Der Aufhebungsbescheid vom 23. Mai wurde an diesem Tag zur Post gegeben. Der dritte hierauf folgende Tag ist der 26. Mai. Noch bevor die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO einen Monat später, d.h. am 26. Juni, endete (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 f. BGB), hat A am 25. Juni Klage erhoben.

119

Hinweis

Aufgrund des Zusammenspiels von Antwort-, Hilfs- und Gegennormen lässt sich namentlich die Frage, ob einer bestimmten Person (z.B. Verkäufer) ein Recht (z.B. Anspruch auf Kaufpreiszahlung) gegen eine andere (z.B. Käufer) zusteht, regelmäßig nicht durch Anwendung von nur einer Rechtsvorschrift beantworten (z.B. § 433 Abs. 2 BGB, der einen Kaufvertrag voraussetzt; Rn. 31). Vielmehr kann die endgültige Antwort hierauf erst nach Prüfung sämtlicher insoweit einschlägiger (Hilfs- und Gegen-)Normen gegeben werden (z.B. kein Erlöschen des Anspruchs infolge Aufrechnung, § 389 BGB).[82]

Zusammenfassung

Rechtsnormen sind typischerweise nach einem Konditionalprogramm aufgebaut: Die in ihnen jeweils enthaltene Rechtsfolge tritt im konkreten Fall dann ein, wenn in diesem der Tatbestand der betreffenden Rechtsnorm erfüllt ist. Mitunter wird diese Struktur allerdings erst nach entsprechender Aufbereitung (Umstellung, Umformulierung) der jeweiligen Vorschrift sichtbar.

Neben geschriebenen gibt es auch ungeschriebene (positive wie negative) Tatbestandsmerkmale, die sich ggf. auch erst aus anderen Vorschriften ergeben und sowohl kumulativ („und“) als auch alternativ („oder“) miteinander verbunden sein können. Ferner kann zwischen bestimmten und unbestimmten sowie zwischen deskriptiven (beschreibenden) und normativen (wertungsabhängigen) Tatbestandsmerkmalen unterschieden werden und knüpfen diese teilweise an äußere und teilweise an innere Tatsachen an.

Ergeben sich aus einer Rechtsnorm selbstständige (z.B. Leistungs-)Rechte bzw. Pflichten, so handelt es sich bei ihr um eine Primärnorm. Demgegenüber werden Antwortnormen, welche die Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Primärnormen regeln (z.B. Schadensersatzpflicht), als Sekundärnormen bezeichnet. Mitunter tritt die in einer Rechtsnorm enthaltene Rechtsfolge jedoch trotz Vorliegens der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht zwingend ein (so aber im Fall einer gebundenen Entscheidung), sondern verfügt der Normanwender (z.B. Behörde) über ein dahingehendes Ermessen, „ob“ er im konkreten Fall überhaupt eine der nach dem Gesetz in Betracht kommenden Rechtsfolgen setzt (Entschließungsermessen) und bejahendenfalls, „wie“ diese genau ausgestaltet ist (Auswahlermessen).

Die von einer Antwortnorm grundsätzlich angeordnete Rechtsfolge tritt im konkreten Fall allerdings dann nicht ein, wenn in diesem eine Gegennorm einschlägig ist (z.B. rechtsverhindernde, -vernichtende oder -hemmende Einwendung bzw. Einrede).

Normen, die bei der Anwendung einer anderen Rechtsnorm helfen, sind zum einen Legaldefinitionen, mit denen der Gesetzgeber die Bedeutung des in einer anderen Vorschrift verwendeten Begriffs verbindlich festlegt (z.B. § 194 Abs. 1 BGB: „Anspruch“).

Zum anderen gehören auch Verweisungsnormen zu den sog. Hilfsnormen: Soll die Rechtsfolge von § Z, auf den § X verweist, nur dann eintreten, wenn zusätzlich zum Tatbestand von § X auch noch derjenige von § Z verwirklicht ist, so handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung. Demgegenüber tritt die in § Z enthaltende Rechtsfolge im Fall einer Rechtsfolgenverweisung bereits dann ein, wenn allein der Tatbestand der hierauf verweisenden Rechtsnorm (§ Y) erfüllt ist. Verweist eine Vorschrift auf eine andere in einer ganz bestimmten zeitlichen Fassung, so spricht man von einer statischen Verweisung. Hingegen wird im Fall einer dynamischen Verweisung auf die im Zeitpunkt der jeweiligen Rechtsanwendung geltende (aktuelle) Fassung der verwiesenen Vorschrift Bezug genommen (inkl. etwaiger zwischenzeitlicher Änderungen).

Eine weitere Art von Hilfsnormen sind schließlich gesetzliche Vermutungen, mit denen der Gesetzgeber Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung begegnet. Entspricht die bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen eintretende gesetzliche Vermutung nicht den wirklichen Tatsachen, so ist nur bei einer widerleglichen Vermutung der Beweis des Gegenteils zulässig, nicht dagegen im Fall einer unwiderleglichen Vermutung. Während bei der Letztgenannten der vermutete Tatbestand möglicherweise auch tatsächlich gegeben ist, liegt dieser im Fall einer gesetzlichen Fiktion mit Sicherheit nicht vor.

Online-Wissens-Check

F stellt bei der Bundesbehörde B einen Antrag. Dortiger Sachbearbeiter ist S, der Vater des M, mit dem F bis vor drei Jahren verheiratet war. Darf S in diesem Verfahren für B tätig werden? Lesen Sie § 20 VwVfG!

Überprüfen Sie jetzt online Ihr Wissen zu den in diesem Abschnitt erarbeiteten Themen.

Unter www.juracademy.de/skripte/login steht Ihnen ein Online-Wissens-Check speziell zu diesem Skript zur Verfügung, den Sie kostenlos nutzen können. Den Zugangscode hierzu finden Sie auf der Codeseite.

Juristische Methodenlehre

Подняться наверх